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# taz.de -- Ausgehen nach Corona: Wenn das Aerosol aus der Dose kommt
> Tanzen, geht das noch? Schlechte Luft in Bars ist hinderlich. Noch
> schlechter die Luft in der U8: Pfefferspray-Inferno. Ein Wochenende in
> Berlin.
Bild: Eine Stadt erwacht: In Berlin darf wieder getanzt werden
Die Zeitung hat einen neuen überregionalen Lokalteil und mehr Politikseiten
am Wochenende. Das muss gefeiert werden am Freitagabend, und weil alle das
Feiern nicht mehr gewöhnt sind, gibt es noch mehr Musikwünsche als sonst.
Die Tabs mit You-Tube-Links stapeln sich, wann soll man das alles denn
spielen?
Einer der Gäste, er trägt eine Thälmann-Mütze, wünscht sich Rio Reisers
„König von Deutschland“. DJ Doris entscheidet sich jedoch für „Keine Ma…
für niemand“. Ist auch Rio, aber besser. Weil es so schön war, folgt
sogleich „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Das wiederum geht nahtlos
ins Lied von der Einheitsfront über.
## Wahnwitz war schnell
Obwohl ich das Lied von der Einheitsfront gar nicht so gut kenne und an der
Arbeitereinheitsfront problematisch finde, dass man vorher nie weiß, ob da
nicht am Ende die Stalinisten das Sagen haben werden, kann ich fast
fehlerfrei mitsingen. Da fällt mir ein, warum: die Donauwörther Punkband
Wahnwitz hat es immer auf ihren Konzerten gespielt und auf der
Wahnwitz-Kassette war es dann verewigt worden. Reih dich ein in die
Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist!
[1][Den Drummer von Wahnwitz] habe ich immer bewundert, weil er sehr
schnell und präzise Schlagzeug gespielt und währenddessen gesungen hat.
Heute ist er, soweit ich weiß, Besitzer der Domain [2][www.punk.de]. Da
hatte jemand das Internet verstanden, als die gesammelte deutsche
Publizistik es noch für einen kurzlebigen Trend hielt, der sich bald
überleben würde. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Und so konnten
sich weder die Punkzeitung Die Welt noch die Internetpartei FDP diese
Top-Adresse sichern. Es kann die Befreiung der Arbeiterklasse nur die Sache
der Arbeiter sein.
## Die Sounds von Ordu, Trabzon und Kars
Tags darauf machen wir Dance-Check. Dance-Check ist, wenn Pandemie zur
Endemie geworden ist, man geimpft ist und schauen will, ob das noch geht
mit Tanzen. Vorher aber fahren wir noch nach Schöneweide, wo Marc Sinan für
das [3][Studio Bosporus] sein Stück „Hasretim“ aufführt. Auf weißen Bahn…
an der Stirnseite der Spreehalle laufen Videoaufnahmen einer Reise durch
Anatolien.
Es geht darum, die alten Lieder zu dokumentieren, die nur noch wenige
spielen, singen und weitergeben können. Sinans Orchester tritt in einen
Dialog mit Stimmen und Klängen aus Ordu, Trabzon oder Kars. Am schönsten
ist das Battle zwischen Klarinettist Oğuz Büyükberber und einem
anatolischen Flötisten.
Es ist kalt geworden, das liegt an den Polarwirbeln und Klimakatastrophe,
lerne ich, weswegen wir uns über die Schalen mit Feuer im Hof freuen.
Aufgewärmt geht’s weiter nach Kreuzberg. Jetzt aber wirklich Dance-Check.
Die Schlange vor der Paloma Bar windet sich durchs halbe Treppenhaus, aber
es geht schnell voran.
## Denken hilft oft weiter
An der Tür werden wir mit einem herzlichen Lächeln empfangen, das ist
schön. Aber dann gestoppt, weil die Mittänzerin nur den gelben Impfpass
dabei hat. Handy ist zu alt für App. Und wir daher nicht kompatibel mit dem
Hygienekonzept der Bar. Nicht schön, aber wir bleiben entspannt.
Im Olfe immerhin werden wir nach genauer Prüfung des Impfpasses
eingelassen. Dort entwickeln wir die Idee, dass man den QR-Code mit dem
Zertifikat ja fotografieren könnte? Denken hilft oft weiter. Später, im
Roses, mach ich nur Sitzdancing auf dem Sofa. Es gibt zu wenig Luft. Wie
hat man das früher bloß gemacht?
Zeit, nach Hause zu fahren, mit der U8. Ich sage beim Abschied noch, dass
ich mein Fahrrad vermisse und insbesondere in müdem Zustand nicht gern
U-Bahn fahre.
## „Du kommst jetzt raus. Sofort!“
Am Alexanderplatz hält der Zug länger als sonst. Nach zwei Minuten steigt
ein junger Mann ein, neue Jacke, Basecap. Er bleibt an der offenen Tür
stehen. Dreißig Sekunden später stehen zwei Polizisten hinter ihm: „Du
kommst jetzt sofort raus. Sofort!“ Auf dem Bahnsteig werden Personalien
festgestellt, der Mann anscheinend mit einem Sachverhalt konfrontiert.
Endlich schließen die Türen, die Fahrt geht weiter.
Am nächsten Bahnhof tritt ein junger Mann an die Tür, steigt aber nicht
ein. Er hat ein verweintes Gesicht, starrt einen Mann an, der an der
gegenüberliegenden Tür steht. Der Angestarrte merkt es nicht, weil er auf
sein Handy schaut. Dann hebt der starrende Mann seinen linken Arm hoch und
drückt entschlossen auf den Knopf einer Spraydose. Pfffft.
Die herausschießende Aerosolwolke trifft den Mann am Handy voll ins
Gesicht. Das Signal zum Türenschließen erklingt. Der Angreifer bleibt
draußen. Die Bahn fährt los. Drinnen bei uns entfaltet sich in Zeitlupe ein
Pfeffersprayinferno. Dit is Berlin.
Am Sonntag bin ich immer noch heiser. Das war die Arbeitereinheitsfront.
17 Oct 2021
## LINKS
[1] https://www.awayfromlife.com/mein-label-3-mit-fratz-von-hulk-raeckorz/
[2] https://www.punk.de
[3] http://kulturakademie-tarabya.de/studiobosporus/de/programm/
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Ausgehen und Rumstehen
Punk
Arbeiterklasse
FDP
Tanzen
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Kolumne Der rote Faden
Berlin-Mitte
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