# taz.de -- Lob des Föderalismus: Flickenteppich des Grauens | |
> Die Bundesländer werden 75: Faszinierende Geschichten haben sie | |
> hervorgebracht. Die Demokratie stärken sie. Deswegen werden sie gehasst. | |
Bild: Schreckenskammer für Autoritäre: Ausstellung mit Bauhaus-Flickenteppich… | |
BREMEN taz | Sollte ich jemals die Aufgabe bekommen, für einen deutschen | |
Horrorfilm ein Drehbuch zu schreiben, weiß ich schon, was darin eine | |
Hauptrolle bekommt. Es geht ja in diesem Genre darum, Ängste zu nutzen, die | |
so permanent vorhanden sind, dass sie sich einer Bearbeitung entziehen. | |
Und zwar so weit, dass bereits die Warnung vor der furchteinflößenden | |
Person oder dem todbringenden Requisit als rational gilt. Deshalb wird mein | |
Gruselfilm „Der Flickenteppich des Grauens“ heißen. | |
Denn vor Flickenteppichen wird gewarnt! Flickenteppiche sind unser aller | |
Untergang. Sie stürzen uns ins Chaos, wussten die besonders schlauen | |
Hamburger Nachrichtenmagazine in ihren Hochglanzcoronaregel-Reports: Waaas! | |
[1][In Bremen darf man noch demonstrieren, während in Niedersachsen | |
Ausgangssperre herrscht]? Flickenteppichalarm! | |
Wiiiee?! In Schleswig-Holstein sind Ferienwohnungen derzeit nur für | |
Landeskinder zugänglich, in Mecklenburg-Vorpommern ist dagegen die Einreise | |
nur aus Nordrhein-Westfalen untersagt? Da droht er, der Flickenteppich. | |
Unser aller Unglück. | |
## Frisst denn der Flickenteppich unsere Kinder? | |
Denn natürlich nagt der Flickenteppich mit seinen Flickfransen an den | |
Grundfesten unseres Staatsgebäudes. Und nächtens wickelt er unsere Kinder | |
ein und verdaut sie ungekaut: Seit Ende des späten 19. Jahrhunderts haben | |
die Deutschen gelernt, ihrer Diversität zu misstrauen, sie zu hassen und | |
für die Ursache egal welchen Elends zu erklären. | |
Blechkanzler [2][Otto von Bismarck] war treibende Kraft hinter diesem | |
antiföderalen Spin. Er musste die innere Vielfalt des Landes im Bild eines | |
Schmutzfängers aus Reststoffen verunglimpfen. Sein Ziel war, sie zu | |
überwinden, denn wer Krieg will, braucht Einheit. Und umgekehrt. Bloß den | |
Nationalstaat mit Gewalt herzustellen, daran waren ja die Gegner des | |
Föderalismus oft gescheitert: Bad Langensalza in your face, doofe Preußen! | |
Dem historischen Argument, dass es immer schlecht ausgegangen ist, wenn | |
Deutschland seinen tradierten Föderalismus zugunsten zentralistischer | |
Tendenzen und eines Traums von Größe wie vor 150 Jahren zurückgefahren und | |
ausgehöhlt oder, wie dann 1933, zerstört hat, fehlt es sicher an | |
Überzeugungskraft. | |
Man kann denken, dass straightes Handeln in globalen Krisen Vorteile hätte | |
und wenigstens Operettenstadtstaaten wie Bremen 75 Jahre nach ihrer | |
Neugründung besser mit dem Umland fusioniert würden. Also her mit dem | |
Nordstaat! | |
## Bollwerk gegen die Tyrannei der Mehrheit | |
Aber dieser autoritäre Ansatz übersieht, dass die Krisen-Kompetenz eines | |
Staates gar nicht davon abhängt, ob er föderal organisiert ist oder strikt | |
zentralistisch, wie Peru, das mit Abstand weltweit die meisten | |
Covid-Todesfälle gemessen an seiner Bevölkerung zu beklagen hatte: Es gibt | |
hier, schaut man sich die Zahlen an, keine Korrelation. Deutschland ist auf | |
seinem Flickenteppich fast ebenso schlecht wie Frankreich durch die | |
Pandemie gesegelt. | |
Auch übersieht er, dass die vertikale Gewaltenteilung, also die | |
Vervielfältigung der staatlichen Systeme von Gesetzgebung, -anwendung und | |
Rechtsprechung etwas Tolles ist. Sie ermöglicht, Vielfalt jenseits | |
weltanschaulicher Konflikte – die sich in der Parteienlandschaft abbilden – | |
darzustellen und zu berücksichtigen. Sie kann ein Bollwerk gegen die | |
Tyrannei der Mehrheit sein, in die Demokratie stets umzuschlagen droht. | |
Sie ermöglicht, gleichzeitig unterschiedliche Ansätze zur Bewältigung | |
desselben Problems zu erproben. Sie kann viel zielgerichteter kulturelle | |
Differenzen pflegen – die sich auf regionaler Ebene artikulieren. Es ist | |
sinnvoll, in Länderkammern die divergierenden Interessen von Städten und | |
industriell sowie agrarisch geprägten Gebietskörperschaften miteinander zu | |
konfrontieren und miteinander zu versöhnen. Und ja, es ist gut, dass die | |
Länder einem Durchregieren im Wege stehen. | |
Das verhindert Reformen – zum Glück. Denn wahrscheinlich verringert es die | |
Zahl der Reformen zum Schlechteren. Längst hätte der Bund ein | |
freiheitsfeindliches Polizeigesetz durchgedrückt, das alle bayerischen | |
Zumutungen beinhaltet; aktuell gibt es dagegen 16 und die Palette reicht | |
von antidemokratischen Ausspähbefugnissen aus dem grün-schwarzen | |
Baden-Württemberg bis zu jenem in Bremen, dass Ordnungshüter*innen | |
mehr Rechenschaft der Zivilgesellschaft gegenüber abverlangt. | |
## Föderalismus schützt | |
Deswegen: Mehr [3][Föderalismus] wäre besser. Das schützt im Zweifel nicht | |
vorm Abbau der Bürger*innenrechte, macht aber klar: Es geht auch | |
anders. Mehr Föderalismus könnte, wie in den USA, ermöglichen, dass Länder, | |
die es wollen, aus der schädlichen Kriminalisierung von Drogen aussteigen. | |
Mehr Föderalismus könnte – und sei’s als Pilotprojekt – die gesundheitl… | |
Versorgung von Frauen absichern, die ihre Schwangerschaft abbrechen wollen. | |
Zum föderalen Modell gehört dabei, das Interesse für die Wege der anderen, | |
für Wahlergebnisse in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holsteins | |
Küstenschutzpläne und Hamburgs Hafenpolitik wach zu halten. Es gehört dazu, | |
sich auszutauschen. Von Flicken zu Flicken. | |
Bis der männliche Held mit der Pumpgun kommt, der Erlöser, und das Ding | |
zerfetzt. Endlich! | |
Die besten Geschichten aus 75 Jahren Nord-Bundesländer leseen Sie in der | |
[4][gedruckten taz am wochenende] | |
1 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Naechtliche-Ausgangssperre/!5759100 | |
[2] /Bismarck-Denkmal-in-Hamburg/!5789255 | |
[3] http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_20.html | |
[4] /e-kiosk/!114771/ | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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