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# taz.de -- Konservative in Großbritannien: Keine Zweifel in Manchester
> Auf ihrem Parteitag diskutieren die Konservativen über den Brexit und die
> Pandemie. Die aktuelle Versorgungskrise ist kein Thema.
Bild: Was ist der Kern ihrer Politik unter Boris Johnson? Das fragen sich die T…
Manchester taz | In den Hallen des Konferenzzentrums in Manchester herrscht
dichtes Gedrängel. Nur wenige Teilnehmer*innen des Jahresparteitags der
regierenden britischen Konservativen tragen Gesichtsmasken. Während für den
Zugang zum [1][Labour-Parteitag in Brighton] eine Woche vorher der
Impfstatus oder ein morgendlicher PCR-Test überprüft wurde, bleibt das bei
den Tories nur eine freundliche Bitte im Begleitheft. Das ist im Sinne des
libertären Flügels der Partei, der schon immer gegen Lockdowns war.
Es ist der erste Parteitag der Tories seit der [2][Coronapandemie] und
damit auch seit dem Wahltriumph von Ende 2019. Die blaue Partei, die sich
immer als Partei der Unternehmen verstand, will mit der Wiederaufnahme des
„normalen Lebens“ nach der Pandemie endlich über den Kern ihrer Politik
unter Boris Johnson und innerhalb des nun unabhängigen Vereinigten
Königreichs sprechen. Das Motto des Parteitags ist bewusst nach vorne
gerichtet: „Build back better, getting on with the job“ – besser
wiederaufbauen, die Arbeit erledigen.
Zugleich aber findet der Parteitag inmitten einer [3][Versorgungskrise]
statt, von deren Bewältigung die Zukunft der Regierung abhängen könnte. Die
Erdgasspeicher sind praktisch leer, es gibt massive Lieferprobleme beim
Benzin und teilweise leere Regale in Supermärkten, und das folgt auf die
fehlende klinische Schutzkleidung zu Beginn der Coronapandemie.
Während im Norden des Landes die Benzinversorgung sich inzwischen wieder
verbessert hat, stehen viele Tankstellen in London immer noch leer. Die
Regierung hat inzwischen versucht, mehr in den Süden des Landes zu bringen,
auch wenn viele Tankwagenfahrer der Armee immer noch auf einen Einsatz
warten und der Aufruf an Lkw-Fahrerinnen im Ausland bisher nur zu 127
gewährten Arbeitsvisa geführt hat.
## 10.000 Metzger*innen fehlen
Auswirkungen dieser Krise sieht man schon, bevor man überhaupt den
Parteitag erreicht. Vor dem Konferenzzentrum steht eine Gruppe von
Demonstrant*innen in Schweinekostümen. „Uns fehlen Metzger, die die
Tiere schlachten können“, berichtet Charlie Dewhirst vom
Schweinezüchterverband NPA inmitten der Schweinchengruppe. „Es ist Arbeit,
die niemand machen will, und deshalb stammten bisher die meisten dieser
Arbeitskräfte, 80 Prozent, aus Osteuropa. Wegen dem Brexit gibt es nun
[4][keine neuen Arbeitsvisa], und so fehlen uns 10.000 Metzger*innen.“ Nun
müssten eventuell bis zu 150.000 Tiere gekeult werden.
Auf Nebenveranstaltungen rund um den Parteitag tragen Wirtschaftsvertreter
ihre Probleme vor. Ian Wright, Chef des britischen Lebensmittelverbandes
(Food and Drinks Association), war schon vor dem Brexit gegen das Ende der
EU-Freizügigkeit. Auch jetzt schimpft er, dass die Regierung ihn ernst
nehmen und Zuwanderung erleichtern solle. „Unsere Industrie ist mehr wert
als die Flug- und Autoindustrie“, warnt er einen Vertreter des
Handelsministeriums.
Doch wer glaubt, die Parteitagsdelegierten drinnen wollten über diese
Themen sprechen, irrt. Die Schuld liege bei globalen Problemen oder bei der
Pandemie und nicht bei der Regierung, heißt es auf Nachfrage.
Die über 70 Jahre alte Hillary Fryer aus Leicestershire findet, es sei
jetzt nach der Pandemie einfach die Zeit gekommen, sich vom gewohnten
Lebensstandard zu verabschieden und den Gürtel enger zu schnallen.
Chris Loder, Unterhausabgeordneter für den ländlichen Wahlkreis West
Dorset, will in den Mängeln Positives erkennen, da so bessere Beziehungen
zur Landwirtschaft vor Ort aufgebaut werden könnten. Kommunalpolitikerin
Gloria Opara aus Medway südöstlich von London gesteht immerhin ein, dass
die Engpässe bestehen, kontert jedoch sofort, dass das Land nun endlich
seine eigenen Gesetze machen könne. Ihre jüngere Kollegin Elizabeth Turpin
meint, es brauche einfach Zeit, die eigenen Leute an Jobs zu lassen, die
vorher billige Arbeitskräfte aus dem Ausland erledigten.
## Großbritannien in der „Übergangsphase“
Damit vertritt sie genau die Regierungslinie, dass sich das Land in einer
„Übergangsphase“ befinde: weg von der millionenfachen Einwanderung von
Billigarbeitern hin zur Hochlohnökonomie mit den eigenen Leuten. Unter
Johnson stehen die Konservativen quer gegenüber den Forderungen der
Industrie, den Mangel an Arbeitskräften durch billige Arbeitskräfte aus
anderen Ländern zu lösen, ohne die Arbeitsbedingungen und Löhne zu
verbessern.
Die Konservativen sprechen jetzt von höheren Löhnen, von mehr Bildung, die
Steuerquote wird 2022 auf das höchste Niveau seit den 1980er Jahren
steigen, auch die Unternehmenssteuern gehen nach oben. Bis 2035 soll alle
Energie des Vereinigten Königreichs zu 100 Prozent „sauber“ gewonnen
werden, wozu nicht nur Offshore-Windparks zählen, sondern auch Atomkraft.
Und noch ein Akzent erscheint in allen Debatten: die Ausweitung der
Dezentralisierung.
Die 50-jährige Apothekerin Alia Arif aus der britisch-pakistanischen
Community im nordenglischen Stockport ist seit einem Jahr bei den
Konservativen, davor war sie jahrzehntelang Labour-Mitglied, bis sie unter
Parteiführer Jeremy Corbyn aufgrund des Antisemitismus austrat. Würde sie
jetzt zu Labour zurückgehen, wo Keir Starmer mit dem Corbyn-Erbe aufräumt?
„Nein, ich bleibe auch mit Starmer bei meiner Entscheidung“, bekräftigt sie
und gibt sich positiv überrascht über die Diversität bei den Konservativen.
Der alten Hillary Fryer gefällt Johnsons Stil. Sie glaubt, dass Margaret
Thatcher heute nicht mehr ins Bild passen würde. Andere fragen sich jedoch,
was wohl aus den alten konservativen Werten geworden ist. „Für konservative
Politik standen immer der Glaube an die freie Marktwirtschaft, die
Selbstverantwortung, ein eher kleiner Staatsapparat und niedrige Steuern
und dass die einzelnen Länder des Königreichs gemeinsam eine Nation
darstellen“, sagt der 38-jährige Rechtsanwalt Jaspal Chhokar aus
Beaconsfield. Nicht Labour, eher die Liberaldemokraten hält er deswegen für
gefährlicher für die Konservativen im wohlhabenden Süden Englands.
Für die Bezirksrätinnen Elizabeth Turpin und Gloria Opara aus Medway
könnten Vorhaben, den Wohnungsbau zu forcieren, die konservative
Vorherrschaft aufs Spiel setzen, denn dafür müssten in geschützten
Grüngebieten Baugenehmigungen erteilt werden.
## Kürzung auf Kosten der Ärmsten
Ed Píška ist mit 21 Jahren einer der jüngsten Delegierten in Manchester.
Auch er findet, die Partei müsse aufpassen, im Süden nichts zu verlieren.
Dennoch glaubt er, dass die konservative Politik kompetent und seriös
wirke. Besonders gefallen ihm die [5][neue Außenministerin Liz Truss] und
die streitbare Innenministerin Priti Patel – zwei Namen, die auch von
anderen positiv genannt werden.
Patels Ankündigung einer Untersuchungskommission über die Umstände der
[6][Ermordung von Sarah Everard] durch einen Polizisten wird begrüßt,
ebenso die Strafverschärfungen für Klimaaktivist*innen, die mit
Straßenblockaden fast täglich irgendwo den Verkehr aufhalten.
Viel Lob gibt es auch für Finanzminister Rishi Sunak, den Medien immer
wieder als möglichen zukünftigen Rivalen Boris Johnsons ins Spiel bringen.
Er hat mit dem britischen Covid-19-Unterstützungsprogramm während der
Pandemie fast das ganze Land auf Staatskosten unterhalten und ist
entsprechend beliebt. Doch trotz dieser Großzügigkeit steht Sunak derzeit
auch negativ im Rampenlicht. Píška ist nicht glücklich mit der
beschlossenen Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge zugunsten des
Gesundheitswesens, „weil gerade jüngere Menschen mit diesen Extrakosten
leben müssen“.
Auf massive Kritik stößt vor allem, dass Sunak die pandemiebedingte
Sondererhöhung der sozialen Grundsicherung „Universal Credit“ um
wöchentlich 20 Pfund (23,50 Euro) soeben wieder rückgängig gemacht hat –
eine Kürzung auf Kosten der Ärmsten just in einer Zeit stark steigender
Energiepreise. Es gibt eben doch Unterschiede zwischen Konservativen und
Opposition.
Auf einer Nebenveranstaltung zu dem Thema ist John Glen, Staatssekretär im
Finanzministerium, isoliert. Von allen fünf anderen Podiumsgästen, darunter
die Leiter der Thinktanks Bright Blue und Demos und eine Finanzjournalistin
von Johnsons Hauszeitung Daily Telegraph, muss er sich massive Ablehnung
anhören. Er antwortet: Zu versuchen, die Regierung umzustimmen, sei
zwecklos.
6 Oct 2021
## LINKS
[1] /Grossbritanniens-Labour-Opposition/!5800697
[2] /Coronainfektionen-in-Grossbritannien/!5786141
[3] /Benzin-Engpaesse-in-Grossbritannien/!5803775
[4] /Grossbritannien-lockert-Einwanderungsbegrenzung/!5803230
[5] /Neue-Aussenministerin-in-Grossbritannien/!5797754
[6] /Urteil-im-Mordfall-Sarah-Everard/!5800833
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
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