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# taz.de -- Aufklärung über Rassismus: Xenophober Hit im Unterricht
> Um Diskriminierung im Schulunterricht zu thematisieren, verwenden
> Lehrer*innen zuweilen xenophobe Songtexte. Wie weit dürfen sie gehen?
Bild: Die Stuttgarter Polka-Rock-Band Hiss bei einem Konzert
Es gibt Liedtexte, bei denen man ganz schön schlucken muss. So wie bei
einem Song der deutschen Polka-Rock-Band HISS aus dem Jahr 1996, der das
N-Wort bereits im Titel trägt. In den ersten Strophen reihen sich
menschenverachtende Bezeichnungen sowie bösartige Vorurteile gegenüber
vermeintlich nicht-deutschen Menschen aneinander. „Sind abergläubisch,
träge, dumm und faul“ lautet eine der noch harmloseren Beleidigungen in dem
Text. Dabei will das Lied durch ein Überraschungsmoment am Ende
antirassistisch sein: In der letzten Strophe kehren sich die xenophoben
Vorurteile um und es werden abwertende Stereotype in Bezug auf „Deutsche“
aufgezählt.
Im vergangenen Schuljahr spielte ein Lehrer an einer bayerischen
Berufsschule die erste Strophe des Liedes in seinem Seminarfach zu Rock-
und Popmusik vor. „Mir war übel“, schreibt eine ehemalige Schülerin des
Abiturjahrgangs, die in der Unterrichtsstunde anwesend war, in einer
E-Mail. „Jemand, der so ein Lied vorspielt, muss doch als Pädagoge vorher
reflektieren, dass gewisse Worte hier verletzend sein können.“
Wie weit dürfen Lehrkräfte gehen, wenn im Unterricht rassistisches
Lehrmaterial behandelt wird? Problematische Texte, Bilder oder Filme sind
im Unterricht nicht per se verboten. Aus dem bayerischen Kultusministerium
heißt es dazu: Entscheidend sei die „didaktisch-pädagogisch angemessene
Problematisierung der jeweiligen Quelle“, also wie genau die Lehrkraft den
Unterricht rund um das Material gestaltet. Zum Beispiel könne es im
Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und Kolonialismus durchaus
sinnvoll sein, anhand konkreter Beispiele manipulative Techniken zu
analysieren, um Schüler*innen dazu zu befähigen, sich kritisch mit
Ideologien auseinanderzusetzen.
## Lied war für „Rio Reiser Songpreis“ nominiert
Inwieweit die genannte Unterrichtsstunde angemessenen gestaltet wurde und
was genau das Lernziel war, lässt sich im Nachhinein nicht mehr
rekonstruieren. Die dort anwesende Schülerin sagt, dass es im weiteren
Verlauf der Stunde um Zitiertechniken ging. Weder die Lehrkraft noch die
Schule wollten sich jedoch, auch auf mehrmalige Nachfrage der taz, zu dem
Vorfall äußern. Die Schulleitung verwies lediglich darauf, dass das Lied im
Schulbuch „Durchstarten“ des Cornelsen-Verlags aus dem Jahr 2001 enthalten
ist und zudem für den „Rio Reiser Songpreis“ 1997 nominiert war.
Der [1][Cornelsen-Verlag] kommentiert, dass heute so ein Liedtext nicht
mehr in einem neuen Schulbuch auftauchen würde, auch nicht mit
Kontextualisierung. Die Verlagsrichtlinien seien sprach- und
diskriminierungssensibler als früher. „Wir prüfen in diesem Fall bereits,
den Titel vom Markt zu nehmen“, schrieb ein Sprecher des Verlags. In Bayern
war und ist das konkrete Schulbuch übrigens laut Kultusministerium nicht
zugelassen.
Der Verein, der den „Rio Reiser Songpreis“ vergibt, distanziert sich
ebenfalls von dem Lied in einer schriftlichen Stellungnahme an die taz:
„Das war der gesellschaftliche Stand Ende des 20. Jahrhunderts. Heute
würden wir einen Song, in dem das N-Wort benutzt wird, nicht mehr
akzeptieren, egal in welchem Kontext und mit welcher Intention dies
geschieht.“
„Lehrer*innen müssen ihr Material eingehend überprüfen und können sich
nicht darauf verlassen, dass alle Materialien, Verlage oder Webseiten
diskriminierungsfrei sind“, appelliert daher Sabrina Becker,
Landeskoordinatorin des Schulnetzwerks „Schule ohne Rassismus – Schule mit
Courage“ in Hessen. Dieses Bewusstsein sei ganz unterschiedlich bei
Lehrkräften ausgeprägt. In letzter Zeit habe es sich zwar verstärkt, vor
allem durch Ereignisse wie den antisemitischen Anschlag in Halle und den
rassistischen Anschlag in Hanau. Insgesamt aber herrsche immer noch eine
große Unsicherheit. Aus Beckers Sicht sei vor allem wichtig, bei der
Selbstreflexion der Lehrkräfte anzusetzen. „Man kann auch rassistisch sein,
wenn man nicht rassistisch sein möchte“, betont sie.
## Mehrwert von Rassismuskritik wird nicht erkannt
Diesen Erkennungsprozess anzustoßen ist nicht einfach. Prof. Dr. Karim
Fereidooni, Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen
Bildung an der Ruhr-Universität Bochum, stellt fest: „Die meisten Schulen
dethematisieren, dass Rassismus bei ihnen vorkommt.“ Fereidooni bemängelt,
dass Rassismuskritik in der Lehrer*innenbildung kaum stattfindet, und
Lehrkräfte, die sich fortbilden wollen, auf sich allein gestellt seien.
„Viele Schulleitungen geben ihren Lehrkräften nicht die Möglichkeit, an
Fortbildungen teilzunehmen, weil sonst der Unterricht ausfallen würde. Der
[2][Mehrwert der Rassismuskritik] wird nicht erkannt.“
Zu dem Lied, das an der bayerischen Berufsschule gespielt wurde, sagt
Fereidooni: „Mittlerweile sollten doch bitte alle Lehrkräfte verstanden
haben, dass das N-Wort in Schulmaterialien nichts zu suchen hat. Ich habe
die Aufgabe als Lehrkraft, meine Schüler*innen vor Rassismus zu
schützen. Ich darf ihn nicht reproduzieren.“ Wenn man sich entscheidet, ein
bestimmtes Material doch zu nutzen, müsse man die Schüler*innen im
Vorhinein ausreichend sensibilisieren.
„So ein Material braucht ganz viel Zeit“, meint auch Laura Stöckel, die
seit drei Jahren Deutsch und Kunst an einer Gesamtschule in Berlin-Steglitz
unterrichtet. Auch wenn sie selbst das Lied nicht für ihren Unterricht
auswählen würde, kann sie sich die Gründe dafür vorstellen: „Wenn die
Klasse schon sensibilisiert ist – warum nicht auch mal etwas Provokatives
einbringen? Manchmal will man Reaktionen hervorrufen. Aber dann ist es
wichtig, dass die Schüler*innen nicht damit alleingelassen werden.“
Gerade im Deutschunterricht stößt Stöckel häufiger auf Literatur mit
problematischen Begriffen. „Jeder muss selber gucken, wie er damit umgeht“,
erzählt sie im Videogespräch. Vermeiden, zensieren, thematisieren – es gibt
viele Möglichkeiten, und im Kollegium handhabt es jede*r anders. Eine
perfekte Lösung für sich hat Stöckel noch nicht gefunden. „Oft gehe ich aus
dem Klassenraum und denke, hoffentlich ist das bei jedem richtig
angekommen.“
Im Fall der bayerischen Schule ist das Lied nicht bei allen richtig
angekommen. Die ehemalige Schülerin des Seminarfachs Rock- und Popmusik
hofft, „dass im Jahr 2021 das Lied nicht mehr gespielt und die Schule da
etwas sensibler wird“.
10 Oct 2021
## LINKS
[1] /Klitoris-in-Lehrbuechern/!5667301
[2] /UN-Bericht-zu-strukturellem-Rassismus/!5783330
## AUTOREN
Valeria Nickel
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Schule gegen Rassismus
deutsche Literatur
Lust
Diaspora
Black Lives Matter
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