# taz.de -- Wettbewerb Cover-Neugestaltung „Woyzeck“: Blicke auf einen Klas… | |
> Der Reclam-Verlag schrieb einen Schüler-Wettbewerb zur Covergestaltung | |
> von Büchners „Woyzeck“ aus. Die Resonanz ist überwältigend. | |
Bild: Die drei erstplatzierten des Schüler:innen-Wettbewerbs zur Cover-Neugest… | |
Generationen von Schüler:innen kennen das. Mal wieder die öde | |
Deutsch-Lektüre nicht gelesen, nicht verstanden oder sogar gut gefunden, | |
nur der Unterricht dazu ist zum Abgewöhnen – die Stunden ziehen sich | |
jedenfalls wie das leider verbotene Kaugummi peinigend in die Länge. | |
Ein Glück, dass wenigstens eins noch die geschundene Fantasie ankurbelt: | |
die einladend freie Fläche auf den kreischend gelben Buchumschlägen, die | |
geradezu danach schreit, mit allen möglichen Gedankengeburten | |
vollgekritzelt, verschönert oder verunstaltet zu werden. | |
Der Stuttgarter Reclam-Verlag macht aus der Not nun eine Tugend. Er hat | |
einen Schüler-Wettbewerb zur Cover-Neugestaltung von [1][Georg Büchners | |
„Woyzeck“] ausgeschrieben. Das berühmte Dramenfragment des jung | |
verstorbenen Vormärz-Revolutionärs ist ab diesem Jahr in vielen | |
Bundesländern (etwa Berlin) Abiturthema und hat vielleicht auch deshalb die | |
Vorstellungswelten des Nachwuchses mächtig in Schwung gebracht. | |
Und klar: Mit dem richtigen Zugang können verpflichtende Klassikerlektüren | |
natürlich auch begeistern! Mehr als 1.000 Einsendungen hat der Verlag | |
bekommen und daraus jetzt drei Gewinner ermittelt, von denen der erste | |
Platz als Sonderausgabe in den Druck geht. Zum Honorar dafür kommt noch ein | |
Preisgeld von 150 Euro. | |
## Porträt des wahnverzerrten Helden | |
Der Sieger-Entwurf der 18-jährigen Johanna Kilian aus Hamburg erinnert | |
sicher nicht zufällig an die Bildtradition des Expressionismus, in dieser | |
Epoche erlebte „Woyzeck“ 1913 rund achtzig Jahre nach Entstehen seine späte | |
Uraufführung. In einem leeren, dunklen Raum sitzt der in gelb-rötlichen | |
Farbtönen gehaltene Held wahnverzerrt vor einem Teller Erbsen, auf die zu | |
medizinischen Versuchszwecken seine Nahrung reduziert ist. | |
Indem seine schreckverkrampften Gliedmaßen über Fäden mit einer spinnenhaft | |
über ihm schwebenden, riesigen Hand verbunden sind, nimmt die Künstlerin | |
ein Motiv aus Büchners Erstlingswerk „Dantons Tod“ auf, in dem der Autor | |
Einsichten der Psychoanalyse vorwegnimmt: „Wer will der Hand fluchen, auf | |
die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist | |
das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von | |
unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die | |
Schwerter, mit denen Geister kämpfen – man sieht nur die Hände nicht, wie | |
im Märchen.“ | |
Da wir es aber bei „Woyzeck“ natürlich nicht mit einem Märchen zu tun | |
haben, zeigt uns die Künstlerin hier die unsichtbare Hand der „Natur“ und | |
der sozialen Umstände, durch die Büchner seine(n) mordenden Helden | |
gewissermaßen gezwungen und determiniert sieht. Abgesehen von dieser | |
stimmungsvollen, motivischen Verdichtung ist in Kilians Entwurf auch der | |
Buchtitel besonders schön gestaltet. | |
## Woyzeck im Manga-Stil | |
Auf dem zweiten Platz zeigt uns Oliver Laatz aus Rüdersdorf/Berlin im | |
versierten Manga-Stil vom Mörder Woyzeck nur dessen Hand mit blitzender | |
Klinge und stellt stattdessen ganz seine Freundin Marie ins Zentrum (wenn | |
auch nur als zu erwartendes Opfer). Das passt sehr gut zu feministischen | |
Lesarten des Dramas, für die dessen Titel eher „Marie, Woyzeck“ lauten | |
sollte. | |
Die drittplatzierte Maria Schaak aus Nürnberg scheint mindestens ebenso vom | |
Mediziner Büchner inspiriert worden zu sein wie vom Philosophen und | |
Krimi-Autor. Ihre naturalistischer grundierte Darstellung von Woyzecks | |
körperlich-geistiger Fragmentierung zwischen Totenschädel und Horrorfratze | |
könnte sich sowohl bei der Schauerromantik wie auch bei deren klassischeren | |
Vorbildern Anregung geholt haben (im Goethe-Nationalmuseum in Weimar hängt | |
jedenfalls ein nicht unähnliches Ensemble von Profilstudien, das dem | |
klassizistisch ausgebildeten Schwarzromantiker Johann Heinrich Füssli | |
zugeschrieben wird). | |
Aufgrund der überwältigend vielen, wirklich sehenswerten Einsendungen hat | |
der Verlag neben den drei Gewinnern auch eine große Auswahl der anderen | |
Entwürfe auf seiner Webseite veröffentlicht und zusätzlich einen | |
Sonderpreis an eine Nürnberger Schulklasse vergeben, die – wie viele andere | |
– gemeinsam am Wettbewerb teilgenommen hatte. | |
## Kreative Vielfalt der Werke | |
Die konzeptionelle Durchdringung und kreative Vielfalt der Werke lassen | |
darauf schließen, dass es unserem krankenden Bildungssystem an einem nicht | |
mangeln dürfte: der Motivation der Schüler:innen (wobei der | |
Vollständigkeit halber hinzuzufügen ist, dass etwa 90 Prozent der | |
ausgewählten Cover von weiblichen Teilnehmern stammen). | |
Mit Blick auf die beeindruckende Auswahl kann man wehmütig werden, dass nur | |
ein einziges Design nun in den Verkauf kommt. Für die Zweit- und | |
Drittplatzierten soll es immerhin noch eine Mini-Auflage zum Privatgebrauch | |
und für Ausstellungszwecke geben. | |
Man hätte sich aber auch gut eine Art Cover-on-Demand-Aktion für den | |
Buchhandel vorstellen können. Dafür lässt der Verlag aber auf Nachfrage | |
durchblicken, dass es angesichts des positiven Feedbacks nicht der letzte | |
Cover-Wettbewerb gewesen sein dürfte. | |
18 Feb 2023 | |
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[1] /Woyzeck-Interrupted-im-Deutschen-Theater-Berlin/!5735187 | |
## AUTOREN | |
Tom Wohlfarth | |
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