# taz.de -- Wohnraum für Obdachlose: Hartes Pflaster, weiches Bett | |
> Das Hamburger Straßenmagazin „Hinz & Kunzt“ hat eine neue Zentrale. Neben | |
> Arbeitsräumen wurden auch Wohnungen für ehemalige Obdachlose geschaffen. | |
Bild: Die neue „Hinz & Kunzt“-Zentrale in Hamburg-St. Georg | |
Hamburg taz | Marco Steinfeldt sitzt aufrecht im Glanz der Herbstsonne und | |
raucht eine Filterzigarette. Er trägt einen schwarzen, leicht | |
ausgebleichten Hut mit St.-Pauli-Emblem. Der 45-Jährige spiegelt sich im | |
geschwungenen Fenster der neuen [1][Hinz-&-Kunzt-Zentrale]. Früher war | |
Marco obdachlos, doch jetzt wird er den Neubau sein Zuhause nennen. | |
Das backsteinrote Gebäude liegt in St. Georg, genauer: im Stiftsviertel. | |
Letzte Baumaßnahmen gerade noch vorgenommen, aber seit Ende September läuft | |
schon der Geschäftsbetrieb. Manche plaudern und trinken Kaffee aus weißen | |
Bechern, andere schleppen Möbel durch die offene Glastür. | |
Geschichten von der Straße werden hier fortan nicht nur publiziert, sie | |
ziehen gleich mit ein: Dieser tage werden 24 ehemalige wohnungs- und | |
obdachlose Menschen in den oberen drei Stockwerken ihre Betten machen. | |
Insgesamt fünf Wohngemeinschaften und eine Familienwohnung bieten allen | |
Bewohner:innen eigene Zimmer, das Bad teilen sie sich maximal zu zweit. | |
Das Projekt, das sich seit über neun Jahren in Planung befand, konnte durch | |
die Beziehung zur Patriotischen Gesellschaft realisiert werden. Sie hält | |
ein Drittel von Hinz & Kunzt und fördert allerhand gemeinnützige Zwecke. | |
## Schwierige Suche nach einem Grundstück | |
Weil das Eigenkapital fehlte, willigte Holger Cassens, Sozialinvestor und | |
Mitglied im Beirat der Patriotischen Gesellschaft, ein, einen Neubau zu | |
bezahlen. | |
Die Grundstückssuche gestaltete sich jedoch als schwierig. Innenstadtnah | |
musste es sein, nach zwei fehlgeschlagenen Bewerbungsverfahren meldete sich | |
Johannes Jörn, Vorstandsmitglied der Patriotischen Gesellschaft und der | |
Amalie-Sieveking-Stiftung. Diese stellt sozialen, barrierefreien Wohnraum | |
für Menschen über 60 bereit und hatte nach einem Abriss einen Bauplatz zur | |
Hand. Die Stiftung übergab das Grundstück in Erbpacht an die | |
Mara-und-Holger-Cassens-Stiftung, die das Gebäude wiederum [2][Hinz & | |
Kunzt] überlässt: für mindestens 30 Jahre und zu einem niedrigen Mietpreis. | |
„Die Wohnungen haben einen Hauch von Luxus“, sagt der Leiter des | |
Wohnprojektes, Stephan Karrenbauer, der seit über 25 Jahren Sozialarbeiter | |
bei Hinz & Kunzt ist. Das habe auch etwas mit Würde zu tun: „Alle Menschen | |
haben das Bedürfnis nach Ruhe, das Bedürfnis, sich an einem Ort | |
wohlzufühlen.“ Viele glaubten an das Klischee, wohnungs- und obdachlose | |
Menschen wollen gar kein Dach über dem Kopf. „Das ist Quatsch“, sagt | |
Karrenbauer. Die Bewohner:innen hätten hier unbefristete Mietverträge, | |
die Miete orientiere sich an den Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus – 6,60 | |
Euro pro Quadratmeter. | |
Neben Marco Steinfeldt sitzt der Sozialarbeiter Jonas Gengnagel. Er war | |
zusammen mit den anderen Sozialarbeiter:innen bei Hinz & Kunzt für | |
die Auswahl der neuen Bewohner:innen zuständig: „Wir haben keine festen | |
Kriterien gestellt. Wir haben mit allen interessierten Personen Gespräche | |
geführt.“ Dabei sei herausgekommen, dass das Wohnen in einer WG nicht für | |
alle Personen infrage käme. Wichtig sei deswegen, dass die Menschen auf das | |
Leben in einer Gemeinschaft Lust hätten. | |
## Ein Nischenmodell | |
Dies widerspreche nicht der öffentlichen [3][Forderung von Hinz & Kunzt | |
nach Housing First], also der bedarfsgerechten Unterbringung obdachloser | |
Menschen ohne Qualifikationsansprüche, sagt Gengnagel. „Unser Projekt ist | |
ein Nischenmodell.“ Man benötige eine Palette an Wohnungsangeboten in | |
Hamburg, um allen Menschen einen passenden Wohnraum bieten zu können. „Wir | |
dürfen uns nicht an das Elend der Menschen gewöhnen, es nicht | |
normalisieren, dass Menschen auf der Straße leben.“ | |
Steinfeldts Wohnung liegt im dritten Stock. Die Tür steht offen. In der | |
Raummitte, auf dem melierten Holzlaminat, stehen zwei hölzerne Sofas. Die | |
Polster sind mit rotem Stoff bezogen. Schüchtern drängt sich tatsächlich | |
ein Hauch von Luxus auf. Steinfeldt, seit einem Jahr Verkäufer des | |
Straßenmagazins, betritt sein Zimmer und drückt auf seiner Matratze herum. | |
„Es fühlt sich geil an, hier zu sein.“ Er wolle aber erst probeliegen, wenn | |
er einziehe. | |
## Verdrängte Probleme | |
Sein Weg ist mit Schicksalsschlägen gepflastert. Schlafen mit Genuss | |
gleichzusetzen, war nicht immer normal für ihn. Mit dem Tod seines Sohnes, | |
der kurz nach der Geburt verstarb, änderte sich sein Leben: „Ich wurde | |
depressiv, erkrankte an einer posttraumatischen Belastungsstörung.“ | |
Zunächst habe er sich in die Arbeit gestürzt, zwölfstündige Schichten bei | |
einer Zeitarbeitsfirma geschoben. Er sei mehrmals mit seiner damaligen Frau | |
umgezogen. Seine Probleme habe er verdrängt. | |
Mit der hohen Arbeitsbelastung seien Alkohol und Amphetamine in sein Leben | |
getreten. Irgendwann habe er sich aufgegeben. „2018 habe ich für ein Jahr | |
auf der Straße gelebt, am Mümmelmannsberg.“ In dieser Zeit stand er auf | |
einer Brücke, springen wollte ich nicht. Ein Hilferuf, wie er beteuert. | |
Über einen anderen Verkäufer sei er auf Hinz & Kunzt aufmerksam geworden. | |
„Die haben mein Leben gerettet.“ | |
Mit Alkohol und Drogen habe er aus eigener Kraft aufgehört. Auch habe er | |
gelernt, Hilfe anzunehmen. Inzwischen könne er sogar über den Tod seines | |
Kindes sprechen. | |
6 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Gruenderin-ueber-25-Jahre-HinzKunzt/!5556551 | |
[2] https://www.hinzundkunzt.de/ | |
[3] /Wohnraum-fuer-Obdachlose/!5774494 | |
## AUTOREN | |
Arne Matzanke | |
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