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# taz.de -- FDP-Erfolg bei Erstwähler:innen: Eine Sache für Profis
> Weil viele Erstwähler:innen für die FDP stimmten, müssen sie Spott
> ertragen und werden von rechts beklatscht. Beides ist falsch.
Bild: Bei vielen Jungen begehrt: ein Selfie mit FDP-Chef Christian Lindner (hie…
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein Politiker, der jungen
Menschen keine komplexen Denkzusammenhänge zutraut, ausgerechnet jener
Altersgruppe einen beachtlichen Imageerfolg zu verdanken hat. Einst äußerte
sich [1][Christian Lindner] herablassend über die Zukunftsängste junger
Menschen („Sache für Profis“) – nun stellt der frisch im Amt bestätigte
FDP-Chef selbst die Hoffnung vieler junger Menschen dar.
[2][Fast jede:r vierte, der am Sonntag zum ersten Mal bei einer
Bundestagswahl wählte], traut ihm und seiner Partei in Sachen Zukunft am
meisten zu. Nicht dass diese Stimmen einen großen Einfluss auf das
Wahlergebnis gehabt hätten – die liberalen Erstwähler:innen machen nur
1 Prozent der Wahlberechtigten aus. Entscheidender ist der Symbolwert: Die
FDP holte bei den Jüngsten mehr Stimmen als die Grünen, die selbsternannte
Zukunftspartei.
Spätestens seit Sonntag lautet das neue liberale Selbstverständnis: Wir
sind hip und modern. Da kann ein Christian Lindner in Anzug und Krawatte
zwischen seinen JuLi-Jüngern sitzen und tiefenentspannt [3][die
Legalisierung von Cannabis] empfehlen. Oder mit Süffisanz die
Eigenverantwortung der Bürger:innen – Stichwort grüne Verbote – betonen.
Und das kommt gut an, zumindest bei den Jungen.
Das nämlich ist ein anderer Aspekt des Wahlergebnisses: Während der
Nachwuchs auf Lindners Truppe fliegt, wenden sich die Älteren ab. Je älter
das Wahlvolk, desto weniger Bock auf FDP. Ähnlich wie bei Grünen und
Linken. Die FDP mag für junge Menschen ein Zukunftsversprechen sein – die
jungen Menschen sind es plötzlich auch für die FDP. [4][Der nächste
deutsche Kanzler] kann das nicht von seiner Partei behaupten, egal ob
Scholz oder Laschet das Rennen macht.
## Warum wählen die bloß alle FDP?
Über die Gründe der Jugendliebe FDP wird seit der Wahlnacht aufgeregt
spekuliert. Soziolog:innen nennen [5][die Corona-Einschränkungen]
der vergangenen anderthalb Jahre und das Gefühl der Jungen, von der
Politik nicht gehört zu werden. Bildungsexpert:innen [6][das
Digitalisierungsversprechen] an Schulen, das die FDP glaubwürdiger vertritt
als die anderen. Marketing-Strateg:innen verweisen auf die Reichweite
bezahlter Postings in den sozialen Medien, hier sind die Liberalen einsame
Spitze. Und Konservative à la Ulf Poschard sehen in dem Wahlergebnis den
Beweis, dass auch die Jugend den Moralismus der Klimabewegung nicht abhaben
kann. Die FDP selbst ist überzeugt, dass ihr Pochen auf Freiheitsrechte
junge Stimmen eingebracht hat.
Viele, die diese Beliebtheit nicht so recht mitbekommen haben (was
angesichts der medialen Aufmerksamkeit [7][für die Fridays for Future] auch
uns Medien zu denken geben sollte), reiben sich verwundert die Augen. Warum
wählen die bloß alle FDP? Und beim Unverständnis hört es nicht auf. Die
Erstwähler:innen werden regelrecht mit Spott und Häme bedacht, weil
sich viele von ihnen für die FDP entschieden haben.
„Alles Millionäre“, witzelt da einer im Netz. Ein Lehrer fragt seine
Kolleg:innen, was sie „den Leuten“ nur in Politik und Sozi beigebracht
hätten. Andere teilen Fotos, auf denen Golfer cool zum Putt ansetzen,
während in ihrem Rücken ein heftiger Waldbrand lodert. Subtext:
FDP-Wähler:innen sind schnöselige Klima-Asis. Wer als junger Mensch FDP
wählt, hat falsche Prioritäten.
Was an den Unterstellungen dran ist, hat der Krautreporter Bent Freiwald
untersucht. Er fragte Erstwähler:innen, warum sie FDP gewählt haben.
Tatsächlich gehen manchen die grünen Bevormundungen, oder was sie dafür
halten, zu weit. Von „staatserzieherischen Elementen“ ist da die Rede, von
„innovationsfeindlichen Verboten“. Andere wiederum stimmten für die FDP, um
der Union einen Denkzettel zu verpassen, beim Thema Steuern auf Nummer
sicher zu gehen, die Bürokratie zu entschlacken oder – legal Gras rauchen
zu dürfen.
## Also alles halb so wild? Leider nein.
Kurz: Jede:r hat seine eigenen Gründe. Sie deshalb pauschal als
egoistische Klimagegner:innen zu bashen ist genauso daneben wie sie als
Kronzeugen einer vermeintlichen grünen Klimadiktatur zu
instrumentalisieren. Zumal repräsentativen Umfragen zufolge nicht nur
jungen Grünen Klimaschutz wichtig ist, sondern auch jungen Liberalen.
Klar, über die richtigen Instrumente gibt es Meinungsverschiedenheiten.
Aber die gibt es schließlich auch mit der SPD oder mit der Linken. Die
Zeit-Journalistin Yasmine M’Barek empfiehlt deshalb der „gelb-grünen
Generation“, den Klimaschutz gemeinsam anzugehen. So wie sich Gelb und Grün
im Falle einer Ampel (oder Jamaika) beim Thema Klima auch zusammenraufen
werden. Also alles halb so wild? Leider nein.
Die hohe Zustimmung für Grüne und FDP bei den jungen Menschen ist durchaus
bedenklich, weist sie doch auf ein großes demokratisches Versagen der
vergangenen Jahre hin. Egal ob bei Klimaschutz oder Pandemiebekämpfung: Die
Bundesregierung hat die Sorgen der Jungen nicht ernst oder nicht ernst
genug genommen. So zumindest empfinden das die Betroffenen: Vor der
Bundestagswahl gaben mehr als 80 Prozent der 16- bis 26-Jährigen an, dass
die Regierung ihre Interessen „ignoriert“. Bei 70 Prozent sei das Vertrauen
in die Politik in den letzten vier Jahren gesunken. Das sind bedenkliche
Zahlen. Verdenken kann man es den jungen Menschen nicht.
Um nur ein Beispiel zu nennen: die Existenzsorgen der Studierenden. Erst
vergangene Woche hat der neue MLP Studentenwohnreport gezeigt, dass sich
die Mietsituation im vergangenen Jahr weiter verschärft hat. Weil die
Politik unfähig ist, die Mieten wirklich einzufrieren. Und weil viele
Studierende wegen der Pandemie ihren Nebenjob verloren haben. Die Hilfe der
Bundesregierung: Kredite. Nothilfe bekam nur, wer weniger als 500 Euro auf
dem Konto hat. Herzlichen Dank für gar nichts!
Die gute Nachricht für die Jungen ist: Grüne und FDP werden bald selbst
regieren und können zeigen, dass sie alles besser können. Vorausgesetzt,
Christian Lindner duckt sich nicht wieder weg. Damit würde er die
Wähler:innen, die in seiner Politik die Zukunft sehen, ganz schnell wieder
verlieren.
28 Sep 2021
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## AUTOREN
Ralf Pauli
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