# taz.de -- Deutsch-afghanische Hochschulkooperation: Gefährliche Förderung | |
> In Afghanistan sind Studierende und Wissenschaftler:innen, die mit | |
> deutschen Unis kooperiert haben, in Gefahr. Was ihnen jetzt helfen kann. | |
Bild: Studentinnen beim Interview zur Aufnahme an der Kabuler Universität im D… | |
Berlin taz | Eigentlich könnte Wilhelm Löwenstein stolz sein. In den | |
vergangenen 19 Jahren hat der Professor der Ruhr-Universität Bochum | |
geholfen, Wirtschaftsfakultäten in [1][Afghanistan] mit aufzubauen, | |
Curricula auf internationalen Standard zu bringen – und afghanische | |
Dozent:innen auszubilden. Rund 100 Afghan:innen aus allen | |
Landesteilen haben dafür drei und mehr Jahre in Bochum studiert, sind | |
anschließend an ihre Heimatuniversitäten zurückgekehrt und haben dort | |
Zigtausende Studierende ausgebildet. | |
Doch nun muss Löwenstein tatenlos mitansehen, wie die Taliban nicht nur | |
seine jahrelange Arbeit bedrohen, sondern auch die Menschen, die er | |
ausgebildet hat. „Die Taliban haben längst die Hochschulen übernommen und | |
erstellen Listen mit Dozenten, die im Ausland waren“, sagt Löwenstein am | |
Telefon. „Ich habe E-Mails bekommen von Kollegen, die sich jetzt Bärte | |
wachsen lassen und sich alle zwei, drei Tage ein neues Versteck suchen | |
müssen.“ | |
Löwenstein ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für | |
Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik an der Ruhr-Uni Bochum. Ein | |
Institut, das etwas auf seine jahrzehntelangen Kontakte nach Afghanistan | |
hält – und die Erfolge bei der Ausbildung afghanischer | |
Wissenschaftler:innen. Seit ein paar Tagen jedoch findet man dazu kaum mehr | |
Informationen. | |
Die Uni hat alles von der Website genommen, was ehemalige Studierende oder | |
Kooperationspartner in Afghanistan gefährden könnte. Auch andere Unis sowie | |
der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) haben auf die | |
Machtübernahme der Taliban reagiert und Namen und Fotos von ihren Websites | |
genommen – und dem Auswärtigen Amt gefährdete Personen gemeldet. | |
## Alle gefährdet, die mit westlichen Hochschulen kooperierten | |
„Wir müssen davon ausgehen, dass alle Afghanen und Afghaninnen gefährdet | |
sind, die mit westlichen Hochschulen kooperiert haben oder in irgendeiner | |
Weise durch diese gefördert worden sind“, sagt DAAD-Präsident Joybrato | |
Mukherjee der taz. Wie hoch deren Zahl ist, lässt ein Blick in die | |
Statistik erahnen. Seit 2002 hat allein der DAAD rund 240 Lehr- und | |
Forschungsprojekte von deutschen Unis mit afghanischen Partnerinstitutionen | |
unterstützt sowie 1.100 Stipendien an afghanische Studierende und | |
Promovierende vergeben. | |
Dazu kommen Tausende Austauschstudierende, die teils wieder in Afghanistan | |
sind, sowie Afghan:innen, die vor Ort direkt für den DAAD gearbeitet haben. | |
Allein im Jahr 2020 erhielten 633 Afghan:innen eine Förderung durch den | |
DAAD. | |
„Wir stehen seit Wochen im engen Austausch mit dem Auswärtigen Amt“, sagt | |
Mukherjee. Wie viele Personen der DAAD als gefährdet gemeldet hat, möchte | |
er nicht sagen. In mehreren Fällen wisse man, dass die Evakuierung | |
erfolgreich war. Im Umkehrschluss heißt das aber: Der Großteil der | |
gefährdeten Studierenden und Wissenschaftler:innen sitzt weiter im | |
Land fest. | |
Für Löwenstein ist das schwer zu ertragen. Mit Beginn der Evakuierungen hat | |
er die Daten seiner Kolleg:innen über den DAAD an das Auswärtige Amt | |
weitergeleitet. Doch viele der Dozent:innen, die er ausgebildet hat und die | |
nun auf der ominösen Ausreiseliste stehen, befinden sich nicht in Kabul. | |
Sie sitzen in Masar-i-Scharif, Herat, Nangarhar oder Kandahar fest und | |
hatten von vornherein keine Chance, evakuiert zu werden. | |
## Bisher keine offizielle Visaregelung | |
Dass dies in der politischen Diskussion überhaupt keine Rolle spielt, macht | |
Löwenstein immer noch fassungslos: „Keiner meiner Leute ist ausgeflogen | |
worden“, sagt er. „Ich schäme mich dafür, dass wir unsere afghanischen | |
Partner, die heute gefährdet sind, weil sie mit uns zusammengearbeitet | |
haben, so [2][im Stich lassen].“ Löwenstein fordert, dass nun alle | |
ehemaligen Kooperationspartner, die es in ein Nachbarland an die Deutsche | |
Botschaft schaffen, schnell ein Visum für Deutschland erhalten. | |
Eine offizielle Regelung gibt es dazu bislang nicht. Außenminister Heiko | |
Maas (SPD) versprach am Montag, nun beginne die „zweite Phase“ der | |
Hilfsaktion. Bis zu 70.000 gefährdete Afghan:innen wolle die | |
Bundesregierung „so schnell wie möglich“ aufnehmen. Wie das konkret | |
gelingen kann, ist aber unklar. Auch im Auswärtigen Amt heißt es dazu vage: | |
„Dafür wird es Lösungen geben.“ | |
DAAD-Präsident Mukherjee begrüßt Maas’ Bemühungen. Man dürfe sich nicht … | |
Illusion hingeben, dass deutsche Hochschulen weiter vor Ort wirken könnten, | |
solange die Taliban an der Macht seien. Deshalb müssten die Bundesregierung | |
und die deutschen Hochschulen schnell eine Strategie entwickeln, wie sie | |
afghanischen Studierenden und Forschenden weiter zu Seite stehen könnten, | |
so Mukherjee. | |
Beispielsweise sollten bestehende Programme für gefährdete | |
Akademiker:innen von Bund und Ländern ausgebaut werden, schlägt der | |
DAAD-Präsident vor. | |
## Stipendienprogramme für verfolgte Wissenschaftler*innen | |
Eines dieser Programme, das gerade erst ins Leben gerufene und vom | |
Auswärtigen Amt finanzierte Hilde-Domin-Programm für Studierende und | |
Promovierende, könnte aufgestockt werden. „Dazu laufen gerade Gespräche“, | |
sagt Mukherjee. Er hofft auf einen zügigen Beschluss des neu gewählten | |
Bundestags. Dann könnten statt wie bisher geplant 50 vielleicht bald 100 | |
Personen an deutschen Hochschulen aufgenommen werden. | |
Zudem gibt es mit dem Philipp Schwartz-Stipendium seit 2015 ein ähnliches | |
Programm für verfolgte Wissenschaftler:innen. Über 300 Forscher:innen | |
aus 22 Ländern sind damit an eine deutsche Hochschule gelangt. | |
Ins Leben gerufen wurde die Initiative vom Auswärtigen Amt und der | |
Alexander von Humboldt-Stiftung unter dem Eindruck des syrischen | |
Bürgerkriegs. Gerade werde geprüft, wie man angemessen auf die Lage in | |
Afghanistan reagieren könne, teilt der zuständige Referent bei der | |
Humboldt-Stiftung, Frank Albrecht, der taz mit. | |
Das Scholars at Risk Network, ein Netzwerk von über 500 Hochschulen aus 38 | |
Ländern mit Sitz in New York, das sich für gefährdete Forscher:innen | |
einsetzt, fordert ein gemeinsames Vorgehen der EU bei der Aufnahme von | |
afghanischen Wissenschaftler:innen. Viele Hochschulen seien bereit, | |
Forschende aufzunehmen, wenn die EU legale Einreisemöglichkeiten schaffe | |
und die Finanzierung bisheriger Programme ausweite. | |
## Bisherige Programme „nicht ausreichend“ | |
Viele deutsche Hochschulen haben den Appell unterzeichnet. „Es wäre | |
natürlich super, wenn diese wichtigen Programme auch auf europäischer Ebene | |
laufen würden“, sagt eine zuständige Mitarbeiterin einer westdeutschen | |
Hochschule, die anonym bleiben möchte. „Für Krisenfälle wie jetzt in | |
Afghanistan sind die bisherigen Stipendienprogramme leider nicht | |
ausreichend.“ | |
So sieht das auch Wilhelm Löwenstein von der Ruhr-Universität Bochum. „Wer | |
nicht zufällig schon in Deutschland war wie ein paar Promovierende an | |
meinem Institut, hat sehr wahrscheinlich Pech gehabt.“ | |
1 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Lage-in-Afghanistan-verschaerft-sich/!5792626 | |
[2] /Hybris-des-Westens-in-Afghanistan/!5792568 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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