# taz.de -- Kunstprojekt „Made to Measure“: Bis du dich wiedererkennst | |
> Ist es möglich, einen realen Menschen anhand seiner Spuren im Netz | |
> nachzubilden? Das Kunstprojekt „Made to Measure“ hat den Versuch gewagt. | |
Bild: Konfrontation von Datenspender*in und Doppelgänger*in im Kunstprojekt �… | |
Der Ausgang von Experimenten ist offen. Und manchmal können sie auch | |
schiefgehen. [1][Ob das bei „Made to Measure“ der Fall ist,] wird hier | |
natürlich nicht verraten. Schließlich ist das Projekt von einer | |
Künstlergruppe namens Laokoon. Und bei dieser Gestalt aus der griechischen | |
Mythologie ist ja auch bis heute nicht ganz klar, was da wirklich gelaufen | |
ist. | |
Wie bei jedem Experiment ist auch bei „Made to Measure“ ohnehin eher der | |
Weg das Ziel. Also mitten rein in den (Selbst-)Versuch, [2][den jedeR | |
fortan machen kann]. Die Fragestellung ist so simpel wie kühn: Ist es | |
möglich, einen Menschen allein [3][anhand seiner Onlinedaten] nachzubilden? | |
Cosima Terrasse, Hans Block und Moritz Riesewieck probieren es aus. Sie | |
sind Laokoon und haben mit Daten schon ihre Erfahrung. Sie haben 2018 „The | |
Cleaners“ gedreht. Einen Film über die armen Schweine, [4][die für Facebook | |
die größten Entgleisungen einfangen sollen.] | |
Jetzt geht Laokoon noch einen Schritt weiter. „Es gibt Studien, die sagen, | |
es lässt sich anhand von Daten und Datenspuren im Netz feststellen, wer ein | |
Mensch ist“, sagt Moritz Riesewieck. Also hat sich Laokoon zum Ziel | |
gesetzt, aus den Daten eines bislang unbekannten Menschen eine | |
Doppelgänger*in zu schaffen und das Leben dieser Person bis ins Detail | |
nachzubauen. Und es dann von einer Schauspieler*in nachspielen zu lassen | |
und zu verfilmen. Im Pandemie-Sommer 2020 hat Laokoon via Social Media | |
Menschen dazu aufgerufen, bei Google und Facebook ihre persönlichen Daten | |
einzufordern. Anschließend gingen diese Daten anonymisiert an das Team. 102 | |
potenzielle „Datenspender*innen“ stellten sich zur Verfügung. Am Ende wurde | |
der Datensatz 25 auserkoren. Was aus „DS25“ wurde und wie das Ganze | |
abgelaufen ist, [5][lässt sich seit Sonntag auf der Website | |
madetomeasure.online mitverfolgen und nacherleben.] | |
Das ist große Datenkunst und unglaublich spannend. Es ist gleichzeitig auch | |
beängstigend und auf faszinierende Weise gruselig. „Wir wissen alle, dass | |
wir getrackt werden“, sagt Laokoon: „Wir wissen aber nicht, welche Daten | |
wir genau hinterlassen. Wir können es auch gar nicht wissen, weil wir keine | |
Kenntnisse darüber haben, wie Google diese Daten miteinander korreliert.“ | |
## Hightech ist gar nicht nötig | |
„DS25“ enthält die Daten von über fünf Jahre Leben eines Menschen – von | |
2015 bis 2020. Dabei hat sich Laokoon auf die Google-Daten dieser Person | |
beschränkt, die das Unternehmen laut EU-Gesetzgebung herausgeben muss. Das | |
macht mehr als 100.000 Datenpunkte „mit denen du als Privatmensch aber erst | |
mal gar nichts anfangen kannst“, sagt Riesewieck. Daher hat Laokoon mit | |
einer Berliner Datenanalystin zusammengearbeitet, die mit einer | |
semantischen Analyse bestimmte Themen eruiert und Worte oder Suchbegriffe | |
in verschiedene Kategorien und Lebensbereiche eingeteilt hat. Das ist, | |
bezogen auf die heutigen Möglichkeiten, nicht wirklich Hightech. | |
„Wir wollten zeigen, dass selbst ohne die vermeintlichen Wunderkräfte der | |
künstlichen Intelligenz aus den digitalen Spuren, die jede und jeder von | |
uns im Netz hinterlässt, verblüffend intime Ableitungen gezogen werden | |
können“, umreißt Laokoon den Ansatz. Letztlich fängt auch Google so an, | |
sagt Riesewieck: „Sie haben über 1.000 Kategorien, in den sie jede und | |
jeden von uns einordnen – auch mit sehr sensiblen Sachen wie beispielsweise | |
Interesse am Suizid.“ | |
Auf dieser Grundlage entwickelt Google dann seine Algorithmen. Bei Laokoon | |
übernimmt die Kunst eine Schauspielerin, die in die Rolle einer | |
Doppelgänger*in schlüpft. Wie der Rest des Teams hat auch sie nicht | |
mehr über die Person mit dem Datensatz „DS25“ gewusst als das, was in den | |
Daten stand. Mit diesen rekonstruierte Laokoon Stationen, Gefühle und | |
Krisen der Datenspender*in aus den untersuchten fünf Jahren. Zumindest | |
für Außenstehende wirkt das so eindringlich wie schlüssig. | |
Aber wie lässt sich überprüfen, ob dieses Leben aus Daten, diese digitale | |
Spurenlese glücken kann? Mit der Konfrontation von Datenspender*in und | |
Doppelgänger*in natürlich. Was etwas anspruchsvoller wird, wenn der | |
Mensch hinter „DS 25“ gar nicht bekannt ist. Laokoon hat aus dem Material | |
Instagram-Clips gemacht und gewartet, bis sich wer wiedererkennt. Ohne | |
spoilern zu wollen: Es hat geklappt, und die Begegnung von Original und ja, | |
was eigentlich? gehört zu den absoluten Höhepunkten von „Made to Measure“. | |
Eine Andeutung sei erlaubt: Wie im echtem Leben geht auch diese | |
Rekonstruktion nicht ohne Rest auf. Denn das Leben ist bunter als die | |
Daten. | |
## Wir sind die Ratten | |
Wer daraus jetzt allerdings zu viel Trost zieht, schaut bitte unbedingt | |
auch noch die Doku. Hier gehen Laokoon und renommierte internationale | |
Expert*innen der Frage nach, wem das Ganze nützt. Während der Ansatz von | |
„Made to Measure“ künstlerisch-philosophisch ist, geht es bei Google um | |
Kommerz, Kommerz, Kommerz. „Wenn die Menschen wirklich mitbekämen, was | |
Google alles aus ihren Daten ableiten kann, fänden sie das ziemlich | |
unheimlich“, sagt der französische Datenspezialist Guillaume Chabot. „Wir | |
sind sozusagen die Ratten, mit denen sie experimentieren“, so Chabot, der | |
auch für die Bill-and-Melinda-Gates-Foundation arbeitet: | |
Die Doku vertieft das an einem sehr eindrucksvollen Beispiel aus einem | |
höchst sensiblen Bereich. Gerade Menschen in Stresssituationen, bei | |
Krankheiten wie Depressionen oder Essstörungen, suchen nach Informationen | |
im Netz. Natürlich werden auch sie dabei getrackt. Eigentlich ist die | |
kommerzielle Nutzung solcher Ergebnisse verboten, doch alle im Film zu Wort | |
kommenden Expert*innen wissen, dass sie trotzdem stattfindet. Wer | |
beispielsweise nach Begrifflichkeiten rund um Essstörungen sucht, wird mit | |
Diättipps und Nahrungsergänzungsmittel-Reklame satt versorgt. Diese Werbung | |
wird also gerade denjenigen gezeigt, für die sie am gefährlichsten ist. | |
Doch wie das Experiment bleibt auch die Doku nicht in simplem Schwarz-Weiß. | |
So kommt auch der Google-Partner und Online-Anzeigen-Experte Patrick | |
Berlinquette zu Wort. Er ist der Meinung, dass unsere Datenspuren im Netz | |
auch positive Wirkung entfalten können. „Wir müssen mit der Denke aufhören, | |
dass Google ein Werkzeug ist, den Menschen Schrott anzudrehen“, sagt | |
Berlinquette. „Google – das ist die Sammlung der Gedanken der gesamten Welt | |
seit 20 Jahren. Und natürlich wird es benutzt, um den Menschen Schrott | |
anzudrehen. Aber es lässt sich so viel mehr damit machen“. | |
Er selbst hat es versucht [6][und ein viel beachtetes Essay in der New York | |
Times geschrieben.] Denn die Menschen vertrauen Google oft zumindest | |
indirekt an, wenn sie Selbstmord begehen wollen oder einen Amoklauf planen. | |
Kann diese Kenntnis helfen, hier positiv einzugreifen, fragt Berlinquette. | |
Er sagt von sich ganz selbstbewusst, er kaufe Google Ads, um Amokläufe zu | |
verhindern. Und wer nach „Suizid“ im Netz sucht, bekommt dank Berlinquette | |
Werbung angezeigt, die professionelle Hilfe anbietet. | |
Kann solcher Einfluss am Ende wirklich positiv für die Gesellschaft sein? | |
„Es erscheint erst einmal gruselig“, sagt Moritz Riesewieck, „kann aber | |
Sinn machen, und wir müssen es als Gesellschaft diskutieren.“ Solches | |
„Nudging“ kann Menschen ganz allgemein dazu bewegen, sich für | |
gesellschaftlich erwünschte Maßnahmen und Verhalten zu entscheiden. Das | |
könne zum Beispiel beim Kampf ums Klima helfen, meint Riesewieck. Denn die | |
Antworten aus dem Netz könnten zu klimafreundlicherem Verhalten anregen. | |
Die philosophische Frage, wie so etwas mit der individuellen | |
Selbstbestimmung zusammengeht, muss einstweilen offen bleiben. Eins jedoch | |
ist für Berlinquette wie das Laokoon-Team klar: Die Kontrolle über Daten | |
wie Empfehlungen darf keinesfalls Google allein haben. | |
Um festzustellen, wie viel Kontrolle und zum Teil intimstes Wissen über | |
jedeN von uns längst existiert, ist die rund einstündige Tour durch die | |
„Made to Measure“-Website ein guter Anfang. Dieser Teil des Experiments ist | |
in jedem Fall gelungen. Wer unterbricht und die Seite schließt, muss | |
übrigens beim nächsten Besuch von vorne beginnen. Denn diese Daten werden | |
ausnahmsweise mal nicht gespeichert. | |
30 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.srf.ch/kultur/dokumentarfilm-made-to-measure-eine-digitale-spur… | |
[2] http://www.madetomeasure.online | |
[3] /taz-Serie-Datenschutz-in-der-EU/!5506516 | |
[4] /Regulierung-von-Facebook/!5655993 | |
[5] https://www.info.madetomeasure.online/?lang=de | |
[6] https://www.nytimes.com/2019/07/07/opinion/google-ads.html | |
## AUTOREN | |
Steffen Grimberg | |
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