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# taz.de -- Flüchtlingshelfer über Abschiebungen: „Sie gelten als Verräter…
> 1.104 Menschen wurden seit 2016 nach Afghanistan abgeschoben. Sie werden
> als Feinde des Landes angesehen, warnt Flüchtlingshelfer Stephan Reichel.
Bild: Abschiebung aus Leipzig nach Kabul im Juli 2019
taz: Herr Reichel, wer sind die Menschen, die bis zuletzt noch aus
Deutschland [1][nach Afghanistan abgeschoben] wurden?
Stephan Reichel: Vom letzten Flug Anfang Juli von Hannover aus kenne ich
einige. Etwa einen jungen Mann aus Regensburg, der kurz vor seiner Hochzeit
mit einer deutschen Frau noch schnell abgeschoben worden ist. Einen anderen
Mann konnte ich in letzter Sekunde aus dem Flug holen, wahrscheinlich weil
der bayerische Ministerpräsident Markus Söder in diesem Fall interveniert
hatte. Ansonsten gibt es viele Menschen, die hätten abgeschoben werden
sollen, die wir aber durch juristische und andere Maßnahmen schützen
konnten. Es war auch noch ein Flug Anfang August von München aus geplant,
der aber gescheitert ist.
Wie beurteilen Sie die Abschiebungen angesichts der Lage im Land?
Als die Abschiebungen Ende 2016 wieder aufgenommen worden waren, erfolgte
dies schon [2][gegen alle Einschätzungen zur Sicherheitslage] in
Afghanistan. Die Taliban waren da bereits erstarkt und auf dem Vormarsch.
Und als absehbar war, dass sie auch auf die Hauptstadt Kabul vorrücken,
hielt die Bundesregierung weiterhin an Abschiebungen fest. Die Menschen
bangen dort nun um ihr Leben.
Wie viele Abschiebungen gab es?
Seit dem 14. Dezember 2016 fanden 40 Flüge mit 1.104 Menschen an Bord
statt. Jeder Flug kostete übrigens zwischen 300.000 und 330.000 Euro.
Wer wurde in den letzten Jahren zurück nach Afghanistan gebracht?
Darunter waren viele Menschen, die hier eine Ausbildung hätten anfangen
können, gut Deutsch sprachen und sehr gut integriert waren.
Handwerksmeister, Unternehmer oder Pflegeheimleiter werden dies bestätigen.
Doch die Politik hatte es vor allem auf Afghanen abgesehen, auch weil man
Syrer tatsächlich nicht abschieben konnte.
Bundesinnenminister Horst Seehofer und sein bayerischer Amtskollege Joachim
Herrmann betonten immer wieder, dass es sich hauptsächlich um Kriminelle
gehandelt habe.
Einige hatten Bagatelldelikte begangen wie Fahren ohne Führerschein,
Schwarzfahren oder ausländerrechtliche Dinge – etwa dass sie in ein anderes
Land gereist waren. Schwere Kriminelle oder gefährliche Straftäter, die
direkt aus der Haft abgeschoben wurden, gab es nur sehr wenige. Die große
Mehrheit war unbescholten.
Wurden durch Abschiebungen Familien zerrissen?
Es gab viele Abschiebungen von Jungen, die als Minderjährige mit der
Familie nach Deutschland gekommen waren. Die Eltern bekamen einen
Aufenthaltsstatus, die Kinder aber verlieren ihn, sobald sie volljährig
sind. Denn sie erhalten dann ein eigenes Asylverfahren – oft mit dem
Ergebnis, dass sie als nicht schutzbedürftig gelten. Da ereignen sich große
Dramen. Häufig waren diese Leute noch nie in Afghanistan, etwa weil sie im
Iran geboren sind und dann nach Deutschland kamen.
Wie musste man sich die Abschiebung nach Kabul konkret vorstellen?
Häufig kamen die Menschen zuvor in Abschiebehaft und hofften bis zuletzt.
Auf dem Weg zum Flugplatz und im Flugzeug waren sie die ganze Zeit an
Händen und Füßen gefesselt. In Kabul wurden sie von den afghanischen
Behörden erst einmal anständig empfangen, erhielten 100 Dollar
Begrüßungsgeld, wurden dann aber auf die Straße gesetzt und in die
Lebensgefahr entlassen. Meistens gibt es keine Familie dort. Viele
Abgeschobene sind obdachlos, sie schlagen sich irgendwie durch. Einige sind
dann einfach verschwunden.
Haben sich die Bundesländer unterschiedlich verhalten?
Ja, einige halten sich ganz raus wie etwa Bremen, das keine Afghanen
abgeschoben hat. Deutlich am aktivsten waren Bayern und Sachsen.
Was erwartet die Abgeschobenen nun von den Taliban?
Sie gelten als verdorben von der westlichen Kultur. Und als Verräter, weil
sie ja ihr Land verlassen hatten. Abgeschobene werden von den Taliban als
Feinde Afghanistans angesehen.
26 Aug 2021
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## AUTOREN
Patrick Guyton
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