| # taz.de -- Bilanz der Olympischen Spiele: Dauerwerbesendung aus der Blase | |
| > Es waren schwierige Spiele. Was vor allem gefehlt hat: Ein lebendiger | |
| > Austausch zwischen Publikum, Sportlerinnen und Sportlern. | |
| Bild: Komparse in Sapporo: IOC-Chef Bach mischt sich unter die Zuschauer:innen … | |
| Mitunter sind in Tokio beim größten Sportfest der Welt gespenstische | |
| Momente der Intimität entstanden. In der riesigen Kampfsporthalle Budōkan | |
| war das so, als einem Journalisten etwas auf den Boden fiel. Wenn die | |
| 14.000 Plätze mit Zuschauer:innen besetzt gewesen wären, hätte das trotz | |
| der guten Akustik wohl kaum jemand bemerkt. Aber so musste der Übeltäter | |
| doch etwas Sorge haben, dass der Karateka, der sich unten auf der Matte | |
| bereitmachte, gleich genervt nach dem Ruhestörer im obersten Rang Ausschau | |
| halten würde. | |
| Bei den Spielen in Tokio 1964 berauschten sich in dieser Halle die | |
| Zuschauer an den Kämpfen der in Japan so geschätzten Judoka. Die Japaner | |
| begeisterten sich überhaupt an jenen Spielen, und die Welt war von der | |
| modernen Metropole Tokio begeistert. Wie bei vielen großen Sportfesten | |
| kamen Schwingungen in Gang, die sich zu großen Amplituden aufbauten. Alle | |
| schienen Sender und Empfänger zugleich zu sein. | |
| Bei der [1][olympischen Neuauflage in Tokio] im Pandemieausnahmezustand gab | |
| es vor Ort dagegen nur Sender, deren Signale live lediglich von den | |
| TV-Kameras aufgesaugt wurden. Vor Ort selbst schien gefühlt immer irgendwo | |
| die Warnung im Raum zu schweben: „Bitte nicht stören! Hier finden | |
| Olympische Spiele statt!“ | |
| Die vereinzelten Anfeuerungsrufe von Teambetreuern verstärkten die | |
| Atmosphäre des Sonderbaren. Man wähnte sich vor allem in den ersten Tagen, | |
| als der Gewöhnungseffekt noch nicht eingetreten war, in einer Art | |
| Generalprobe, bei der die Protagonisten am Ende nicht einmal darauf | |
| verzichten wollten, den Jubel täuschend echt nachzustellen. | |
| ## „Die Atmosphäre war intensiver als je zuvor“ | |
| Es ist genau dieselbe Atmosphäre, die IOC-Chef Thomas Bach besonders | |
| nahegegangen ist. In seiner ersten Bilanz sagte er: „Die Atmosphäre war | |
| intensiver als je zuvor.“ So kann man das natürlich auch sehen. Zumal wenn | |
| man als oberster Lenker dieses Unternehmens alle zwei Jahre einen neuen | |
| Superlativ für die jüngsten Winter- und Sommerspiele finden muss, ganz egal | |
| von welchen Katastrophen und Machthabern die Gastgeberländer gerade geplagt | |
| werden. Dass dieser noch als Komparativ verkleidet war, kann eigentlich nur | |
| ein Versehen gewesen sein. | |
| Das Handwerk von Bach und den anderen IOC-Granden ist das Blenden, [2][das | |
| Handwerk der Athlet:innen das Ausblenden]. Beides hat sich in Tokio | |
| bestens ergänzt. Freilich hätten alle Teilnehmer:innen lieber vor | |
| Publikum ihr Bestes gegeben. Regelmäßig haben sie das auch am Rande der | |
| leeren Tribünen bekundet. „Bitter“, „traurig“, und „schade“ sei da… | |
| Vordergrund stand aber stets das Glück, den über viele Jahre anvisierten | |
| Wettkampf doch antreten zu können. | |
| Das lernen Leistungssportler:innen früh: Ausblenden, zielorientiertes | |
| Arbeiten, sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, was beeinflussbar | |
| ist. Das ist eine durchaus beeindruckende Qualität, nötigt sie einem doch | |
| eine Art Blasenleben ab, lange bevor es das Coronavirus überhaupt gab. | |
| Insofern waren die Athlet:innen prädestiniert dafür, das Pandemiekonzept | |
| dieser Spiele bestens ausfüllen zu können. | |
| Sie haben in ihrer Parallelwelt in Tokio großen Sport geboten und, was | |
| genauso zählt, große Geschichten. Was alle Teilnehmer dieses Events | |
| verbindet, sind ihre Erfahrungen im Extrembereich. Und diese Geschichten | |
| wirken nicht selten über den Sport hinaus inspirierend. | |
| ## Da stauen sich Emotionen | |
| Beseelt berichteten die Athlet:innen die letzten zweieinhalb Wochen von | |
| ihrer Olympiabegeisterung, dem faszinierenden Ambiente im olympischen Dorf, | |
| vor allem davon, dass die jahrelange Quälerei und der Verzicht auf so | |
| vieles für die um ein Jahr verschobenen Spiele doch noch belohnt wurde. Das | |
| ist mehr als verständlich, schließlich stehen viele unter enormem Druck. | |
| Berufskarrieren wurden verschoben, [3][Sponsoren] müssen zufriedengestellt | |
| werden. Mit den Athlet:innen hat oft ein größeres Umfeld sein Leben | |
| umgestellt. Da stauen sich viele Emotionen, die in Tokio dann zum Ausbruch | |
| kamen. Bach schwärmte: „Die Athleten haben diesen Spielen eine großartige | |
| olympische Seele verliehen.“ So kann man das natürlich auch sehen. | |
| Dass in diesem olympischen Leistungsbetrieb auch manche Seele unter die | |
| Räder kommt, hat die Turnerin und mehrfache Goldmedaillengewinnerin Simone | |
| Biles offenbart, als sie den Mut hatte, Wettkämpfe wegen ihrer schlechten | |
| psychischen Verfassung abzusagen. Mutig fand das selbst Bach. Besonders | |
| gefallen hat ihm, dass sie dennoch Sunisa Lee, ihrer Nachfolgerin als | |
| Olympiasiegerin im Mehrkampf, gratulierte. „Das ist olympischer Geist im | |
| besten Sinne.“ So kann man das natürlich auch sehen. | |
| Viel Zuspruch hat Biles im Internet bekommen. Welche Schwingungen aber | |
| hätte es für den Leistungssport und die Leidensgenoss:innen von Biles | |
| erst losgetreten, wenn ihr eine voll besetzte Halle bei diesen Spielen zur | |
| Seite gestanden hätte? Stattdessen hat in diesen Momenten die aseptische | |
| Atmosphäre in Tokio Probleme eher grell und unbarmherzig ausgeleuchtet. Und | |
| welche Schwingungen hätte ein großes internationales Publikum von Tokio aus | |
| in das Land tragen können? | |
| ## Die nächste Bubble bildet sich | |
| Mit ihren bürokratischen Pandemieschutzmaßnahmen haben sich die | |
| Organisatoren zu sehr in absurden Details verloren. Ansonsten war aber | |
| vieles perfekt durchdacht und das Engagement, die Freundlichkeit und | |
| Hilfsbereitschaft der unzähligen Volunteers ließ erahnen, welches | |
| Schwingungspotenzial diese Olympischen Spiele gehabt hätten. | |
| Es war eine wohl 13 Milliarden teure Machtdemonstration, wie krisenfest der | |
| olympische Sport ist, wenn es darum geht, sein Programm durchzuziehen. Bei | |
| den Winterspielen in nur einem halben Jahr in Peking wird man erneut aus | |
| einer abgeschlossenen Parallelwelt Signale nach außen senden. Die nächste | |
| Coronablase wird vorbereitet. | |
| In Peking wird gerade ausgetüftelt, wie sehr man die Bewegungsfreiheit der | |
| internationalen Medien, die immer so viel von schweren | |
| Menschenrechtsverletzungen in China gegen die Uiguren berichten, | |
| einschränken muss. Beim IOC ist man ebenfalls schon genervt von den Fragen | |
| nach den Uiguren. Man erklärte, in Japan wolle man dazu nichts sagen. | |
| Am Flughafen Haneda in Tokio haben sie für alle abreisenden Teilnehmer der | |
| Olympischen Spiele eine Stellwand angebracht, an der die | |
| Teilnehmer:innen der Spiele Wünsche und Botschaften auf kleinen Zetteln | |
| für die Japaner hinterlassen können. Eine letzte Gelegenheit, | |
| handschriftliche Grüße aus der einen Welt in die andere zu schicken. | |
| Thomas Bach würde wahrscheinlich sagen, diese voll beschriebene Wand | |
| beweise, dass das olympische Motto bei diesen Spielen, „United by Emotion“, | |
| aufgegangen sei. Das kann man allerdings auch anders sehen. Diese Wand kann | |
| man ebenso als ein Symbol dafür betrachten, dass sich der olympische Sport | |
| auf unabsehbare Zeit in eine Parallelwelt verabschiedet hat. Es ist nur zu | |
| hoffen, die Funktionäre finden dort an bestimmten Dingen nicht zu viel | |
| Geschmack. | |
| 8 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Johannes Kopp | |
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