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# taz.de -- Brandkatastrophe in der Türkei: Kritik an Staatsversagen verboten
> In der Türkei gab es bei Brandbeginn kein einsatzfähiges Löschflugzeug,
> nur große menschliche Solidarität. Kritik an der Regierung wird
> untersagt.
Bild: Auf der Fahrt durch zerstörte Wälder ist dieses Motorrad nahe der türk…
Ömer E. (aus Sicherheitsgründen anonymisiert) lässt seine Handykamera durch
eine große Halle in Bodrum, einem der Brandhotspots der letzten zehn Tage,
kreisen. Er zeigt Berge von Wasserflaschen, Lebensmittelkisten, aber auch
von neuen Schaufeln und neuen Feuerlöschern, die dort zu Hunderten
gestapelt sind. Diese Halle ist das von einer Privatinitiative errichtete
Krisenzentrum in der Urlaubsmetropole Bodrum.
Dort werden Spenden gesammelt, die den [1][Opfern der Brandkatastrophe]
zugutekommen sollen, aber auch Material wird bereitgestellt für freiwillige
Helfer, die sich an der Bekämpfung der letzten Brandherde in der Region
beteiligen wollen. Hunderte vor allem junge Leute haben sich hier in den
letzten Tagen engagiert und die oft hoffnungslos überforderte Feuerwehr
unterstützt.
Ohne all die freiwilligen Helfer, sagt Nihat G., der in Bodrum in der
Kommunalpolitik engagiert ist, wäre die Katastrophe noch weit schlimmer
ausgefallen. „Wir haben die Lücken gefüllt, die die Regierung bei der
Brandbekämpfung gelassen hat.“ Nicht nur in Bodrum, auch in Marmaris und
den Dörfern im Hinterland von Antalya waren beim Kampf gegen die Flammen
vor allem die Bevölkerung von vor Ort aktiv und Helfer, die aus allen
Teilen des Landes angereist sind. Nur so konnten etliche Dörfer noch vor
der völligen Vernichtung gerettet werden – und nur weil zivile Helfer
mithalfen, Schneisen rund um Dörfer zu schlagen, konnte an vielen Stellen
verhindert werden, dass die Brände auf die Häuser übergriffen.
Gelöscht werden konnten die meisten Großbrände an der türkischen
Mittelmeer- und Ägäisküste aber erst, als nach apokalyptischen zehn Tagen
endlich Löschflugzeuge aus dem Ausland eintrafen. „Uns haben sechs
Löschflugzeuge aus der Ukraine und Spanien gerettet“, berichtet am Telefon
Selçuk M. aus Bozburun, einem Fischerdorf südwestlich von Marmaris, dem
anderen Brandhotspot neben Bodrum.
## Nur noch eine graue Mondlandschaft
Die Urwälder in den zerklüfteten Bergen zwischen Marmaris und Datca sind in
den zehn Tagen, die der Staat die Leute vor Ort alleine gelassen hat,
weitgehend abgebrannt. „Du traust deinen Augen nicht“, erzählt Selçuk,
„wenn du die seit zwei Tagen wieder geöffnete Straße nach Marmaris
entlangfährst. Wo vorher grüne Wälder prunkten, ist jetzt nur noch eine
graue Mondlandschaft, in der die verkohlten Bäume wie Mahnmale einer
vergangenen Zeit stehen.“
Am Sonntagnachmittag brannten zwar an einigen Stellen weiter die Wälder,
doch die größten Brände im Raum Antalya, Marmaris und Bodrum sind
mittlerweile unter Kontrolle. Oft aber auch, „weil es nichts mehr gibt, was
noch brennen könnte“, wie Selçuk M. sagt. In Antalya hat am Samstag ein
heftiger Regen geholfen, die letzten Brandherde zu löschen. So weit ist es
in Marmaris und Bodrum noch nicht.
Doch nach 12 Tagen [2][verheerender Brände] sind nun endlich insgesamt 16
Löschflugzeuge, etliche Helikopter und besser koordinierte Bodenkräfte im
Einsatz. Sie kämpfen gegen die immer wieder neu aufflammenden Brände. Das
schlimmste sei wohl überstanden, meint Nihat G. aus Bodrum. Doch die
Menschen, die nun auf den Trümmern ihrer Existenz sitzen, sind unendlich
wütend über die mangelnde Hilfe aus Ankara.
„Wo waren unsere Löschflugzeuge?“, war die häufigste Frage in den
betroffenen Gebieten. Die Türkei hatte bei Amtsantritt der Regierung des
jetzigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan 2002 noch 16 intakte
Löschflugzeuge. Die verrotteten, weil die Betreiber der Luftflotte
angeblich der oppositionellen Partei CHP nahestehen.
Als die Katastrophe vor knapp zwei Wochen begann, besaß die Türkei deshalb
kein einziges einsatzfähiges Löschflugzeug. Statt auf die Fragen eine
Antwort zu geben, wurden die Kritiker mundtot gemacht. Die staatliche
Medienaufsicht verbot Fernsehsendern vielerorts zu filmen, angeblich um
keine „Panik zu verbreiten“. Zu Brandbeginn gab es den Hashtag „Help
Turkey“, über den zivile Unterstützung im In- und Ausland mobilisiert
wurde.
Gegen die Initiatoren wird jetzt wegen „Verunglimpfung der Türkei“
ermittelt – weil die Türkei „ein starkes Land ist und keine Hilfe braucht�…
wie ein Regierungssprecher sagte. Doch die Brände werden auch in der
politischen Landschaft ihre Spuren hinterlassen. Erdoğans Umfragewerte,
schon länger unter Druck, sind nach einem völlig missratenen Auftritt in
Marmaris vor einigen Tagen noch einmal abgesackt.
8 Aug 2021
## LINKS
[1] /Hitzewelle-und-Braende-in-Suedeuropa/!5786763
[2] /Waldbraende-im-Sueden-Europas/!5792074
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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Türkei
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