| # taz.de -- Unterschiede zwischen Berlin und München: Fremdscham fürs Feindes… | |
| > Auch wenn der Wegzug aus Bayern schon Jahre zurückliegt, ist man vor | |
| > Nostalgie nicht gefeit. Vor allem nicht bei Kontakt mit Berliner | |
| > Behörden. | |
| Bild: Notbetrieb! In einem Berliner Bürgeramt (Symbolfoto:)) | |
| Schockschwere Not, dachte ich, als ich diese Woche sah, dass #münchen auf | |
| Twitter trendete. Jetzt haben wir uns schon wieder unmöglich gemacht. | |
| Dieses „wir“ in Bezug auf die Stadt, in der ich geboren bin und die ersten | |
| 22 Jahre meines Lebens verbracht habe, hat sich in mir auch erst | |
| formuliert, als ich weggezogen war. Überall sonst aber, stellte ich bald | |
| fest, gilt München, diese mir immer etwas langweilige Stadt, in der ich | |
| trotz allem eine recht wilde Jugend verlebt hatte, als „Feindesland“. | |
| So nennen es manche unserer Verwandten aus Thüringen und Sachsen-Anhalt, | |
| und wenn sie zu Besuch kommen, stellen sie erstaunt fest, dass es | |
| „landschaftlich ja ganz schön“ ist. Ein Satz, den meine Münchner Familie | |
| inzwischen immer lachend zitiert, wenn wir irgendwo auf eine Ansammlung | |
| richtiger Unsympathen treffen. | |
| Der fragliche Twitter-Trend bezog sich gar nicht auf den jüngsten Fauxpas | |
| der CSU oder eine andere Söderei, sondern – viel schlimmer – auf [1][das | |
| Attentat im Olympiaeinkaufszentrum] (OEZ) vor 5 Jahren. Das trotz | |
| eindeutiger Hinweise – etwa fand der Anschlag am [2][Jahrestag des rechten | |
| Terrors von Utøya] statt, die Opfer hatten alle eine Migrationsgeschichte – | |
| vielen lange als Amoklauf galt, nicht als rechtsextreme Tat. | |
| Auch in meinem inneren Kompass steht OEZ nicht so wirklich in einer Reihe | |
| mit Halle, Hanau und Kassel, den anderen rechtsextremen Anschlägen der | |
| letzten Jahre – warum eigentlich nicht? Weil es noch länger als in | |
| Deutschland üblich gedauert hat, bis er als solcher anerkannt wurde? Und | |
| warum hab ich heute Morgen beim Radiohören über die Opfer von Utøya | |
| geweint, nicht aber über die von München? Oder anders: Warum hab ich mir | |
| den einen Beitrag angehört, den anderen aber nicht? | |
| Eigentlich ist es doch so: Nähe, ob räumlich oder aus irgendeiner gefühlten | |
| Verbundenheit heraus, verzerrt immer die Wahrnehmung, auch von Nachrichten. | |
| Aber ja eigentlich andersherum: Die [3][Überschwemmung] im Nachbardorf | |
| wühlt mehr auf als die am anderen Ende der Welt, genauso wie Menschen, die | |
| man liebt, immer ein bisschen schöner erscheinen, als sie sind. | |
| ## Bekloppter Boykott | |
| Nur bei den Behörden in Berlin ist man da schon weiter. Nähe gibt | |
| wenigstens hier keinen unsachgemäßen Vorteil. Es kommt einfach keiner rein. | |
| Da spielt Nähe schon mal gar keine Rolle. Mein Freund etwa ist kürzlich | |
| Vater geworden. Doch obwohl er bei der Geburt direkt neben mir stand, | |
| taucht er bisher nirgends als Vater auf. Und wird es, so will es das | |
| Berliner Beamtentum, auch in absehbarer Zeit nicht. | |
| „Notbetrieb!“, muffelte man, als ich – lange vor der Geburt – zaghaft | |
| fragte, ob man vielleicht, möglicherweise, einen Termin zur | |
| Vaterschaftsanerkennung … nein? „Sie hatten doch neun Monate Zeit!“, schr… | |
| es, diesmal spitz, aus dem Telefon, als ich es, naiv wie ich bin, neulich | |
| noch mal probierte. Worin die Not beim Betrieb genau besteht, traute ich | |
| mich gar nicht mehr zu fragen. Vermutlich hat es mit der besten Ausrede zu | |
| tun, die den Behörden jemals in den Schoß gefallen ist: [4][Corona]. | |
| Man würde die Bürger ja vorlassen, aber man darf halt nicht, schade. So | |
| könnte es ewig für sie weitergehen. Nicht nur in solchen Momenten, aber vor | |
| allem dann, sehne ich mich nach München zurück. Man wird mich hier als | |
| Law-and-Order-Freak schimpfen, vielleicht war ich das trotz ausgelassenem | |
| Lebenswandel qua Geburtsort ja auch schon immer – oder aber, und das | |
| vermute ich –, die Berliner Wurschtigkeit hat mich erst dazu gemacht. | |
| Blödheit geht nicht spurlos an einem vorüber, sie verändert einen auch. Ich | |
| weiß nicht, wie viele bekloppte Boykottaufrufe ich noch davon entfernt bin | |
| zu sagen: Die Siedlungen im Westjordanland sind doch gar nicht so schlimm! | |
| Einfach aus Entnervtheit und Trotz. Noch ist es nicht so weit, klar sind | |
| die ein Problem. Sehe ich so, sehen auch eigentlich alle Israelis, die ich | |
| kenne, so. | |
| Um die Rechte der Palästinenser geht’s aber leider weder den | |
| Matscheisherstellern von [5][Ben & Jerry’s], die sich diese Woche mutig mit | |
| dem Rücken zum Zeitgeistwind stellten und verkündeten, im Westjordanland | |
| und in Ostjerusalem nicht länger ihr Zeug zu verkloppen, noch anderen | |
| tapferen Schneiderlein, die gern billig als Menschenrechtsfreunde | |
| davonkommen wollen. | |
| Sich als Unternehmen oder auch privat dafür einzusetzen – bitte, immer | |
| gern. Aber nicht so verlogen und vor allem inkonsequent. Wenn, dann | |
| richtig, wenn, dann bitte mit dem selben Bohei erst recht kein Eis für | |
| Katar, die Krim oder alle andere Regionen, wo Menschenrechte – sehr viel | |
| drastischer als in Ostjerusalem! – missachtet werden. | |
| Das würde dann halt den Umsatz merkbar schmälern und außerdem – wie gesagt | |
| – geht’s nicht um Menschenrechte, sondern nur darum, den Hass auf Israel | |
| mal wieder neu und noch ein bisschen smarter (weil’s ja diesmal nur um die | |
| besetzten Gebiete geht) zu verpacken. Trendet eben ganz gut wieder | |
| zurzeit, nicht nur auf Twitter. | |
| 24 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ariane Lemme | |
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