# taz.de -- Corona und wieder in Gesellschaft sein: Auftauversuche in der Pande… | |
> Viele tun gerade so, als wäre Corona-Time-out, manche werden dabei | |
> rücksichtslos. Die Autorin hat indessen verlernt, in Gesellschaft zu | |
> sein. | |
Bild: Manche tauen langsamer auf: Stadtpark Schöneberg in Berlin | |
Neulich saß ich in der Alten Nationalgalerie auf einer gepolsterten Bank | |
und versuchte, mich langsam aufzutauen. Ich starrte auf ein dunkles | |
Gemälde, dessen Motiv ich ein paar Stunden später wieder vergessen hatte. | |
Und vor allem wartete ich darauf, dass etwas passiert, was mir einen | |
erfolgreichen Auftauprozess bescheinigen würde. Nun bin ich ja nicht | |
eingefroren. Aber ich glaube, ich habe während der Pandemie verlernt, wie | |
das ist, wirklich in Gesellschaft zu sein und nicht nur über sie | |
nachzudenken. | |
An diesem Tag war ich mit dem Gefühl aufgewacht, dass es jetzt endlich mal | |
Zeit ist, das passive Abwarten zu verlernen nach dem Jahr der | |
Zurückgewichenheit (gewichen, nicht gezogen, zum Ziehen war ich gar nicht | |
stark genug). Schließlich [1][gehen Leute jetzt wieder auf Raves] und | |
fahren in den Urlaub und schließlich ist Sommer und [2][das mit den | |
Impfungen geht einigermaßen voran] und schließlich ist nur wenig Zeit, bis | |
die Inzidenzen im Herbst wieder größere Einschränkungen erfordern werden. | |
Wir tun gerade so, als wäre Pandemie-Time-out, obwohl das natürlich eine | |
Lüge ist. | |
Manche werden dabei leichtsinnig, andere absolut rücksichtslos und ein paar | |
Tausend [3][sind weiterhin komplett anstandslos und gefährlich]. Aber viele | |
andere versuchen auch nur, sich mit Maske und gewaschenen Händen in einen | |
Neuzustand hineinzutasten, der etwas Gelassenheit erlaubt. | |
Ich saß also in einem Innenraum, um dem Außen näherzukommen, und wartete | |
auf ein Zeichen, obwohl das sehr kitschig klingt. Andererseits saß ich in | |
einem Raum voller Gemälde in kitschigen Goldrahmen und ich hab es gern, | |
wenn die Dinge zusammenpassen. Und weil es fast unmöglich ist, an nichts zu | |
denken, wenn man auf etwas wartet, dachte ich an alles. | |
## Kein Zeichen | |
An die Klimakrise, weil auf einem Bild etwas weiter rechts ein | |
orange-gelber Sturm über dem Meer zu sehen war. An Impfangebote für | |
Jugendliche, weil eine Gruppe Schüler:innen in High-Waist-Jeans an mir | |
vorbeizog. An das angebliche Comeback der Low-Waist-Jeans, wegen der | |
High-Waist-Jeans. An „Rückkehr nach Birkenau“ von Ginette Kolinka, weil | |
Gerhard Richters Birkenau-Zyklus hier auch irgendwo zu sehen sein musste. | |
An das ständige Herbeifantasieren von „Bubbles“, weil ein Kind neben mir | |
hingebungsvoll an großen Kaugummiblasen arbeitete. An meine Mutter, weil | |
ich dauernd an meine Mutter denke. An Männer und Macht, weil die meisten | |
ausgestellten Werke hier von Männern waren. Eigentlich war es fast wie im | |
Internet, oder an einer Bushaltestelle. Alle Orte sind austauschbar, wenn | |
man wartet. | |
Es ist nichts passiert, kein Zeichen. Irgendwann setzte sich eine Frau mit | |
sehr weißen Haaren neben mich auf die Bank, neigte ihren Kopf in meine | |
Richtung und sagte. „Hier ist’s so düster, schauen Sie lieber auf einen | |
Manet.“ Ich fand das sehr klug und wollte den Flieder finden – und obwohl | |
noch nicht wirklich Tauwetter war, fühlte sich Suchen schon viel besser an | |
als Warten. | |
4 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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