# taz.de -- Fotoausstellung im Märkischen Museum: Seit 150 Jahren im Kreis | |
> „Stillgelegt. West-Berliner S-Bahnhöfe in den 1980er Jahren“ zeigt | |
> fotografische Arbeiten von Fons Brasser. Anlass ist das Jubiläum der | |
> Ringbahn. | |
Bild: Fons Brasser: S-Bahnhof Westend | |
Erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht. Westberlin war mal wirklich | |
etwas Besonderes. Ein Gebiet mit Vier-Mächte-Status, eine Stadt geteilt mit | |
einer Mauer und eine S-Bahn, die von einem Unternehmen namens [1][Deutsche | |
Reichsbahn] betrieben wurde, das im Grunde ein Staatsbetrieb der DDR war, | |
aber in der „selbstständigen politischen Einheit Westberlin“, so der | |
Ostjargon, den öffentlichen Personennahverkehr betrieb. | |
Diese hoheitliche Anomalie war auch der Grund, warum nach dem Mauerbau die | |
Fahrgäste der S‑Bahn in „Berlin (West)“, so der Westjargon, immer weniger | |
wurden. Die S-Bahn zu benutzen, hätte ja bedeutet, den Kommunismus zu | |
subventionieren. | |
Da die wenigen Einnahmen der S-Bahn im Westteil Berlins die Kosten dort in | |
keinster Weise decken konnten, die Westbelegschaft bei der S-Bahn auch noch | |
(teilweise) in Westmark bezahlt werden musste, verkam das einst so moderne | |
und leistungsfähige System der S‑Bahn immer mehr. Strecken wurden | |
stillgelegt, Geisterbahnhöfe entstanden. | |
Manches – wie verloren in Zeit und Raum – sieht heute immer noch so aus, | |
wie vor über 30 Jahren. Zum Beispiel der S-Bahnhof Wernerwerk/Siemensbahn – | |
nämlich stillgelegt. „Stillgelegt“ lautet auch der Titel einer eher kleinen | |
aber höchst interessanten Ausstellung im Märkischen Museum. Wer im Museum | |
gezielt danach sucht, sollte besser das Personal fragen, um den kleinen | |
gewölbten Raum im Sockelgeschoss des Gebäudes zu finden, der als | |
„Fotografisches Kabinett“ benutzt wird. | |
## Serie stillgelegter Bahnhöfe in Westberlin | |
Der großformatige Schwarz-Weiß-Abzug des Wernerwerks von 1983 ist hier Teil | |
einer ganzen Serie von – natürlich analog aufgenommenen – Fotos zu den | |
Berliner S‑Bahnhöfen. Der niederländische Künstler und Fotograf Fons | |
Brasser, Jahrgang 1944, hat sie in den achtziger Jahren aufgenommen. | |
Brasser ist damals bei seiner Serie streng konzeptuell vorgegangen. | |
Denn er hat sämtliche 59 stillgelegte Bahnhöfe im Westberliner Stadtgebiet | |
fotografiert und zwar jeweils mit zwei Aufnahmen, einer zum Eingangsgebäude | |
und einer zu den Bahnsteigen. Die neun Doppelportraits beziehungsweise 18 | |
Fotos in der aktuellen Ausstellung sind also nur ein Teil des eigentlichen | |
Werkes, das man konzeptuell durchaus in die Nähe der [2][berühmten | |
Düsseldorfer Becher-Schule] stellen kann, auch was die gesuchte | |
Sachlichkeit bei durchweg bedecktem Himmel angeht. | |
Der morbide Charme der verlassenen Bahnsteige und der bröckelnde Putz der | |
Wände hat seinen eigenen Reiz, vor allem dann, wenn heute das Stadtbild | |
ganz anders aussieht. Die achtziger Jahre, man sieht es auch an diesem | |
speziellen Beispiel, waren in Berlin immer noch Nachkriegszeit, und | |
insbesondere der Westteil wirkte vielerorts wie auf einem toten Gleis. | |
Gerade bei den vielen durch die Mauer unterbrochenen Bahnlinien und den | |
aufgegebenen Bahnhöfen war das nicht bloß eine Metapher. | |
Vieles auch bei den von Brasser fotografierten S‑Bahnhöfen sieht heute | |
wirklich anders aus. Manches ist ganz verschwunden wie der Bahnhof | |
Siemensstadt/Fürstenbrunn, von dem nichts mehr geblieben ist, – nicht die | |
typischen Stationshäuschen, nicht die genieteten Stahlträger für das Dach | |
auf dem Bahnsteig und nicht der eher schlichte Eingang. | |
## 1984 übernahm die BVG | |
1980 reagierte die Reichsbahn auf einen Streik der S‑Bahner im Westen mit | |
Kündigungen und der Reduzierung der S-Bahn-Linien von zehn auf drei. 1984 | |
übernahm die BVG den Betrieb im Westen – bis zur Wiedervereinigung auch bei | |
der S‑Bahn im Zeichen der „Deutschen Reichsbahn“. | |
Viele der nach dem Streik von 1980 stillgelegten S‑Bahnhöfe im Westteil | |
Berlins sind inzwischen wieder in Betrieb genommen worden. Die verrammelten | |
Tore am Bahnhof Heiligensee, die Brasser fotografiert hat, sind Geschichte, | |
der Bahnhof Beusselstraße ist heute allerdings ein anderer. | |
Viele der einst identitätsstiftenden Architekturen von den solide | |
gemauerten Bahnhofsgebäuden bis hin zu den alten gusseisernen Stützen auf | |
dem Bahnsteig sind verschwunden – etwa der Bahnhof Papestraße (heute | |
Südkreuz). Das imposante Empfangsgebäude des Ringbahnhofs Westend wird | |
heute anders genutzt. | |
Empfangen wird der Reisende auf heutigen S‑Bahn-Stationen meist mit | |
schlichter Funktionalität inklusive ungemütlich-greller Beleuchtung. Man | |
betrachtet daher manches auf Brassers Aufnahmen mit Wehmut darüber wie der | |
sogenannte Fortschritt vieles ausgelöscht hat – Architekturen aber auch | |
Stimmungen, die heute in der Stadt immer weniger wahrnehmbar werden. | |
## Ringbahn feiert Jubiläum | |
Die von Museumsdirektor Paul Spies höchst selbst eingefädelte Ausstellung | |
seines Landsmannes Fons Brasser ist auch als Beitrag zum Jubiläum der | |
Ringbahn gedacht. Vor 150 Jahren begann der Betrieb des damals noch nicht | |
ganz geschlossenen Rings. Im Märkischen Museum wirkt der Ausstellungsraum | |
wie ein Teil der größeren, gerade laufenden Ausstellung zur Gründung | |
Groß-Berlins 1920. Der öffentliche Verkehr spielte (im Werden) der | |
Großstadt Berlin natürlich eine essentielle Rolle. | |
Die ihrer eigentlichen Funktion beraubten S-Bahnhöfe, wie sie Brasser | |
fotografiert hat, bieten jetzt Gelegenheit, noch einmal auch über scheinbar | |
beim ÖPNV so nebensächliche Dinge wie Ästhetik nachzudenken und | |
nachzuspüren. Denn die kommt nicht nur dort meist zu kurz. | |
3 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ronald Berg | |
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