# taz.de -- Nautilus-Gründerin über ihr Arbeitsleben: „Es war schön, aber … | |
> Jahrzehntelang verantwortete Hanna Mittelstädt den Hamburger Verlag | |
> Edition Nautilus. Dann verschenkte sie ihn an ihr Team. | |
Bild: Arbeitet nun selbst als Schriftstellerin: Hanna Mittelstädt | |
taz: Frau Mittelstädt, wie schaffen Sie es, Ihre Nachfolgenden einfach | |
machen zu lassen, im Verlag Edition Nautilus, den Sie gegründet haben? | |
Hanna Mittelstädt: Ein schönes Thema. Denn ich bin voller Freude | |
ausgestiegen. Bei mir ist es ja speziell: Ich habe schon mit 21 Jahren | |
angefangen, in diese Mühle hineinzuwachsen, zusammen mit Lutz Schulenburg | |
und Pierre Gallissaires. Wir haben uns um die Jahreswende 1971/72 im | |
Hamburger Anarchisten-Keller kennengelernt. | |
Der war wo? | |
Im Karolinenviertel, in der Karolinenstraße, Ecke Marktstraße. Dort im | |
Keller traf sich die Subkultur und einmal in der Woche kam die | |
Anarcho-Gruppe zusammen. Schwarz! Alles war schwarz gestrichen. | |
Was hat Sie verbunden? | |
Pierre war 20 Jahre älter, er war Anfang 40. Er hatte 1968 den Pariser Mai | |
mitgemacht, war so frustriert von seiner Niederschlagung und wollte nicht | |
mehr in Frankreich leben. Er wollte einen Bruch in seinem Leben. Und nun | |
hatte er die jungen anarchistischen Genossen in Hamburg aufgesucht und | |
dachte: Hier gibt es noch einiges zu tun, die wissen ja gar nichts! | |
Da muss mal Grund rein! | |
Sehr gut gesagt. Da musste mal Grund rein … Bei Lutz traf er sofort auf | |
absolute Liebe, der hatte gerade seine Prüfung als Dekorateur nicht | |
bestanden. Er hat eigentlich alle Prüfungen nicht bestanden, der erste | |
Bildungsweg war bei ihm gescheitert und er fand es super, dass es eine neue | |
Möglichkeit gab, zu lernen. Die beiden haben gleich gesagt: Wir müssen | |
unbedingt veröffentlichen. Texte der Räte-Kommunisten, Texte der | |
Situationisten, es war eine große Lust, die Traditionslinien wieder zu | |
entdecken, die in Deutschland auch durch den Faschismus zerstört worden | |
waren. | |
Warum war gleich das Veröffentlichen so wichtig? | |
Pierre war Deutschlehrer gewesen, er sprach akzentfrei Deutsch, er liebte | |
auch die deutsche Sprache, und er liebte es, von der einen in die andere | |
Sprache zu wechseln und zu schauen, wie das geht. Für Lutz war die | |
Entdeckerfreude so groß und die Frage war: nur diskutieren? Da muss doch | |
mehr sein. Sie haben angefangen mit einer kleinen Zeitschrift, mit | |
Broschüren, alle selbst kopiert. Ein Verlag als solcher war zunächst nicht | |
im Blick. Es ging darum, Dokumente für die Bewegung, für die Genossen und | |
Genossinnen zur Verfügung zu stellen. Wobei man sagen muss: Meistens für | |
die Genossen, denn es waren wenig Frauen dabei. | |
Das Politische wurde auch privat, oder? | |
Lutz und ich haben uns gleich ineinander verguckt. Nach 14 Tagen wurden wir | |
ein Paar, nach weiteren 14 Tagen zogen wir zusammen. | |
So schnell? | |
Ja. Und dann gab es bei uns in der Wohnung einen großen Tisch und da wurde | |
verlegt. Lutz ist in einen linken Buch-Vertrieb gegangen und ich in eine | |
linke Buchhandlung, in ein Kollektiv, beide in der Unigegend. Und da haben | |
wir uns langsam professionalisiert. | |
Wie macht man das, Bücher? | |
Es war damals so, dass die ganz Jungen einfach mitgenommen wurden von | |
denen, die schon etwas mehr wussten. Wir haben uns nicht hingesetzt und | |
gesagt: Wir machen jetzt einen Verlag und melden uns als erstes beim | |
Handelsregister an. | |
Sie sind nicht zur Handelskammer gegangen und haben sich beraten lassen? | |
Das haben wir zehn Jahre später gemacht, da hatten wir also schon geübt. | |
Ich habe dann ein Existenzgründungsdarlehen über die Handelskammer | |
aufgenommen, denn wir wollten damals den Schritt machen, vom Verlag zu | |
leben. Das haben wir am Anfang nicht gemacht. | |
Langsam kamen die Erfolge? | |
Wir hatten viele mittelprächtige Erfolge. Unser erster richtiger Erfolg war | |
‚Dinner for One‘. Da haben wir, in Absprache mit dem NDR-Fernsehen, den | |
Text in Buchform publiziert, das war ein Coup und verkaufte sich eine | |
Zeitlang super. | |
Dann kam der Krimi „Tannöd“. | |
Eine Million verkaufte Exemplare! Also 500.000-mal als Hardcover, dann | |
500.000-mal als Taschenbuch, dazu Nebenrechte jeder Art. Damit konnten wir | |
das Haus kaufen, in dem jetzt unten im Erdgeschoss der Verlag ist und in | |
dem oben die Wohnung ist, in der wir jetzt sitzen. Dieser Erfolg war ein | |
Geschenk, war wirklich ein Glücksfall, denn wir hatten darauf nicht | |
spekuliert. Aber dann war der Erfolg auch sehr anstrengend für unseren | |
kleinen Verlag. | |
Was war schwierig? | |
Wir waren nicht auf einen Beststeller vorbereitet, der monatelang auf den | |
Bestseller-Listen stand. Wir hatten weder die Manpower noch die digitale | |
Ausrüstung, das allein vertriebstechnisch zu stemmen. Wir machten ja das | |
meiste händisch, wir hatten die einfachste Buchhaltung. Es war der helle | |
Wahnsinn – und so war dieser Erfolg auch eine Art Fluch. | |
Inwiefern? | |
Ich weiß noch ganz genau, wie ich hier auf dem Balkon saß und sagte: Lutz, | |
wir müssen jetzt mal langsam raus! Denn ich hatte eigentlich so gut wie nie | |
Freizeit. Ich musste mir alles andere aus den Rippen schneiden – wenn ich | |
mal zum Chor wollte oder mal wandern wollte. Ich habe tagsüber die | |
Verwaltung gemacht und abends oder am Wochenende die Lektorate. Manchmal | |
bestand das Lektorat darin, dass man aus lauter dilettantischen Vorgaben | |
versuchte, etwas zu bauen, aus Übersetzungen von Freunden – und dann allein | |
die Umfänge: Unsere Durutti-Biografie umfasst fast 1.000 Seiten, die von | |
Che Guevara immerhin 600 Seiten, das entsprechend zu lektorieren, das ist | |
wirklich Arbeit. | |
Der Bruch, der Einschnitt, Anfang Mai 2013, war dann sehr hart? | |
Aufhören, abgeben, Lutz konnte das nicht. Er hatte eine Gehirnblutung und | |
ist ein paar Wochen danach gestorben. Für mich war sofort klar: Ich mache | |
diese Arbeit auf keinen Fall immer so weiter. Lutz und ich haben immer alle | |
Entscheidungen mit den anderen zusammengetroffen. Nun hatte ich den Verlag | |
geerbt und ich habe zu unseren vier Mitarbeiterinnen und dem einen | |
Mitarbeiter gesagt: ‚Ich bin jetzt nicht eure Chefin, ich habe keine Lust | |
dazu, ihr macht das sowieso und ihr könnt das jetzt haben‘, und ich habe | |
ihnen den Verlag einfach so übergeben – habe ihn ihnen geschenkt. | |
Das ist nicht selbstverständlich, dass die Nachfolgenden auch wirklich | |
uneingeschränkt das machen können, was sie machen wollen. | |
Es gab eine Übergangszeit, bis die neue GmbH gegründet wurde. Wir haben | |
noch gesagt: ‚Ach, ich könnte doch Senior Publisher sein.‘ Aber ich muss | |
dir sagen: Wenn man das Verlegen so persönlich genommen hat wie wir und wie | |
ich, da ging das nicht. Das war mir auch zu schmerzhaft, zu sehen, wie | |
anders es die andern machen. | |
Was machen denn die jungen Verlegerinnen anders? | |
Da fällt um 18 Uhr der Stift. Da gibt es Urlaubszeit. Es gibt ein | |
geregeltes Gehalt, die sind angestellt. | |
Das kannten Sie nicht? | |
Nein. Und ich habe schnell gemerkt: Am besten lasse ich sie einfach machen. | |
Sie bekommen den Verlag geschenkt, und ich bekomme als Geschenk, dass sie | |
den Verlag übernehmen. Ich bin dabei, eine Stiftung zu gründen, die sich um | |
die Traditionslinien des alten Verlags kümmern wird, die Lesungen, | |
Aufführungen, vielleicht Tagungen veranstaltet. Mir wichtige Bücher aus dem | |
einstigen Nautilus-Programm werde ich woanders unterbringen, sofern sie | |
nicht bei der neuen Nautilus bleiben können – die neue Crew ist also | |
wirklich frei. | |
Was geschah danach? | |
Ich bin geradezu explodiert vor Aktivität. Ich habe Lesungen veranstaltet, | |
mit den mir wichtigsten Autoren aus unserem Programm. Ich habe tolle | |
Schauspieler kennengelernt, wie Jörg Pohl und Corinna Harfouch, und habe | |
einige Autoren und vor allem die Inhalte noch mal in einer anderen Form der | |
Öffentlichkeit vorgestellt, im Theater, szenisch. Robert Stadlober hat | |
Franz Jung in einer Revue im HAU in Berlin gespielt, die Band Die Sterne | |
hat dazu Musik gemacht, nur als Beispiel. Es waren tolle Aufgaben für mich. | |
Fragen Sie sich manchmal: Wie haben wir das all die Jahre bloß geschafft, | |
rein kräftemäßig? | |
Ich erinnere mich sehr genau, dass wir immer am Limit waren und ich oft | |
auch an meinem persönlichen Limit. Und die Unprofessionalität, auf die ich | |
stoße, wenn ich zurückblicke, die ist hin und wieder schwer erträglich. Ich | |
weiß nicht, ob die jungen Leute das heute auch noch so machen würden. Ob | |
die nicht gleich zur Handelskammer gehen und die Regeln einhalten. Wir | |
haben ja auch versucht, unsere eigenen Regeln zu schaffen. | |
Nichts aus der Hand geben, alles selbst regeln, hat das einen Preis? | |
Ich sitze an unserer Verlagschronik, schaue immer wieder in die knapp 40 | |
Korrespondenzordner, wo auch all die Konflikte abgebildet sind: die | |
zwischen Verlag und Autoren, zwischen Verlag und Vertrieb. Die Vertriebe | |
gingen bei uns reihenweise pleite, die Konflikte zwischen Verlag und den | |
Vertretern. Und ich lese da, wie wir all die Konflikte nie professionell zu | |
lösen versuchten, sondern immer persönlich. Wir trafen uns in unseren | |
kleinen Räumen, mit selbstgemachtem Kartoffelsalat, alle rauchten und alle | |
soffen, was das Zeug hielt – das war schön und war natürlich auch die | |
Hölle. Aber: Wir konnten unsere „emotionalen Wallungen“ nicht ausschalten. | |
Und die trage ich jetzt in meine neuen Projekte. | |
Es geht also weiter? | |
Ich werde jetzt ja 70 und bin wahnsinnig froh, dass ich nun wirklich etwas | |
anderes machen kann. Ich finde es für Lutz schade, dass er es nicht konnte. | |
Andererseits: Er kam so von unten. Er hatte in Deutsch eine Fünf, er war | |
Legastheniker, er ging in Hamburg-Bergedorf in eine provinzielle | |
Volksschule, wo die Lehrer noch mit Schlüsseln warfen und wo er nur der | |
schlechte Schüler war. Und dann hat er so viel gelernt, wurde erst der | |
rebellische, aber dann der anerkannte Verleger, den die Kollegen | |
ehrfürchtig fragten: 'Herr Schulenburg, Ihre verlegerischen Erfolge, wie | |
haben Sie die hinbekommen?’ Diese Rolle hat er sehr genossen. | |
Man muss ein gutes Fundament haben, um einen neuen Weg einzuschlagen? | |
Mir fällt es wirklich leicht, abzugeben, aber mir ist auch bewusst, dass | |
ich aus einer anderen Situation komme: Meine Eltern waren zwar keine | |
Akademiker, aber sie gehörten zu denen, die nach dem Krieg in den | |
Mittelstand aufgestiegen waren. Lutz’ Eltern waren unten geblieben: Seine | |
Mutter stand an der Heißmangel, sein Vater saß als Verkäufer mit | |
Genehmigung seines Jagdkollegen in einem Kaufhaus in der Jagdabteilung. | |
Wie geht es Ihnen heute als Schriftstellerin? | |
Ich habe schon früher literarisch geschrieben, auch veröffentlicht, kleine | |
Texte, Schnipsel, das war eine Art Selbstrettung. Und jetzt habe ich das | |
Gefühl: Ich möchte auf meine Art ausdrücken, was mir wichtig ist. Mein | |
Roman „Blue“ ist autobiografisch, aber ich will darin nicht nur diese eine | |
Liebesgeschichte erzählen, sondern meine kumulierten Erfahrungen mit der | |
Liebe zum Ausdruck bringen. Franz Jung, dieser Schriftsteller, der unseren | |
Verlag so tief geprägt hat, hat mal gesagt: Die Aufgabe von Literatur ist | |
es, die Seelen zu kneten – was mir sehr gefällt. Und das habe ich in dieser | |
Liebesgeschichte versucht, und in der Erzählung über den Verlag mache ich | |
das in einem größeren Format. | |
Sie wirken sehr zufrieden. | |
Ich muss nicht auf den Markt, ich muss nicht ins „Spektakel“. Ich mache | |
jetzt im Herbst ein paar Lesungen und freue mich natürlich, wenn ein paar | |
Leute kommen. Und dann mache ich wieder was anderes. | |
27 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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