| # taz.de -- Italien ist Europameister: Der gekaperte Fußball | |
| > Mit aller Macht wurde das EM-Turnier durchgepaukt. Nun ist es vorbei, die | |
| > Uefa kann ihr Geld zählen. Doch wofür wurde das alles gemacht? | |
| Bild: Das neue Gesicht des Fußballs: Italiens Nationalmannschaft feiert den EM… | |
| Irgendeine Lehre hält ja der Fußball immer bereit. Wenn elf gegen elf junge | |
| Männer im Namen ihrer Staaten nach Regeln, die etwa so alt sind wie die | |
| bürgerlichen Nationen, gegeneinander antreten, um den Besten zu ermitteln, | |
| steht immer ein großes Stück ihrer Gesellschaft auf dem Platz. Dieses Mal | |
| scheint die Lehre jedoch nur zu lauten, dass Italien am Ende irgendwie | |
| immer gewinnt. Und [1][dass England keine Elfmeter] schießen kann. Wenn das | |
| die Essenz dieses Finales um die Europameisterschaft gewesen sein soll, das | |
| am Sonntag in London ausgetragen wurde, dann können wir diese EM gleich | |
| ganz abhaken. Und den ganzen Sport gerade mit. | |
| Soll das Ergebnis dieses Mega-Events nun, im Jahr 2021, tatsächlich bloß | |
| lauten, dass Italien gewinnt und England Elfmeter verschießt? Dafür hat der | |
| europäische Fußballverband Uefa nationale Regierungen erpresst, mehr Leute | |
| ins Stadion zu lassen, als gesundheitspolitisch vertretbar ist? | |
| Dafür wurde propagandistisch für ein „paneuropäisches“ Turnier in elf | |
| Städten getrommelt, das doch eher wie ein [2][pandemisches] daherkam? Das | |
| ganze Gedöns, den Menschen ein „Stück Normalität“ zurückgeben zu wollen, | |
| die ganze Lüge, es sei doch „nur Fußball“, der „nichts mit Politik“ z… | |
| habe? Bloß, damit die Uefa auf Teufel komm raus ihr gleichermaßen | |
| umstrittenes wie profitables Turnier austragen kann, weil sie an die | |
| Sponsoren- und Fernsehgelder ran will? | |
| Ja. Zumindest scheint es so, dass mithilfe enormen politischen und | |
| ökonomischen Drucks die Lehre durchgesetzt werden sollte, dass Fußball | |
| nichts anderes als irgendein Spiel sei. Für diese fragwürdige Botschaft hat | |
| die Uefa mehr Macht mobilisiert, als sämtliche nationalen Regierungen | |
| Europas besitzen, Aserbaidschan und England inklusive. | |
| ## Das Ende eines Sports, der Solidarität gelehrt hat | |
| Dieses Turnier war nicht nur wegen der Pandemie und der bis heute immer | |
| noch nicht überschaubaren gesundheitlichen Gefährdung von Zuschauenden, | |
| Betreuern und Spielern sehr umstritten. Es war auch nicht nur deswegen | |
| höchst fragwürdig, weil der Erfinder dieser EM, die in keinem Staat | |
| stattfinden soll, Michel Platini, bald wegen Korruption zurücktreten | |
| musste. Diese Europameisterschaft markiert auch deswegen einen traurigen | |
| Tiefpunkt in der Geschichte dieses schönen Sports, weil von Uefa über | |
| Sponsoren bis hin zu assistierenden nationalen Regierungen alle daran | |
| gearbeitet haben, dem Fußball seinen guten, sozialen, demokratischen und | |
| auch subversiven Sinn zu nehmen. | |
| Das kann nämlich Fußball sein, und das war er über weite Teile seiner über | |
| hundertjährigen Geschichte: ein Feld, in dem Solidarität geübt wird. Ein | |
| Sport, der die Gleichheit aller Teilnehmenden garantiert. Ein Beispiel für | |
| eine Kommunikation, die über Sprach- und Ländergrenzen nonverbal gelingt | |
| und doch sehr viel Freude macht. Und auch ein Faszinosum, das nicht zu | |
| Unrecht als Arbeitersport gilt, denn es gehört auf dem Platz zu den wenigen | |
| Möglichkeiten, die (freilich nur den männlichen) proletarischen | |
| Jugendlichen die Chance auf sozialen Aufstieg gewährt und die auf den | |
| Rängen Menschen, die sonst in der bürgerlichen Öffentlichkeit unsichtbar | |
| sind, eine Präsenz erlaubt. Und zwar gleich eine, die nicht selten ihre | |
| Kreativität, ihre kollektive Intelligenz und ihren Witz offenbart. | |
| Das war einmal. Das gab es vor Corona, das gab es vor diesem mit aller | |
| Macht durchgepaukten [3][Uefa-Sponsoren-Turnier]. Davon war auf den Rängen | |
| im Londoner Wembleystadion genauso nichts zu sehen wie in Baku, Kopenhagen, | |
| St. Petersburg oder München. Im Stadion waren nicht mehr die, denen Fußball | |
| so viel bedeutet, dass sie beinah überall hinreisen, um ihren Sport so | |
| intensiv wie möglich zu erleben. Diesmal waren Leute auf den Rängen, die es | |
| gemäß den jeweiligen Regeln gerade so in die Arenen geschafft haben, sofern | |
| sie es sich finanziell leisten konnten. | |
| Entsprechend sah es im Stadion aus, diesem Ort, der doch einmal so | |
| einzigartig war: Aus der kreativen Intelligenz wurde bloß noch das, was | |
| PR-Firmen ausgetüftelt haben. Aus der sozialen Botschaft wurde das | |
| Schwingen von Regenbogenfähnchen, wogegen ja nichts zu sagen ist, aber der | |
| Fußball könnte doch viel, viel mehr leisten, wenn, ja wenn es | |
| demokratischer zuginge. Und aus der oppositionellen und subversiven Praxis, | |
| die den Fußball so groß gemacht hat, wurde dumpfer Nationalismus, den die | |
| neuen Träger der Fußballkultur in den Stadien vermutlich für | |
| Working-Class-Benimm halten: Wo früher schlecht pfeifende Schiris oder sich | |
| ziemlich unsozial benehmende Spieler ausgepfiffen wurden, galt der Unmut | |
| nun den Hymnen oder, weil fußballerischer Sachverstand fehlte, nur noch | |
| irgendeinem gegnerischen Spieler, der gerade den Ball angenommen hatte. | |
| ## Der sinnentleerte Volkssport | |
| Der Fußball steht im Jahr 2021 ziemlich sinnentleert da, weil er nicht | |
| mehr, wie man früher sagte, „Spiel des Volkes“ ist. Er ist übernommen | |
| worden von Kräften, die mit ihm ihr Geld machen, die ihn gründlich | |
| durchkapitalisiert, umstrukturiert und mithilfe technologischer Mittel à la | |
| Videobeweis scheinbar objektiviert haben. | |
| Ganz allein steht der Fußball damit nicht, vermutlich ist er noch nicht mal | |
| am Schlimmsten dran: Wer gerne tanzt und weiß, welche | |
| Ausdrucksmöglichkeiten der menschliche Körper bietet, wird ja mittlerweile | |
| an „Let’s dance“ verwiesen. Wer das Singen und die Musik liebt, wird in | |
| Castingshows geschickt, wo man sich von TV-Promis gründlich durchbeleidigen | |
| lassen muss, bloß um einen Rest von Chance auf sozialen Aufstieg zu haben. | |
| Wer die Vielfalt der Kulinarik liebt und gerne mit Lebensmitteln und | |
| Kräutern experimentiert, wird Fernsehköchen ausgeliefert, die Wörter wie | |
| „Hammer“ oder „Geschmacksexplosion“ sagen. | |
| Da ungefähr ist mittlerweile auch der Fußball angekommen, das größte | |
| demokratische Spektakel, das die bürgerliche Gesellschaft einmal hatte. Die | |
| Lehre also aus diesem Turnier, das in diesen Zeiten niemand gebraucht hat? | |
| Engländer können keine Elfmeter schießen, Italiener schlängeln sich | |
| erfolgreich durch ein Turnier. Mehr als diese dumpfen Zuordnungen von | |
| Eigenschaften qua nationaler Herkunft soll uns der Fußball nicht | |
| mitzuteilen haben? Wer nur diese Europameisterschaft gesehen hat, könnte es | |
| fast glauben. | |
| 12 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Krauss | |
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