# taz.de -- Minderjährige Erntehelfer in Bolivien: Die Jungen ohne Kindheit | |
> In Bolivien helfen Minderjährige bei der Paranussernte. Was einige als | |
> „Kinderarbeit“ anklagen, ist für andere überlebenswichtig. | |
Bild: Der 12-jährige Gumersindo bei der Ernte | |
Der Bezirk Pando sieht aus der Luft betrachtet aus wie ein Feld voll | |
Broccoli. Dunkelgrüner Regenwald, nur ab und an unterbrochen von einem | |
rotbraunen Fluss oder einer braunroten Straße. Unter dem Blätterdach stapft | |
Horfilio Villanueva an diesem Morgen über Lianen und Baumstämme, hackt mit | |
der Machete ins Dickicht, Schweiß tropft ihm vom Kinn. | |
Hinter ihm läuft sein Neffe Ismael, die Machete über die schmale Schulter | |
gelegt, die Turnschuhe schlammbedeckt. Seit einer Stunde streifen die | |
beiden durch das Gestrüpp, hier im Nordosten Boliviens, kurz vor der Grenze | |
zu Brasilien. Sie sind auf der Suche nach Paranüssen. | |
Abrupt bleibt Horfilio stehen. Vor ihm ein fast 2 Meter dicker Stamm, der | |
etwa 40 Meter in die Höhe ragt. Seine Krone ist kaum zu sehen, sie liegt | |
über dem Blätterdach der anderen Bäume. Dort hängen die Nüsse, jede etwa | |
ein Kilogramm schwer. Unten, vor Horfilios und Ismaels Füßen: die reifen, | |
herabgefallenen Früchte. Horfilio lehnt seine Machete an einen Stamm. „Hier | |
bleiben wir.“ | |
Paranusskerne gelten als „Superfood“. Viele schätzen ihren hohen Eiweiß- | |
und Mineralstoffgehalt. Deutschland zählt zu den Hauptimporteuren weltweit, | |
die Einfuhrmenge hat sich hierzulande während der letzten zehn Jahre fast | |
verdreifacht. Der Großteil der importierten Kerne stammt aus dem Nordosten | |
Boliviens – und damit von dort, wo Horfilio und sein Neffe durch den Wald | |
laufen. | |
Doch die Ernte ist gefährlich und für den zwölfjährigen Ismael eigentlich | |
verboten. Mehrere NGOs verurteilen sie als Kinderarbeit, das US-Büro für | |
Internationale Arbeitsbeziehungen führt sie als „worst forms of child | |
labour“ an und das bolivianische Gesetz erlaubt sie erst ab der | |
Volljährigkeit. | |
Horfilio Villanueva, 31 Jahre, wortkarg, mit breiten Schultern, weiß das. | |
Er weiß auch, wie die NGOs in der Hauptstadt La Paz über die Arbeit seines | |
Neffen denken. Wegen der Schlangenbisse, der Begegnungen mit dem Jaguar, | |
der abgehackten Finger, der Platzwunden, der Malaria. Deshalb schiebt er | |
Ismael auch immer wieder beiseite, wenn das Objektiv des Fotografen auf ihn | |
gerichtet ist. „Das sehen die Importeure aus Europa nicht gern“, sagt er. | |
Die Fragen an den Jungen beantwortet er lieber selbst, meistens mit | |
grimmigem Blick, der zu verstehen gibt, dass man das Thema wechseln soll. | |
Horfilio befürchtet, dass wegen schlechter Presse die Nachfrage wegbrechen | |
könnte. Dabei sagen vor allem diejenigen „Kinderarbeit“, die nicht hier | |
leben. Die Menschen vor Ort betrachten ihre Arbeit aus einer anderen | |
Perspektive. Für sie sind die Studien der NGOs und die Gesetzestexte der | |
Regierung nur Papier. | |
Wessen Realität zählt mehr? | |
Kaum sind Horfilio und Ismael am Paranussbaum angekommen, fangen sie mit | |
der Auflese an. Horfilio geht gebückt über den Waldboden, greift nach | |
handballgroßen Paranüssen und wirft sie auf einem Haufen zusammen. Sein | |
Neffe Ismael, das Basecap tief ins Gesicht gezogen, tut es ihm mit | |
routinierten Handgriffen gleich. | |
Horfilio und Ismael sind „Zafreros“ – so nennen sich diejenigen, die der | |
„Zafra“, der Ernte der Paranusskerne, nachgehen. In der einen Jahreshälfte | |
schlägt sich Horfilio mit Gelegenheitsjobs im fünf Stunden entfernten | |
Cobija durch, wo seine Frau und seine Tochter leben. Während der Regenzeit, | |
von Dezember bis April, lebt er im Dorf El Turi, in der Holzhütte seiner | |
Eltern. Bis zu zwölf Stunden geht er täglich in den Wald, seinen Neffen | |
Ismael nimmt er mit. | |
Paranussbäume lassen sich nicht einfach auf Plantagen kultivieren. Bis die | |
Samen keimen, dauert es etwa anderthalb Jahre. Bevor der Baum zum ersten | |
Mal Früchte trägt, noch mal zehn Jahre. Das ist ein langer Zeitraum für | |
eine Region, in der viele Familien von der Hand in den Mund leben. Deshalb | |
streifen die Zafreros auch durch den Regenwald und sammeln die Nüsse vom | |
Boden auf. | |
Bis vor wenigen Jahren herrschte noch eine Art Lehnswesen: Die Landbesitzer | |
zahlten Geld an einen Aufpasser, der wiederum Zafreros anwarb und sie teils | |
im Voraus bezahlte. Den Lohn mussten sie dann während der Erntezeit | |
abarbeiten und wurden dabei nicht selten ausgebeutet. Doch seitdem die | |
Indigenen im Zuge der Landreformen viele Flächen zurückerhielten, hat sich | |
auch die Ernte verändert. Heute arbeiten die meisten Zafreros eigenständig | |
und liefern ihre Ernte gegen Bargeld bei Zwischenhändlern ab, die an den | |
Straßenrändern auf Nachschub warten. | |
Dort fahren die Zafreros dann im Minutentakt auf ihren Mopeds vor, mit | |
Säcken voller Paranüsse im Gepäck. Bezahlt wird nach Gewicht. Je mehr Hände | |
anpacken, desto mehr Geld bringen sie nach Hause. Für Lebensmittel, Benzin, | |
Reparaturen am Haus, wie im Fall von Horfilio Villanueva, der in Cobija | |
nicht genug verdient, um seine Familie zu ernähren. Das Geld aus der | |
Paranussernte ist manchmal aber auch für kleine Extras gedacht, wie im Fall | |
des Neffen Ismael, der schon lange auf ein eigenes Moped spart. | |
Nach einer halben Stunde haben Ismael und Horfilio alle Nüsse aufgelesen. | |
Nun haben sie es auf ihr Inneres abgesehen. Hinter der harten Schale liegen | |
15 bis 20 Paranusskerne, jeweils umhüllt von einer zweiten, dünneren | |
Schale. Wortlos greifen Horfilio und Ismael zu den Macheten, der | |
kräftezehrendste Teil ihrer Arbeit beginnt. | |
Stellt man sich die Matschpisten und Flüsse durch den Wald wie die Fäden | |
eines Spinnennetzes vor, ist die Kleinstadt Riberalta im Nordosten des | |
Bezirks Beni die gefräßige Spinne in der Mitte. Hier prangt die fünf Meter | |
hohe Statue eines Zafreros auf dem größten Boulevard der Stadt, hier stehen | |
Dutzende Verarbeitungsfabriken ausländischer Investoren, in denen Frauen | |
bei Lärm und Hitze die Kerne sortieren, bevor sie von Maschinen geknackt | |
und erhitzt werden. | |
Die Fabriken in Riberalta sind immer hungrig und die Zafreros füttern sie | |
mit 20.000 bis 30.000 Tonnen Paranusskernen pro Jahr. Nur rund 2 Prozent | |
davon bleiben im Land, der Rest wird exportiert. Der bolivianische Staat | |
hat eigens eine Exportagentur mit einem Büro in Hamburg gegründet, um den | |
Außenhandel mit Europa zu forcieren. Von deutschen Händlern und | |
Supermarktketten werden die Paranusskerne dann verpackt und | |
weitervertrieben, teilweise auch in andere EU-Staaten. | |
Trotz der finanziellen Vorteile, die so ein Export mit sich bringt, | |
beobachtet Silvia Escóbar die Entwicklung mit Sorge. Die Forscherin | |
arbeitet im Zentrum für Studien der Arbeits- und Landwirtschaftsentwicklung | |
(CEDLA) am südlichen Ende von La Paz, dort wo sich Hochhäuser aneinander | |
drängen und Anzugtragende durch Drehtüren hasten. Für das Treffen hat sie | |
neben ihrem Kollegen Pablo Poveda am Konferenztisch Platz genommen, vor den | |
beiden liegt ein Stapel Papiere. | |
Das Team von CEDLA hat bereits mehrere Studien zur Ernte von Paranusskernen | |
veröffentlicht, eine davon trägt den Titel „Keine Zeit zum Träumen“. Der | |
Tenor der Studie: Arbeiten Kinder bei der Ernte mit, verlieren sie ihre | |
Kindheit. | |
Für Silvia Escóbar liegt diese Form der Kinderarbeit vor allem in der Armut | |
begründet. „Die Paranusskerne sind fast die einzige Einkommensquelle, die | |
die Familien haben“, sagt sie. Es gebe kaum Industrie, kaum Geschäfte, bloß | |
ein paar Felder. Das schaffe Abhängigkeiten, den „Druck, immer mehr aus dem | |
Wald herauszuholen“. Um die entlegenen Paranussbäume zu erreichen, würden | |
die Zafreros Pfade durch den Wald schlagen und tief in seinem Inneren | |
Lager mit Holzbaracken bauen, erzählt sie. | |
Dort würden die Männer mit ihren Söhnen dann monatelang leben. „Das sind | |
provisorische Camps“, sagt Escóbar. „Sie improvisieren mit Zeltplanen, es | |
gibt kein Trinkwasser, kein Licht und keine sanitären Anlagen“, fügt ihr | |
Kollege Pablo Poveda hinzu. Niemand könne sich während dieser Monate um die | |
Gesundheit oder Bildung der Kinder kümmern. Sie seien unter dem Dach des | |
Waldes verschwunden. „Natürlich sollten auch Kinder lernen zu arbeiten“, | |
sagt Silvia Escóbar. „Aber nicht so!“ Sie hat Verständnis für die prekä… | |
Situation der Familien – doch die Kinder deshalb solchen Gefahren | |
aussetzen? Das ist für sie und ihren Kollegen keine Lösung. | |
Wie gefährlich die Ernte der Paranusskerne sein kann, erfährt man in der | |
Schule von Riberalta. Die Rektorin hat einige Schüler zusammengerufen, die | |
im Innenhof davon erzählen. Es sind zierliche Heranwachsende in | |
Schuluniformen, zwischen 12 und 15 Jahren alt. „Nach dem Frühstück gehen | |
wir von 8 Uhr morgens bis 6 Uhr abends in den Wald. Essen gibt es | |
zwischendurch nicht“, sagt einer von ihnen. „Mich hat mal fast eine | |
Anakonda gekriegt!“, sagt ein anderer und lacht. „Früher hatte ich Angst, | |
heute nicht mehr“, sagt wieder einer. „Man gewöhnt sich dran“, fügt er … | |
lässigem Tonfall hinzu – und schielt zu den Mädchen herüber, die gerade | |
zuhören. | |
Während sich die Jungen mit ihren Geschichten brüsten, wirkt die | |
Schulleiterin besorgt. „Sie verpassen viel“, sagt sie mit leiser Stimme, | |
nachdem sie den Jungen den Rücken zugewandt hat. Manche kämen erst drei | |
oder vier Wochen verspätet zurück aus den Ferien, weil die Ernte im Wald | |
noch angedauert hat. Anschließend seien sie ausgelaugt. „Sie schlafen mit | |
dem Kopf auf dem Tisch, weil sie so müde sind.“ | |
Gegenüber der Schule liegt das Krankenhaus der Stadt. Hier misst ein | |
Oberarzt die Gefahren der Ernte in Zeit: Es könne Stunden dauern, manchmal | |
sogar einen ganzen Tag, bis ein Krankenwagen einen Verletzten im Wald | |
erreiche, erzählt er. Oft sei es dann aber bereits zu spät – wenn sich zum | |
Beispiel eine Paranuss aus der Baumkrone gelöst und eine Schädeldecke | |
zertrümmert habe. Auch abgehackte Finger, Infektionen und Malaria gehörten | |
zum Alltag der Zafreros. „Die Ernter gehen gesund in den Wald und kommen | |
krank wieder heraus“, sagt der Arzt. Diesen Satz hört man hier häufiger. | |
Das gesunde „Superfood“ macht in Bolivien krank. Die Handelsfirmen und | |
Supermarktketten wissen von diesen Erntebedingungen – und sehen sich | |
dennoch nicht in der Verantwortung. „Die Paranussernte ist ein hochgradig | |
informeller Sektor“, schreibt beispielsweise Voicevale in einer | |
Stellungnahme auf Anfrage der taz. | |
Das britische Unternehmen gehört zu den größten Importeuren von | |
Paranusskernen in die EU und hält in Riberalta Anteile an einer | |
Verarbeitungsfabrik. „Obwohl unsere Lieferanten alle Anstrengungen | |
unternehmen, ihre Sammler dazu zu erziehen, nicht die Hilfe ihrer Kinder in | |
Anspruch zu nehmen, wäre es falsch anzunehmen, dass dies nicht zum Teil | |
geschieht“, gibt Voicevale zu – und offenbart mit dem „Erziehungsanspruch… | |
gleichzeitig ein fragwürdiges Verständnis von Zusammenarbeit. | |
Und auch das Unternehmen Seeberger argumentiert mit Unwissenheit: „Wir | |
können die Lieferkette bis zur Weiterverarbeitungsfabrik zurückverfolgen. | |
Die Sammlung der wild wachsenden Paranüsse im Amazonas-Urwald erfolgt meist | |
autark durch die einheimische Bevölkerung.“ | |
Geht es um Kinderarbeit, verlassen sich die Unternehmen auf die | |
vorgeschalteten Glieder der Lieferkette. So verweist der Discounter Lidl, | |
der unter der Eigenmarke Alesto Paranusskerne aus Bolivien im Sortiment | |
führt, auf den firmeneigenen „Code of Conduct“: Kinderarbeit sei darin | |
ausgeschlossen, die Lieferanten verpflichteten sich, im Einkauf darauf zu | |
achten. | |
Der Großhändler Voicevale wiederum versucht nach eigenen Angaben, mit | |
lokalen Kontaktpersonen zusammenzuarbeiten und die Lieferkette so besser im | |
Blick zu behalten. Zudem finanziert er eine Broschüre zur | |
Arbeitssicherheit, die eine bolivianische NGO mit Fokus auf | |
landwirtschaftliche Entwicklung erstellt hat. | |
Zu lesen ist da von Erster Hilfe bei Unfällen, Arbeitsrecht, Helmen und | |
Gummistiefeln. An 600 Arbeiter sei sie bisher verteilt worden, teilt | |
Voicevale mit. So wird die Verantwortung für Arbeitssicherheit und | |
Kinderrechte immer weiter nach unten gereicht – bis hin zu jenen Familien | |
im Regenwald, die auf die Ernte angewiesen sind. Das macht die Situation | |
ungleich komplizierter. Denn die Vorstellung davon, was Kinderarbeit ist, | |
gehen im Fall der Paranusskerne weit auseinander. | |
Die Sonne steht mittlerweile senkrecht am Himmel, Horfilio und Ismael haben | |
sich neben die Paranüsse in den Schlamm gesetzt. Mit der linken Hand | |
drücken sie die Nüsse auf den Boden, mit der rechten lassen sie im | |
Sekundentakt die Macheten herabsausen. Es kracht metallisch, wenn die | |
Klinge auf die harte Schale trifft – einen, vielleicht zwei Zentimeter von | |
ihren Fingerkuppen entfernt. | |
Nach wenigen Hieben bricht die Schale auseinander. Horfilio und Ismael | |
lassen die Paranusskerne in einen blauen Plastiksack fallen und greifen zur | |
nächsten Nuss. Über eine Stunde wird es jetzt so gehen. Ismael wirkt | |
gedankenverloren, während seine kleine Hand die riesige Machete steuert. | |
Steht er in der Runde seiner erwachsenen Mitstreiter, macht es den | |
Anschein, als habe jemand seinen Sohn spaßeshalber zum Holzfällen | |
mitgebracht. Den Blicken Fremder weicht er eingeschüchtert aus, und doch | |
ist da auch ein wenig Stolz in seiner Brust. Von Zwang oder Widerwillen | |
keine Spur. | |
Oft begegnet man Schulterzucken bei denen, die der Vorwurf der Kinderarbeit | |
eigentlich betrifft. Kinderarbeit? Hier? Wenn es in der Region Aufstände | |
gibt, dann nicht dagegen, dass Kinder bei der Ernte mitarbeiten, sondern | |
gegen gesunkene Kilopreise am Fabriktor. Auch Horfilio Villanueva wirkt | |
gleichgültig. „Wir lernen hier alle früh, mit der Machete umzugehen“, sagt | |
er. | |
„Die Arbeit ist Teil unserer Kultur.“ Eine Erzählung, die nicht nur dem | |
Gesetz widerspricht, sondern auch der westeuropäischen Vorstellung von dem, | |
wie eine gute Kinder- und Jugendzeit auszusehen hat. Doch je länger man | |
sich in Riberalta aufhält, desto unschlüssiger wird man: Was ist | |
Kinderarbeit? Wie würden die bolivianischen Jungen über ihren Alltag | |
denken, würden sie ihn anders kennen? Und wie viel ist tatsächlich Kultur, | |
wie viel eigentlich Armut Alternativlosigkeit, Abhängigkeit? | |
Eine Ambivalenz, die Vincent Vos gut kennt. Vos ist freiberuflicher | |
Biologie und Mitautor diverser Studien zum Paranussbaum und den | |
Arbeitsbedingungen bei der Ernte. Die Broschüre zur Arbeitssicherheit, die | |
die bolivianische NGO mithilfe des Großhändlers Voicevale veröffentlicht | |
hat, hat er maßgeblich verfasst. Ursprünglich kommt Vos aus den | |
Niederlanden, seit 20 Jahren lebt er in Riberalta, er versteht beide | |
Lebensrealitäten. | |
„Wenn die Mutter den ganzen Tag in der Verarbeitungsfabrik sitzt und sich | |
die Finger wund arbeitet, dann will der Sohn eben auch etwas beitragen“, | |
sagt Vos. Wer mithelfen könne, schaffe Geld heran, unterstütze seine | |
Angehörigen, die Dorfgemeinschaft. „Das ist eine Form der Familienhilfe.“ | |
An diesem Tag verteilt er die Broschüre an Alfredo Guari und seinen | |
zwölfjährigen Sohn Gumersindo. Auch sie waren unweit von Riberalta den | |
ganzen Tag im Wald und haben Paranusskerne gesammelt. Auch hier das gleiche | |
Bild: Die beiden wirken eingespielt, routiniert und Gumersindo stolz auf | |
sein Geschick. „Bisher ist niemandem etwas passiert“, sagt er. Doch was | |
wirklich in ihm vorgeht, bleibt unklar – auch hier übernimmt der Vater das | |
Reden. | |
„Manchen Jungen macht die Arbeit im Wald ja auch Spaß, sie mögen das“, | |
meint Vincent Vos aus Gumersindos Verhalten ablesen zu können. In seinen | |
Augen werde der Stempel „Kinderarbeit“ zu schnell von denen vergeben, die | |
die Situation vor Ort nicht kennen. „Die Gesetze werden in La Paz gemacht“, | |
sagt Vos trotzig. Aber man müsse die Lebensrealität der Menschen | |
anerkennen. | |
Eine Forderung, die in Bolivien häufig gestellt wird. Selbst vom ehemaligen | |
Präsidenten Evo Morales. „In ländlichen Gebieten unterstützen Kinder ihre | |
Familie, sobald sie Laufen gelernt haben. Das ist keine Ausbeutung, das ist | |
ein Opfer, aber gleichzeitig auch Lebenserfahrung“, sagte Morales 2013 in | |
La Paz. | |
Nach eigenen Angaben habe er als Kind gearbeitet und zwei seiner Kinder zum | |
Hüten von Lamas geschickt. Immer wieder wird in Bolivien deshalb | |
diskutiert, ab welchem Lebensjahr es erlaubt sein sollte, eigenes Geld zu | |
verdienen – als Schuhputzer beispielsweise oder als Marktverkäuferin. | |
Doch bis zu welchem Grad lässt sich Kinderarbeit mit der Lebensrealität | |
eines Landes rechtfertigen? Und wer entscheidet, was gut für die Menschen | |
ist und was schlecht – wenn es an wirtschaftlichen Alternativen mangelt? | |
Auch das im Juni beschlossene Lieferkettengesetz wird dieses Spannungsfeld | |
betreffen. Ab 2023 verpflichtet es Unternehmen mit mindestens 3.000 | |
Mitarbeitenden zur Einhaltung von ökologischen und sozialen | |
Mindeststandards in ihrer gesamten Lieferkette. Ab 2024 gilt das Gesetz | |
darüber hinaus für Unternehmen mit 1.000 Mitarbeitenden aufwärts. | |
Die lebensgefährliche Ernte der Paranusskerne ist und bleibt ein | |
Sonderfall. Schließlich ist sie selbst in Bolivien erst ab der | |
Volljährigkeit erlaubt. Die Herkunft der Kerne hätte also schon längst | |
genauer überprüft werden müssen. Gleichzeitig braucht es unter dem dichten | |
Blätterdach des Regenwalds aber auch Menschen wie Horfilio und Ismael oder | |
Alfredo und Gumersindo, die das Verbot von Kinderarbeit mittragen. Doch wie | |
realistisch ist das in einem der ärmsten Länder Südamerikas, in dem die | |
Ernte der Paranusskerne etwa drei Viertel der Wirtschaftsleistung im | |
Nordosten ausmacht? | |
Für Silvia Escóbar von CEDLA fällt die Bewertung eindeutig aus. Die | |
Familien kaschierten das als Familienhilfe oder Familienarbeit, sagt sie. | |
„Aber da besteht für mich kein Zweifel: Das ist Kinderarbeit.“ Es sei ein | |
Unterschied, ob sich das Kind seine Beschäftigung selbst suche oder | |
Aufgaben zugeteilt bekomme und den finanziellen Druck der Eltern spüre, | |
fährt sie fort. | |
Die Familien seien so sehr in der finanziellen Abhängigkeit gefangen, dass | |
sie diese Arbeitsbedingungen als gegeben hinnehmen. Und die Unternehmen | |
würden dies ausnutzen, sagt sie, indem sie die Augen verschließen, vor dem, | |
was vor den Fabriktoren geschehe – ebenso die Regierung: „Wir haben seit 20 | |
Jahren keinen Staat, der willens oder in der Lage wäre, die Gesetze in der | |
Region durchzusetzen.“ | |
Vincent Vos sieht die Lösung in einem Kompromiss: Anstatt auf ein striktes | |
Verbot zu beharren, das im dichten Gestrüpp des Regenwalds ohnehin niemand | |
kontrollieren könne, sollten die Arbeitsumstände verbessert werden. | |
Schutzkleidung, höhere Löhne, mehr Kindergärten und Betreuungsangebote | |
könnten ein Anfang sein, findet er. Denn würden die Zafreros besser | |
bezahlt, würde der Druck auf die Jungen sinken, mit in den Wald zu kommen. | |
Die Unternehmen müssten an einem nachhaltigen Konzept für die Region | |
mitwirken, an einer Lieferkette auf Augenhöhe. | |
Am Mittag werden die Machetenhiebe von Horfilio Villanueva und seinem | |
Neffen Ismael langsamer. Nach fast zwei Stunden hören sie auf. Beide Säcke | |
sind nun bis zum Rand gefüllt. Horfilio schultert einen davon, 70 Kilo | |
wiegt er etwa. Beim Zwischenhändler an der Flussbiegung wird er dafür 480 | |
Bolivianos in die Hand gedrückt bekommen, 60 Euro. Geld für Lebensmittel, | |
für seine Frau und Tochter in Cobija und seinen Neffen Ismael. | |
„So ist das eben bei uns“, sagt Horfilio, den Blick auf die übrig | |
gebliebenen Paranüsse am Waldboden gerichtet. Wie Taler liegen sie da, man | |
muss sie nur aufheben. Ismael scheint in diesem Moment nicht zuzuhören. | |
Verträumt fixiert er einen Punkt im Wald. Er hat einen Schwarm bunter | |
Schmetterlinge entdeckt. | |
14 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Fabian Franke | |
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