| # taz.de -- Minderjährige Erntehelfer in Bolivien: Die Jungen ohne Kindheit | |
| > In Bolivien helfen Minderjährige bei der Paranussernte. Was einige als | |
| > „Kinderarbeit“ anklagen, ist für andere überlebenswichtig. | |
| Bild: Der 12-jährige Gumersindo bei der Ernte | |
| Der Bezirk Pando sieht aus der Luft betrachtet aus wie ein Feld voll | |
| Broccoli. Dunkelgrüner Regenwald, nur ab und an unterbrochen von einem | |
| rotbraunen Fluss oder einer braunroten Straße. Unter dem Blätterdach stapft | |
| Horfilio Villanueva an diesem Morgen über Lianen und Baumstämme, hackt mit | |
| der Machete ins Dickicht, Schweiß tropft ihm vom Kinn. | |
| Hinter ihm läuft sein Neffe Ismael, die Machete über die schmale Schulter | |
| gelegt, die Turnschuhe schlammbedeckt. Seit einer Stunde streifen die | |
| beiden durch das Gestrüpp, hier im Nordosten Boliviens, kurz vor der Grenze | |
| zu Brasilien. Sie sind auf der Suche nach Paranüssen. | |
| Abrupt bleibt Horfilio stehen. Vor ihm ein fast 2 Meter dicker Stamm, der | |
| etwa 40 Meter in die Höhe ragt. Seine Krone ist kaum zu sehen, sie liegt | |
| über dem Blätterdach der anderen Bäume. Dort hängen die Nüsse, jede etwa | |
| ein Kilogramm schwer. Unten, vor Horfilios und Ismaels Füßen: die reifen, | |
| herabgefallenen Früchte. Horfilio lehnt seine Machete an einen Stamm. „Hier | |
| bleiben wir.“ | |
| Paranusskerne gelten als „Superfood“. Viele schätzen ihren hohen Eiweiß- | |
| und Mineralstoffgehalt. Deutschland zählt zu den Hauptimporteuren weltweit, | |
| die Einfuhrmenge hat sich hierzulande während der letzten zehn Jahre fast | |
| verdreifacht. Der Großteil der importierten Kerne stammt aus dem Nordosten | |
| Boliviens – und damit von dort, wo Horfilio und sein Neffe durch den Wald | |
| laufen. | |
| Doch die Ernte ist gefährlich und für den zwölfjährigen Ismael eigentlich | |
| verboten. Mehrere NGOs verurteilen sie als Kinderarbeit, das US-Büro für | |
| Internationale Arbeitsbeziehungen führt sie als „worst forms of child | |
| labour“ an und das bolivianische Gesetz erlaubt sie erst ab der | |
| Volljährigkeit. | |
| Horfilio Villanueva, 31 Jahre, wortkarg, mit breiten Schultern, weiß das. | |
| Er weiß auch, wie die NGOs in der Hauptstadt La Paz über die Arbeit seines | |
| Neffen denken. Wegen der Schlangenbisse, der Begegnungen mit dem Jaguar, | |
| der abgehackten Finger, der Platzwunden, der Malaria. Deshalb schiebt er | |
| Ismael auch immer wieder beiseite, wenn das Objektiv des Fotografen auf ihn | |
| gerichtet ist. „Das sehen die Importeure aus Europa nicht gern“, sagt er. | |
| Die Fragen an den Jungen beantwortet er lieber selbst, meistens mit | |
| grimmigem Blick, der zu verstehen gibt, dass man das Thema wechseln soll. | |
| Horfilio befürchtet, dass wegen schlechter Presse die Nachfrage wegbrechen | |
| könnte. Dabei sagen vor allem diejenigen „Kinderarbeit“, die nicht hier | |
| leben. Die Menschen vor Ort betrachten ihre Arbeit aus einer anderen | |
| Perspektive. Für sie sind die Studien der NGOs und die Gesetzestexte der | |
| Regierung nur Papier. | |
| Wessen Realität zählt mehr? | |
| Kaum sind Horfilio und Ismael am Paranussbaum angekommen, fangen sie mit | |
| der Auflese an. Horfilio geht gebückt über den Waldboden, greift nach | |
| handballgroßen Paranüssen und wirft sie auf einem Haufen zusammen. Sein | |
| Neffe Ismael, das Basecap tief ins Gesicht gezogen, tut es ihm mit | |
| routinierten Handgriffen gleich. | |
| Horfilio und Ismael sind „Zafreros“ – so nennen sich diejenigen, die der | |
| „Zafra“, der Ernte der Paranusskerne, nachgehen. In der einen Jahreshälfte | |
| schlägt sich Horfilio mit Gelegenheitsjobs im fünf Stunden entfernten | |
| Cobija durch, wo seine Frau und seine Tochter leben. Während der Regenzeit, | |
| von Dezember bis April, lebt er im Dorf El Turi, in der Holzhütte seiner | |
| Eltern. Bis zu zwölf Stunden geht er täglich in den Wald, seinen Neffen | |
| Ismael nimmt er mit. | |
| Paranussbäume lassen sich nicht einfach auf Plantagen kultivieren. Bis die | |
| Samen keimen, dauert es etwa anderthalb Jahre. Bevor der Baum zum ersten | |
| Mal Früchte trägt, noch mal zehn Jahre. Das ist ein langer Zeitraum für | |
| eine Region, in der viele Familien von der Hand in den Mund leben. Deshalb | |
| streifen die Zafreros auch durch den Regenwald und sammeln die Nüsse vom | |
| Boden auf. | |
| Bis vor wenigen Jahren herrschte noch eine Art Lehnswesen: Die Landbesitzer | |
| zahlten Geld an einen Aufpasser, der wiederum Zafreros anwarb und sie teils | |
| im Voraus bezahlte. Den Lohn mussten sie dann während der Erntezeit | |
| abarbeiten und wurden dabei nicht selten ausgebeutet. Doch seitdem die | |
| Indigenen im Zuge der Landreformen viele Flächen zurückerhielten, hat sich | |
| auch die Ernte verändert. Heute arbeiten die meisten Zafreros eigenständig | |
| und liefern ihre Ernte gegen Bargeld bei Zwischenhändlern ab, die an den | |
| Straßenrändern auf Nachschub warten. | |
| Dort fahren die Zafreros dann im Minutentakt auf ihren Mopeds vor, mit | |
| Säcken voller Paranüsse im Gepäck. Bezahlt wird nach Gewicht. Je mehr Hände | |
| anpacken, desto mehr Geld bringen sie nach Hause. Für Lebensmittel, Benzin, | |
| Reparaturen am Haus, wie im Fall von Horfilio Villanueva, der in Cobija | |
| nicht genug verdient, um seine Familie zu ernähren. Das Geld aus der | |
| Paranussernte ist manchmal aber auch für kleine Extras gedacht, wie im Fall | |
| des Neffen Ismael, der schon lange auf ein eigenes Moped spart. | |
| Nach einer halben Stunde haben Ismael und Horfilio alle Nüsse aufgelesen. | |
| Nun haben sie es auf ihr Inneres abgesehen. Hinter der harten Schale liegen | |
| 15 bis 20 Paranusskerne, jeweils umhüllt von einer zweiten, dünneren | |
| Schale. Wortlos greifen Horfilio und Ismael zu den Macheten, der | |
| kräftezehrendste Teil ihrer Arbeit beginnt. | |
| Stellt man sich die Matschpisten und Flüsse durch den Wald wie die Fäden | |
| eines Spinnennetzes vor, ist die Kleinstadt Riberalta im Nordosten des | |
| Bezirks Beni die gefräßige Spinne in der Mitte. Hier prangt die fünf Meter | |
| hohe Statue eines Zafreros auf dem größten Boulevard der Stadt, hier stehen | |
| Dutzende Verarbeitungsfabriken ausländischer Investoren, in denen Frauen | |
| bei Lärm und Hitze die Kerne sortieren, bevor sie von Maschinen geknackt | |
| und erhitzt werden. | |
| Die Fabriken in Riberalta sind immer hungrig und die Zafreros füttern sie | |
| mit 20.000 bis 30.000 Tonnen Paranusskernen pro Jahr. Nur rund 2 Prozent | |
| davon bleiben im Land, der Rest wird exportiert. Der bolivianische Staat | |
| hat eigens eine Exportagentur mit einem Büro in Hamburg gegründet, um den | |
| Außenhandel mit Europa zu forcieren. Von deutschen Händlern und | |
| Supermarktketten werden die Paranusskerne dann verpackt und | |
| weitervertrieben, teilweise auch in andere EU-Staaten. | |
| Trotz der finanziellen Vorteile, die so ein Export mit sich bringt, | |
| beobachtet Silvia Escóbar die Entwicklung mit Sorge. Die Forscherin | |
| arbeitet im Zentrum für Studien der Arbeits- und Landwirtschaftsentwicklung | |
| (CEDLA) am südlichen Ende von La Paz, dort wo sich Hochhäuser aneinander | |
| drängen und Anzugtragende durch Drehtüren hasten. Für das Treffen hat sie | |
| neben ihrem Kollegen Pablo Poveda am Konferenztisch Platz genommen, vor den | |
| beiden liegt ein Stapel Papiere. | |
| Das Team von CEDLA hat bereits mehrere Studien zur Ernte von Paranusskernen | |
| veröffentlicht, eine davon trägt den Titel „Keine Zeit zum Träumen“. Der | |
| Tenor der Studie: Arbeiten Kinder bei der Ernte mit, verlieren sie ihre | |
| Kindheit. | |
| Für Silvia Escóbar liegt diese Form der Kinderarbeit vor allem in der Armut | |
| begründet. „Die Paranusskerne sind fast die einzige Einkommensquelle, die | |
| die Familien haben“, sagt sie. Es gebe kaum Industrie, kaum Geschäfte, bloß | |
| ein paar Felder. Das schaffe Abhängigkeiten, den „Druck, immer mehr aus dem | |
| Wald herauszuholen“. Um die entlegenen Paranussbäume zu erreichen, würden | |
| die Zafreros Pfade durch den Wald schlagen und tief in seinem Inneren | |
| Lager mit Holzbaracken bauen, erzählt sie. | |
| Dort würden die Männer mit ihren Söhnen dann monatelang leben. „Das sind | |
| provisorische Camps“, sagt Escóbar. „Sie improvisieren mit Zeltplanen, es | |
| gibt kein Trinkwasser, kein Licht und keine sanitären Anlagen“, fügt ihr | |
| Kollege Pablo Poveda hinzu. Niemand könne sich während dieser Monate um die | |
| Gesundheit oder Bildung der Kinder kümmern. Sie seien unter dem Dach des | |
| Waldes verschwunden. „Natürlich sollten auch Kinder lernen zu arbeiten“, | |
| sagt Silvia Escóbar. „Aber nicht so!“ Sie hat Verständnis für die prekä… | |
| Situation der Familien – doch die Kinder deshalb solchen Gefahren | |
| aussetzen? Das ist für sie und ihren Kollegen keine Lösung. | |
| Wie gefährlich die Ernte der Paranusskerne sein kann, erfährt man in der | |
| Schule von Riberalta. Die Rektorin hat einige Schüler zusammengerufen, die | |
| im Innenhof davon erzählen. Es sind zierliche Heranwachsende in | |
| Schuluniformen, zwischen 12 und 15 Jahren alt. „Nach dem Frühstück gehen | |
| wir von 8 Uhr morgens bis 6 Uhr abends in den Wald. Essen gibt es | |
| zwischendurch nicht“, sagt einer von ihnen. „Mich hat mal fast eine | |
| Anakonda gekriegt!“, sagt ein anderer und lacht. „Früher hatte ich Angst, | |
| heute nicht mehr“, sagt wieder einer. „Man gewöhnt sich dran“, fügt er … | |
| lässigem Tonfall hinzu – und schielt zu den Mädchen herüber, die gerade | |
| zuhören. | |
| Während sich die Jungen mit ihren Geschichten brüsten, wirkt die | |
| Schulleiterin besorgt. „Sie verpassen viel“, sagt sie mit leiser Stimme, | |
| nachdem sie den Jungen den Rücken zugewandt hat. Manche kämen erst drei | |
| oder vier Wochen verspätet zurück aus den Ferien, weil die Ernte im Wald | |
| noch angedauert hat. Anschließend seien sie ausgelaugt. „Sie schlafen mit | |
| dem Kopf auf dem Tisch, weil sie so müde sind.“ | |
| Gegenüber der Schule liegt das Krankenhaus der Stadt. Hier misst ein | |
| Oberarzt die Gefahren der Ernte in Zeit: Es könne Stunden dauern, manchmal | |
| sogar einen ganzen Tag, bis ein Krankenwagen einen Verletzten im Wald | |
| erreiche, erzählt er. Oft sei es dann aber bereits zu spät – wenn sich zum | |
| Beispiel eine Paranuss aus der Baumkrone gelöst und eine Schädeldecke | |
| zertrümmert habe. Auch abgehackte Finger, Infektionen und Malaria gehörten | |
| zum Alltag der Zafreros. „Die Ernter gehen gesund in den Wald und kommen | |
| krank wieder heraus“, sagt der Arzt. Diesen Satz hört man hier häufiger. | |
| Das gesunde „Superfood“ macht in Bolivien krank. Die Handelsfirmen und | |
| Supermarktketten wissen von diesen Erntebedingungen – und sehen sich | |
| dennoch nicht in der Verantwortung. „Die Paranussernte ist ein hochgradig | |
| informeller Sektor“, schreibt beispielsweise Voicevale in einer | |
| Stellungnahme auf Anfrage der taz. | |
| Das britische Unternehmen gehört zu den größten Importeuren von | |
| Paranusskernen in die EU und hält in Riberalta Anteile an einer | |
| Verarbeitungsfabrik. „Obwohl unsere Lieferanten alle Anstrengungen | |
| unternehmen, ihre Sammler dazu zu erziehen, nicht die Hilfe ihrer Kinder in | |
| Anspruch zu nehmen, wäre es falsch anzunehmen, dass dies nicht zum Teil | |
| geschieht“, gibt Voicevale zu – und offenbart mit dem „Erziehungsanspruch… | |
| gleichzeitig ein fragwürdiges Verständnis von Zusammenarbeit. | |
| Und auch das Unternehmen Seeberger argumentiert mit Unwissenheit: „Wir | |
| können die Lieferkette bis zur Weiterverarbeitungsfabrik zurückverfolgen. | |
| Die Sammlung der wild wachsenden Paranüsse im Amazonas-Urwald erfolgt meist | |
| autark durch die einheimische Bevölkerung.“ | |
| Geht es um Kinderarbeit, verlassen sich die Unternehmen auf die | |
| vorgeschalteten Glieder der Lieferkette. So verweist der Discounter Lidl, | |
| der unter der Eigenmarke Alesto Paranusskerne aus Bolivien im Sortiment | |
| führt, auf den firmeneigenen „Code of Conduct“: Kinderarbeit sei darin | |
| ausgeschlossen, die Lieferanten verpflichteten sich, im Einkauf darauf zu | |
| achten. | |
| Der Großhändler Voicevale wiederum versucht nach eigenen Angaben, mit | |
| lokalen Kontaktpersonen zusammenzuarbeiten und die Lieferkette so besser im | |
| Blick zu behalten. Zudem finanziert er eine Broschüre zur | |
| Arbeitssicherheit, die eine bolivianische NGO mit Fokus auf | |
| landwirtschaftliche Entwicklung erstellt hat. | |
| Zu lesen ist da von Erster Hilfe bei Unfällen, Arbeitsrecht, Helmen und | |
| Gummistiefeln. An 600 Arbeiter sei sie bisher verteilt worden, teilt | |
| Voicevale mit. So wird die Verantwortung für Arbeitssicherheit und | |
| Kinderrechte immer weiter nach unten gereicht – bis hin zu jenen Familien | |
| im Regenwald, die auf die Ernte angewiesen sind. Das macht die Situation | |
| ungleich komplizierter. Denn die Vorstellung davon, was Kinderarbeit ist, | |
| gehen im Fall der Paranusskerne weit auseinander. | |
| Die Sonne steht mittlerweile senkrecht am Himmel, Horfilio und Ismael haben | |
| sich neben die Paranüsse in den Schlamm gesetzt. Mit der linken Hand | |
| drücken sie die Nüsse auf den Boden, mit der rechten lassen sie im | |
| Sekundentakt die Macheten herabsausen. Es kracht metallisch, wenn die | |
| Klinge auf die harte Schale trifft – einen, vielleicht zwei Zentimeter von | |
| ihren Fingerkuppen entfernt. | |
| Nach wenigen Hieben bricht die Schale auseinander. Horfilio und Ismael | |
| lassen die Paranusskerne in einen blauen Plastiksack fallen und greifen zur | |
| nächsten Nuss. Über eine Stunde wird es jetzt so gehen. Ismael wirkt | |
| gedankenverloren, während seine kleine Hand die riesige Machete steuert. | |
| Steht er in der Runde seiner erwachsenen Mitstreiter, macht es den | |
| Anschein, als habe jemand seinen Sohn spaßeshalber zum Holzfällen | |
| mitgebracht. Den Blicken Fremder weicht er eingeschüchtert aus, und doch | |
| ist da auch ein wenig Stolz in seiner Brust. Von Zwang oder Widerwillen | |
| keine Spur. | |
| Oft begegnet man Schulterzucken bei denen, die der Vorwurf der Kinderarbeit | |
| eigentlich betrifft. Kinderarbeit? Hier? Wenn es in der Region Aufstände | |
| gibt, dann nicht dagegen, dass Kinder bei der Ernte mitarbeiten, sondern | |
| gegen gesunkene Kilopreise am Fabriktor. Auch Horfilio Villanueva wirkt | |
| gleichgültig. „Wir lernen hier alle früh, mit der Machete umzugehen“, sagt | |
| er. | |
| „Die Arbeit ist Teil unserer Kultur.“ Eine Erzählung, die nicht nur dem | |
| Gesetz widerspricht, sondern auch der westeuropäischen Vorstellung von dem, | |
| wie eine gute Kinder- und Jugendzeit auszusehen hat. Doch je länger man | |
| sich in Riberalta aufhält, desto unschlüssiger wird man: Was ist | |
| Kinderarbeit? Wie würden die bolivianischen Jungen über ihren Alltag | |
| denken, würden sie ihn anders kennen? Und wie viel ist tatsächlich Kultur, | |
| wie viel eigentlich Armut Alternativlosigkeit, Abhängigkeit? | |
| Eine Ambivalenz, die Vincent Vos gut kennt. Vos ist freiberuflicher | |
| Biologie und Mitautor diverser Studien zum Paranussbaum und den | |
| Arbeitsbedingungen bei der Ernte. Die Broschüre zur Arbeitssicherheit, die | |
| die bolivianische NGO mithilfe des Großhändlers Voicevale veröffentlicht | |
| hat, hat er maßgeblich verfasst. Ursprünglich kommt Vos aus den | |
| Niederlanden, seit 20 Jahren lebt er in Riberalta, er versteht beide | |
| Lebensrealitäten. | |
| „Wenn die Mutter den ganzen Tag in der Verarbeitungsfabrik sitzt und sich | |
| die Finger wund arbeitet, dann will der Sohn eben auch etwas beitragen“, | |
| sagt Vos. Wer mithelfen könne, schaffe Geld heran, unterstütze seine | |
| Angehörigen, die Dorfgemeinschaft. „Das ist eine Form der Familienhilfe.“ | |
| An diesem Tag verteilt er die Broschüre an Alfredo Guari und seinen | |
| zwölfjährigen Sohn Gumersindo. Auch sie waren unweit von Riberalta den | |
| ganzen Tag im Wald und haben Paranusskerne gesammelt. Auch hier das gleiche | |
| Bild: Die beiden wirken eingespielt, routiniert und Gumersindo stolz auf | |
| sein Geschick. „Bisher ist niemandem etwas passiert“, sagt er. Doch was | |
| wirklich in ihm vorgeht, bleibt unklar – auch hier übernimmt der Vater das | |
| Reden. | |
| „Manchen Jungen macht die Arbeit im Wald ja auch Spaß, sie mögen das“, | |
| meint Vincent Vos aus Gumersindos Verhalten ablesen zu können. In seinen | |
| Augen werde der Stempel „Kinderarbeit“ zu schnell von denen vergeben, die | |
| die Situation vor Ort nicht kennen. „Die Gesetze werden in La Paz gemacht“, | |
| sagt Vos trotzig. Aber man müsse die Lebensrealität der Menschen | |
| anerkennen. | |
| Eine Forderung, die in Bolivien häufig gestellt wird. Selbst vom ehemaligen | |
| Präsidenten Evo Morales. „In ländlichen Gebieten unterstützen Kinder ihre | |
| Familie, sobald sie Laufen gelernt haben. Das ist keine Ausbeutung, das ist | |
| ein Opfer, aber gleichzeitig auch Lebenserfahrung“, sagte Morales 2013 in | |
| La Paz. | |
| Nach eigenen Angaben habe er als Kind gearbeitet und zwei seiner Kinder zum | |
| Hüten von Lamas geschickt. Immer wieder wird in Bolivien deshalb | |
| diskutiert, ab welchem Lebensjahr es erlaubt sein sollte, eigenes Geld zu | |
| verdienen – als Schuhputzer beispielsweise oder als Marktverkäuferin. | |
| Doch bis zu welchem Grad lässt sich Kinderarbeit mit der Lebensrealität | |
| eines Landes rechtfertigen? Und wer entscheidet, was gut für die Menschen | |
| ist und was schlecht – wenn es an wirtschaftlichen Alternativen mangelt? | |
| Auch das im Juni beschlossene Lieferkettengesetz wird dieses Spannungsfeld | |
| betreffen. Ab 2023 verpflichtet es Unternehmen mit mindestens 3.000 | |
| Mitarbeitenden zur Einhaltung von ökologischen und sozialen | |
| Mindeststandards in ihrer gesamten Lieferkette. Ab 2024 gilt das Gesetz | |
| darüber hinaus für Unternehmen mit 1.000 Mitarbeitenden aufwärts. | |
| Die lebensgefährliche Ernte der Paranusskerne ist und bleibt ein | |
| Sonderfall. Schließlich ist sie selbst in Bolivien erst ab der | |
| Volljährigkeit erlaubt. Die Herkunft der Kerne hätte also schon längst | |
| genauer überprüft werden müssen. Gleichzeitig braucht es unter dem dichten | |
| Blätterdach des Regenwalds aber auch Menschen wie Horfilio und Ismael oder | |
| Alfredo und Gumersindo, die das Verbot von Kinderarbeit mittragen. Doch wie | |
| realistisch ist das in einem der ärmsten Länder Südamerikas, in dem die | |
| Ernte der Paranusskerne etwa drei Viertel der Wirtschaftsleistung im | |
| Nordosten ausmacht? | |
| Für Silvia Escóbar von CEDLA fällt die Bewertung eindeutig aus. Die | |
| Familien kaschierten das als Familienhilfe oder Familienarbeit, sagt sie. | |
| „Aber da besteht für mich kein Zweifel: Das ist Kinderarbeit.“ Es sei ein | |
| Unterschied, ob sich das Kind seine Beschäftigung selbst suche oder | |
| Aufgaben zugeteilt bekomme und den finanziellen Druck der Eltern spüre, | |
| fährt sie fort. | |
| Die Familien seien so sehr in der finanziellen Abhängigkeit gefangen, dass | |
| sie diese Arbeitsbedingungen als gegeben hinnehmen. Und die Unternehmen | |
| würden dies ausnutzen, sagt sie, indem sie die Augen verschließen, vor dem, | |
| was vor den Fabriktoren geschehe – ebenso die Regierung: „Wir haben seit 20 | |
| Jahren keinen Staat, der willens oder in der Lage wäre, die Gesetze in der | |
| Region durchzusetzen.“ | |
| Vincent Vos sieht die Lösung in einem Kompromiss: Anstatt auf ein striktes | |
| Verbot zu beharren, das im dichten Gestrüpp des Regenwalds ohnehin niemand | |
| kontrollieren könne, sollten die Arbeitsumstände verbessert werden. | |
| Schutzkleidung, höhere Löhne, mehr Kindergärten und Betreuungsangebote | |
| könnten ein Anfang sein, findet er. Denn würden die Zafreros besser | |
| bezahlt, würde der Druck auf die Jungen sinken, mit in den Wald zu kommen. | |
| Die Unternehmen müssten an einem nachhaltigen Konzept für die Region | |
| mitwirken, an einer Lieferkette auf Augenhöhe. | |
| Am Mittag werden die Machetenhiebe von Horfilio Villanueva und seinem | |
| Neffen Ismael langsamer. Nach fast zwei Stunden hören sie auf. Beide Säcke | |
| sind nun bis zum Rand gefüllt. Horfilio schultert einen davon, 70 Kilo | |
| wiegt er etwa. Beim Zwischenhändler an der Flussbiegung wird er dafür 480 | |
| Bolivianos in die Hand gedrückt bekommen, 60 Euro. Geld für Lebensmittel, | |
| für seine Frau und Tochter in Cobija und seinen Neffen Ismael. | |
| „So ist das eben bei uns“, sagt Horfilio, den Blick auf die übrig | |
| gebliebenen Paranüsse am Waldboden gerichtet. Wie Taler liegen sie da, man | |
| muss sie nur aufheben. Ismael scheint in diesem Moment nicht zuzuhören. | |
| Verträumt fixiert er einen Punkt im Wald. Er hat einen Schwarm bunter | |
| Schmetterlinge entdeckt. | |
| 14 Aug 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Franke | |
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