# taz.de -- Auszeit im Lechtal: Wildes Kneippen | |
> Die Orte des Tiroler Lechtals erfinden sich als Auszeitdörfer neu. Dabei | |
> hilft ihnen die „Lebensspur Lech“, ein grenzüberschreitendes EU-Projekt. | |
Bild: Kneippen im eisigen Gebirgsbach | |
In Hinterhornbach endet die neun Kilometer lange, kurvenreiche Straße, die | |
aus dem Lechtal auf 1.101 Meter Höhe führt, in einer Sackgasse. Ein paar | |
verstreute Häuser, Bauernhöfe, eine Handvoll Gasthöfe, eine Kirche. Sonst | |
nichts. Keine Schule, kein Geldautomat, kein einziges Geschäft. Es ist das | |
hinterletzte Dorf in einem Seitental des Lechs mit 91 Einwohnern. Wie lebt | |
es sich hier? Und was macht man, wenn man auf Urlaub ist? | |
Ich setze mich in einen der von Almdudler gesponserten Liegestühle, die | |
gegenüber vom Gasthaus Adler am Straßenrand stehen, und sehe mich um. Unter | |
mir rauscht der Hornbach, vor mir liegt eine Wiese voller Almblumen. | |
Kniehoher Kerbel, jede Menge Löwenzahn und rosa Lichtnelken wuchern im | |
saftig grünen Gras, oben runden von Schneeflecken gescheckte Gipfel das | |
Postkartenpanorama ab. Da gibt es wohl schlimmere Orte. Jedenfalls bekommt | |
man bei dem Anblick Lust, die Gegend zu erkunden. Schilder weisen den Weg | |
zur Petersbergalm, wo in hundertjähriger Sennertradition Almbutter und Käse | |
gemacht werden. Ansonsten könnte man auch auf den früheren Schmugglerpfaden | |
wandern, die auf verschlungenen Wegen ins Nachbarland führen, oder den | |
2.592 Meter hohen Hochvogel besteigen. | |
Als ich Daniela Pfefferkorn treffe, lassen wir es erstmal ruhig angehen. | |
Wir laufen vom Ortsende aus an zwei verlassenen Gehöften vorbei und weiter | |
zum Kraftplatz Am Anger. Ein Bildhauer aus dem Tal, Ernst Schnöller, hat | |
ihn gestaltet. Zwei lange Liegen aus Holz, ein großer Tisch mit Bänken und | |
zwei Türme aus Steinen gruppieren sich um ein Bächlein herum, das zu einer | |
Wassertretstelle aufgestaut wurde. Ideal zum [1][Kneippen.] Ich ziehe schon | |
mal Schuhe und Strümpfe aus. Aber Daniela bremst: „Die Füße müssen erst | |
ganz warm sein, bevor man sich im Storchengang durchs Wasser bewegt“, sagt | |
sie. „Am besten erstmal barfuß durchs Gras laufen. Und danach nicht | |
abtrocknen!“ | |
## Jeder Griff sitzt | |
Das Wasser aus dem Gebirgsbach ist eisig, ich zucke zusammen. Erst recht | |
beim Knieguss, den die Lechtalerin mir vorführen will. Dazu füllt sie eine | |
Gießkanne mit Wasser und begießt meine Beine, als wären es durstige | |
Pflanzen. Vom rechten Fuß fährt sie hoch bis zum Knie und an der Innenseite | |
der Unterschenkel wieder hinunter. Der kalte Strahl ist kaum zu ertragen. | |
Aber jeder Handgriff sitzt. Als Produktmanagerin des Lechtalwegs hat | |
Daniela vor einiger Zeit noch eine Ausbildung zur | |
Kneipp-Gesundheitstrainerin gemacht. Aus Interesse, wie sie sagt. Aber die | |
Lehrgänge sind auch Teil des EU-Projekts „Lebensspur Lech“, das den | |
Tourismus rund um den Wildbach stärken soll. | |
Ein paar mehr Besucher könnte das strukturschwache Lechtal schon vertragen, | |
damit nicht alle zum Arbeiten in die nächstgrößeren Städte pendeln müssen | |
oder ganz abwandern. Nicht, dass man sich gleich zu einer Tourismushochburg | |
wie Lech am Arlberg entwickeln möchte. „Früher haben wir in andere Regionen | |
geschielt und gedacht, wir hätten etwas versäumt“, sagt Anja Ginther, die | |
bei Lechtal Tourismus für Marketing zuständig ist. Heute sei man dagegen | |
froh, dass hier nicht alles zugebaut wurde und die Gegend gute Bedingungen | |
für einen naturnahen Tourismus bietet. Der wird seit einigen Jahren | |
mithilfe des Interreg-Programms angeschoben. Zum einen finanziert es | |
Schulungsmaßnahmen, zum anderen neue Infrastruktur. | |
Bevor die einzelnen Orte mit Kraftplätzen aus Lärchenholz und Natursteinen | |
versorgt wurden, ging 2012 schon der Lechweg, ein grenzüberschreitender | |
Weitwanderweg, an den Start. In sieben bis zehn Etappen folgt er dem | |
Flusslauf von der Quelle bei Lech am Arlberg bis zum Lechfall bei Füssen im | |
Allgäu und hat sich erfolgreich etabliert. Neben dem Tourismusverband | |
bieten auch Wanderreiseveranstalter wie Wikinger oder die Alpinschule | |
Innsbruck (ASI) Pauschalen mit Gepäcktransfer an. „In der Saison ist hier | |
ganz schön was los“, hat Anja Ginther beobachtet. „Zwar sind Wanderer, die | |
nur für eine Nacht Station machen, bei den Vermietern nicht allzu beliebt. | |
Doch es hat sich gezeigt, dass viele wiederkommen, um länger in Orten wie | |
Holzgau zu verweilen.“ | |
Da kann es nicht schaden, wenn man ihnen beim intensiven Naturerleben auf | |
die Sprünge hilft. Mit geführten Wanderungen und vor allem mit Angeboten | |
der [2][Kneippschen Gesundheitslehre]. Darauf konzentriert sich das Tal | |
nicht unbedingt, weil sich gerade der Geburtstag des Pfarrers Sebastian | |
Kneipp zum 200. Mal jährt, der im nahegelegenen Allgäu seine Theorien | |
entwickelte. Vielmehr bieten sich die natürlichen Gegebenheiten des Tals | |
dafür an. „Wir kühlen uns ja oft die Füße in den vielen Gebirgsbächen und | |
praktizieren eine Art wildes Kneippen. Das habe ich schon als Kind gemacht, | |
ohne zu wissen, wofür es gut ist“, meint Kneipp-Expertin Daniela. Nun will | |
sie Besuchern – und durchaus auch Einheimischen – die Kneippsche Lehre | |
nahebringen, die eine gute Gesundheitsprävention ist. Sie beruht auf fünf | |
Säulen: Wasser, Bewegung, Ernährung, Kräuter und innere Ordnung. | |
## Wo nichts ist, ist Auszeit | |
Mit dem Wassertreten habe ich bereits Bekanntschaft gemacht. Wie werden die | |
anderen Themen umgesetzt? In Sachen Ernährung scheint man – bisher – auf | |
die gute, regionale Küche von Restaurants wie der „Lechzeit“ in Elmen | |
angewiesen zu sein. Und die innere Ordnung? „Hier geht es vor allem um das | |
Thema Schlaf. Dem nimmt sich speziell Füssen mit speziellen | |
Schlafgastgebern an“, erklärt Tourismusfachfrau Ginther. | |
Die Themen Bewegung und Kräuter lassen sich indessen gut beim Wandern | |
verbinden. Ich probiere es mit der etwa zehn Kilometer langen Etappe des | |
[3][Lechwegs] von Holzgau nach Bach. Dafür gibt es wohl kaum eine bessere | |
Begleiterin als Sigrid Wolf. Als ehemalige Olympiasiegerin, die 1988 in | |
Calgary die Goldmedaille in den Disziplinen Abfahrtsski und Super-G geholt | |
hat, kennt sie sich mit allen möglichen Bewegungsarten vom Skifahren über | |
Yoga bis Bergsteigen aus. Inzwischen gehört sie aber auch zu den Lechtaler | |
Kräuterhexen, die geführte Kräuterwanderungen anbieten. Eine | |
Weltcupskiläuferin als Kräuterhexe? | |
Wie es dazu kam, erzählt sie mir, nachdem wir die anfänglichen Hürden der | |
Tour genommen haben. Erst steigen wir durch die tiefe Schlucht des | |
Höhenbachs auf, wo das Wasser mit unglaublicher Wucht den Simmswasserfall | |
hinunterschießt und sich ein paar Wagemutige auf einem Klettersteig über | |
die Felswände hangeln. Nicht minder spektakulär ist die 200 Meter lange | |
Hängebrücke, die 110 Meter über dem Abgrund schwebt. Als wir die passiert | |
haben, wird es gemütlicher, der Weg führt in stetem Auf und Ab durch Wald | |
und Wiesen. Doch gerade da kommen wir kaum voran, weil es auf Schritt und | |
Tritt unzählige Pflanzen zu entdecken gibt. Hier der violette Wiesensalbei, | |
dort Spitzwegerich, Frauen- oder Silbermantel – die Expertin weiß bei jedem | |
Kraut, wofür oder wogegen es gewachsen ist und ob man es besser zu Tee, | |
Salbe oder Tinktur verarbeitet. | |
„Früher bin ich über alles mit den Skiern weggebrettert, ohne zu wissen, | |
was es ist“, erinnert sie sich. „Nur den Gelbwurz kannte ich. Da hat mir | |
meine Mutter immer eine Essenz für alle möglichen Unpässlichkeiten | |
mitgegeben.“ Die Ausbildung zur Kräuterpädagogin hat ihr die Augen für die | |
Heilkräuter in ihrer Heimat geöffnet. Ein ähnliches Aha-Erlebnis hatten | |
auch andere im Tal. Seitdem die Medien über die das Projekt Lebensspur Lech | |
berichten, soll auch so mancher nach langer Zeit mal wieder in die | |
entlegenen Seitentäler hinaufgefahren sein, um zu sehen, was sich dort oben | |
tut. | |
Vor vielen Jahrhunderten sind dort in Höhenlagen zwischen 1.100 und 1.518 | |
Metern Almsiedlungen entstanden, in denen die Menschen schließlich | |
dauerhaft wohnen blieben. Heute, wo nur noch die wenigsten von der | |
Landwirtschaft leben können und es sonst kaum Arbeit gibt, sind die Orte | |
vom Aussterben bedroht. Gramais ist mit seinen 41 Einwohnern bereits auf | |
die kleinste Gemeinde Österreichs zusammengeschrumpft. Kaisers, Pfafflar | |
und Hinterhornbach zählen kaum mehr als das Doppelte. Dank der Lebensspur | |
Lech erfinden sich die vier jetzt als Auszeitdörfer neu. Sie machen | |
sozusagen aus der Not eine Tugend: Wo nix ist, ist Auszeit. | |
Und nach der scheinen sich Gäste zu sehnen, die um Orte wie Ischgl lieber | |
einen Bogen machen. Allerdings brauchen auch sie neben der Ruhe und der | |
wilden Gebirgslandschaft ein Minimum an Infrastruktur. Deshalb wurden | |
marode Betriebe bei der Modernisierung oder auch ganz neue Projekte | |
unterstützt. So hat sich in Gramais beispielsweise ein junges Paar dazu | |
entschlossen, eine kleine Bergschule mit Basecamp zu gründen, die im Sommer | |
und Winter Wandertouren mit Huskys anbietet. „Mit den Hunden kann man sogar | |
renitente Jugendliche zum Bergsteigen bewegen. Die finden das cool, wenn | |
sie von den Tieren hochgezogen werden“, hat Claudia Lindner beobachtet, die | |
ursprünglich aus Dresden stammt und sich schon früh in die Gegend verliebt | |
hat. | |
## Die Zugezogenen | |
Um sich eine neue Existenz in dem Auszeitdorf aufzubauen, haben sie und ihr | |
Mann Hubertus gut bezahlte Jobs im IT-Management oder Marketing aufgegeben | |
und inzwischen in der Gemeinde auch mit einem eigenen Kind für neues Leben | |
gesorgt. „Wenn noch ein paar dazukommen, reicht es vielleicht für eine | |
Dorfschule“, träumt die junge Mutter von einer Zukunft im Auszeitdorf. | |
Wie sie haben sich auch andere Aussteiger in den Bergdörfern angesiedelt. | |
Andere Lechtaler kommen zurück oder beschließen dazubleiben, weil ihnen das | |
EU-Projekt neue Perspektiven eröffnet. So war es auch bei Christoph | |
Eisnecker vom „Adler“ in Hinterhornbach. Den Landgasthof hat schon sein | |
Urgroßvater gegründet, doch irgendwann ging es nicht mehr recht weiter. | |
Dank der Hilfen konnte der gelernte Küchenchef vor einigen Jahren die | |
behutsame Modernisierung in Angriff nehmen. | |
Ohne jeden Schnickschnack, aber mit viel Holz und soliden Materialien hat | |
er den bodenständigen Familienbetrieb zukunftsfähig gemacht. Mit 25 Betten | |
ist er gerade so groß, dass er ihn mit einem kleinen Team bewirtschaften | |
kann – und auch noch Zeit für sein Hobby hat: die Enten und Ziegen, die | |
sich auf der Wiese Guten Tag sagen. Ach ja, bei ihm fällt sie mir wieder | |
ein, die fünfte Säule der Kneippschen Lehre: die innere Ordnung, die man | |
heute mit Work Life Balance übersetzt. Christoph Eisnecker im Auszeitdorf | |
Hinterhornbach lebt sie seinen Gästen vor. Auch wenn er sich selbst kaum | |
eine Auszeit gönnt… | |
4 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Wiebrecht | |
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