| # taz.de -- Die Wahrheit: Brummende Reiter der letzten Tage | |
| > Sie machen Krach, legen sich in die Kurven, bieten bei | |
| > Transplantationswetter ihre inneren Organe feil. Eine kleine Typologie | |
| > der Motorradfahrer. | |
| Als Steckenpferd ist das Motorrad dem Untergang geweiht – wie das Erstellen | |
| von Mixtapes, das Sammeln von Abdichtgummis auf Colaflaschen mit Bild drin | |
| oder das Onanieren zur Bademode im aktuellen „Otto“-Katalog. Alte sterben | |
| aus, Junge spielen lieber Playstation. Wenn sich doch einmal Nachwuchs auf | |
| eine Suzuki oder ähnliches schwingt, verwechselt er die Straße mit der | |
| Playstation und stirbt ebenfalls. Anwohner stark befahrener Strecken im | |
| Ländlichen werden widersprechen, aber die Sache ist vorbei, over, finito, | |
| passé. Hohe Zeit also für die Wahrheit, die „Reiter der letzten Tage“ in | |
| einer kleinen Typologie unter die Lupe zu nehmen. | |
| Assistenzsystemfahrer fahren nicht mehr selbst, sie lassen fahren – nämlich | |
| ihre Assistenzsysteme. Die dienen vor allem dazu, die absurde Motorleistung | |
| entgegen jeder Vernunft und aller Gesetze der Physik auf die Straßen zu | |
| bringen. Der Hinterreifen kann nicht mehr durchdrehen, der Vorderreifen | |
| nicht mehr abheben. Wenn’s regnet, hat die Maschine statt 200 nur noch 20 | |
| PS. Kurventaugliche Schlupfkontrolle verhindert ein Wegrutschen des | |
| Reifens in der Kurve, Abstandsradar ein zu dichtes Auffahren. Der | |
| Totwinkel-Assistent erkennt, wenn man sich im toten Winkel eines | |
| Autofahrers befindet. Falls es doch einmal knallt, ruft das Moped per GPS | |
| und Funk autonom den Notarzt. Wenn das Motorrad den Unfall besser | |
| überstanden hat als sein Fahrer, übernimmt es auch die Reha. | |
| Heizer sind, wie Harleyfahrer, Relikte einer vergangenen Ära. Sie fahren | |
| gern „sportlich“ und tragen Leder, dessen Beinkleid dergestalt abgepolstert | |
| ist, dass sie in Kurven das Knie über den Asphalt schleifen lassen können. | |
| Ihre Fahrzeuge wiegen weniger als ein Kleinkind und haben bis zu 200 PS, | |
| vor wenigen Jahren noch hätten sie damit mühelos Weltmeisterschaften für | |
| sich entschieden. Heute säbeln sie damit durch den Taunus. Heizer orgeln | |
| gern und montieren „Rennauspuffe“. Wenn wegen ihres Radaus im Grünen schö… | |
| Strecken gesperrt werden, protestieren sie dagegen orgelnd in den | |
| Innenstädten. Von vorn sehen ihre Maschinen meistens aus, als würden sie | |
| sagen: „Ergebt euch, Erdlinge, oder ihr werdet eliminiert!“ Heizer | |
| betreiben eine ohnehin riskante Tätigkeit mit enormer „Risikobereitschaft“. | |
| Sie sind die Freikletterer der Szene. | |
| GS-Fahrer fahren eine BMW der GS-Baureihe. Die GS ist die meistverkaufte | |
| Maschine aller Zeiten und erinnert von vorn an Karl Dall, weil ein | |
| Scheinwerfer traditionell kleiner ist als der andere. Früher kauften | |
| Zahnärzte noch Harley, heute das angeblich geländetaugliche SUV auf zwei | |
| Rädern. Die GS erweckt den Eindruck, man könnte mit ihr stehenden Fußes und | |
| in einem Rutsch von Kassel bis Kapstadt durchfahren, und zwar mit einer | |
| Tankfüllung. Tatsächlich bedienen sich echte Afrikafahrer lieber | |
| schlichterer Modelle, die überdies nur einen Bruchteil dessen kosten, was | |
| der GS-Fahrer für seine vermutlich an Bord der Internationalen Raumstation | |
| ISS handgenähte Kombi hinzublättern bereit ist. | |
| Steckdosenfahrer bilden die Avantgarde des Motorradfahrens und sich darauf | |
| sehr viel ein. Statt „auf dem Bock“ sitzen sie auf einer Batterie, statt | |
| von einem klassischen Knattern (siehe: Harleyfahrer) werden sie von einem | |
| beinahe lautlosen Summen begleitet. Nicht nur, dass Autofahrer das Moped | |
| mit seiner schmalen Silhouette leider „nicht gesehen“, nein, jetzt werden | |
| sie es nicht einmal mehr gehört haben. Der E-Fahrer ist wie der | |
| E-Fahrradfahrer, also kein echter Fahrer, dafür aber ein schneller. Zum | |
| Ausgleich geht dem Gerät an der nächsten Straßenecke zuverlässig der Saft | |
| aus. Als ein US-Anbieter sein umweltfreundliches Elektromodell der Presse | |
| vorführte, natürlich auf der legendären Route 66, fuhr der Strom | |
| vorsichtshalber mit – auf Trucks mit Dieselgeneratoren. | |
| Warnwestenfahrer sind auf allen Modellen zu finden (mit Ausnahme von | |
| Harley) und dem Flüstern der Vernunft („Lass es sein! Es ist irre | |
| gefährlich!“) insofern zugänglich, als sie in grellgelb reflektierenden | |
| Westen durch die Landschaft zockeln. Sie sind das Gendersternchen unter den | |
| Motorradfahrern. Als kurze Pausen auf zwei Rädern wollen sie für mehr | |
| Sichtbarkeit sorgen. Warnwestenfahrer lieben Assistenzsysteme, alles muss | |
| vernetzt sein. Gern tragen sie Integralhelme mit Gegensprechanlage, um sich | |
| jederzeit über das Verkehrsaufkommen informieren zu können. Ist es zu hoch | |
| oder hektisch, bleiben sie sicherheitshalber zu Hause. | |
| Harleyfahrer sind die Quastenflosser unter den Motorradfahrern. Wer Harley | |
| fährt, könnte ebenso gut im Naturkundemuseum auf dem Skelett eines | |
| Dinosauriers reiten. In Innenstädten und von Ampel zu Ampel kommt der | |
| „Sound“ voll zur Geltung, weshalb der Harleyfahrer sich bisweilen wundert, | |
| warum ihm Passanten dafür nicht spontan Applaus zollen. Seine | |
| schmeißfliegenhafte Omnipräsenz im Urbanen steht in Gegensatz zu seinem | |
| Vorkommen jenseits der Stadtgrenzen. Mit seinem adipösen US-Vehikel meidet | |
| er konsequent enge Landstraßen, weil seine Schräglagenfreiheit bereits an | |
| ihr Ende gekommen ist, wenn man es auf den Seitenständer stellt. | |
| GoPro-Fahrer sind, wie die Elektrofahrer auch, Sendboten einer Zukunft, in | |
| der das Motorrad keinen Platz mehr haben wird. Mithilfe einer | |
| würfelförmigen Kamera am Helm dokumentieren sie jeden zurückgelegten | |
| Kilometer, um am heimischen Rechner daraus Filmchen zu schneiden und mit | |
| Musik von Steppenwolf zu unterlegen. Bei Youtube kann man die Ergebnisse | |
| besichtigen. Der GoPro-Fahrer ist nicht um des Fahrens oder der Landschaft | |
| willen unterwegs, sondern weil er sich gern dabei zuschaut. Immer häufiger | |
| montiert er daher die Kamera am Lenker – und filmt sich selbst beim Fahren. | |
| Auf diese Weise entstehen immerhin beeindruckende Unfallvideos, von denen | |
| andere Motorradfahrer und Notärzte vor dem ersten Einsatz viel lernen | |
| können – besonders bei „Transplantationswetter“, wie Mediziner es nennen, | |
| wenn die Sonne lustig scheint und viele Motorradfahrer auf die Piste | |
| treibt. | |
| Wiedereinsteiger sind Männer wie Frauen, gern auch im Doppelpack (er das | |
| große, sie das kleinere Moped), denen die Midlife-Crisis ein letztes | |
| Abenteuer diktiert, so wie der sterbende Baum ein letztes Mal ausschlägt. | |
| Die finanziellen Mittel sind inzwischen da, also muss es entweder eine | |
| Harley oder eine GS sein, die dann mit allen Assistenzsystemen ausgestattet | |
| und ausschließlich mit Warnweste gefahren wird. Der Wiedereinsteiger nimmt | |
| jede Fahrt mit der GoPro-Kamera auf. So kann er sich, wenn er die Maschine | |
| nach spätestens einem Jahr wieder verkauft, seinem „wilden Jahr“ wenigstens | |
| auf Festplatte erfreuen. Es ist das letzte Stadium seines ebenso brummenden | |
| wie schleichenden Todes. | |
| 3 Jul 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Arno Frank | |
| ## TAGS | |
| Verkehr | |
| Motorrad | |
| Transplantation | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Verkehr | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Hamburger Harley Days: Maulhelden im Rückwärtsgang | |
| Die Hamburger Harley Days sind eine sexistische Veranstaltung aus dem | |
| letzten Jahrtausend. Das Gute daran: Man muss sie nicht ernst nehmen. | |
| Die Wahrheit: Unser wackerer und wackliger Elki | |
| Monatelang stand ein teures Spezialfahrzeug schwer symbolisch auf der | |
| maroden und einsturzgefährdeten Salzbachtalbrücke. | |
| Die Wahrheit: Zeitgeist mit Blasenschwäche | |
| Eine Mitgliedschaft im Automobilclub mag mittlerweile anrüchig sein, sorgt | |
| aber immerhin für Aufenthalte an ungewöhnlich duftenden Orten. | |
| Die Wahrheit: Im Speckgürtel des Speckgürtels | |
| Die Erfolgsautorin gönnt sich nach ihrem ersten Roman nahe der Metropole | |
| eine Datscha und sinniert herrlich lakonisch über das Leben. | |
| Die Wahrheit: Zu Besuch bei Maike Kohl | |
| Oggersheim ist nicht Beverly Hills. Das ist trotz des weltberühmtesten | |
| Bunkerbungalows der Welt schon klar gewesen. | |
| Die Wahrheit: Beschnittener Semitismus | |
| Als im Nahen Osten die Raketen flogen, war es an der Zeit, die Musik- und | |
| Literaturbestände zu überprüfen: Was ist jüdisch? Und was arabisch? | |
| Die Wahrheit: Die schweizerischste aller Schweizen | |
| Das Gebilde zwischen Deutschland und Italien wäre vermutlich ein gewaltiger | |
| Flächenstaat in der Mitte des Kontinents, wenn man es glättete. |