# taz.de -- Publikum bei Sportveranstaltungen: Elite und Pöbel | |
> Mit dem modernen Sport kamen auch die Zuschauer in die Arenen. Wie Sport | |
> zum Massenphänomen wurde und welche Probleme damit aufgekommen sind. | |
Bild: Bleiben bei den Olympischen Spielen 2021 leer: Die Ränge im Stadion für… | |
BERLIN taz | Am Anfang sollte sich das ja niemand angucken. Was nun bei den | |
Olympischen Spielen in Tokio ansteht, [1][große Wettkämpfe ohne Zuschauer], | |
verweist auf die Anfänge des Sports. Zu den Olympischen Spielen 1896 in | |
Athen waren gar nicht viele Zuschauer gekommen. Das Stadion fasste zwar | |
70.000 Menschen, voll war es aber nur an einem Tag, als der Marathonlauf | |
stattfand. Aber auch da war für das gemeine Volk der Zutritt nicht | |
vorgesehen. Nur die reicheren und mächtigeren Kreise waren dort, wo auch | |
die Königsfamilie das Fest genoss. „Ganz Griechenland war in Athen, der | |
ganze Adel im Amphitheater“, schrieb eine Zeitung damals. | |
So ungefähr darf man sich die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele am | |
Freitag, 23. Juli, in Tokio auch vorstellen: Der Kaiser ist da, ein wenig | |
mehr Leute auch, die allesamt gewiss sehr wichtig sind. Sonst niemand. | |
Moderner Sport war entstanden in den „Public Schools“, den englischen | |
Privatschulen. Hier bekamen Volksspiele Regeln – und ein interessanter | |
Widerspruch begann zu reifen: Wenn nicht mehr Dorf gegen Dorf Fußball | |
spielt, sondern elf junge Männer gegen elf junge Männer, gibt es auch | |
Ausgeschlossene, die zugucken wollen. Das aber war in den Public Schools | |
und den Colleges aber nicht vorgesehen. Anhänger des Gentlemensports | |
störten sich immer an der Demokratisierung, die ihnen wie die Übernahme | |
durch den Pöbel erschien. | |
Aber: Sport war eine soziale Veranstaltung, die Zuschauer benötigte. Als | |
Fußball, Kricket oder Rugby nicht mehr nur in den Eliteinternaten gespielt | |
wurde, sondern reiche Geschäftsleute ihre Sportclubs gründeten, waren es | |
zunächst Vereinsmitglieder, die zum Gucken kamen und anfeuerten – und die | |
entstammten meist der Mittel- oder Oberschicht. Von der ersten Saison der | |
englischen Football League, der ersten Profiliga der Welt, 1888/89 ist ein | |
Zuschauerschnitt von 4.600 überliefert. | |
## Die Massen machen sich auf | |
Das Tor stand nun offen. Immer mehr Menschen kamen, und während auf dem | |
Platz gerade Arbeiterteams aus dem englischen Norden die feinen Gentlemen | |
verdrängten, kamen auch immer mehr Menschen in die Stadien. Unterstützt | |
wurde das durch allerlei Faktoren: Durch Streiks konnte | |
Arbeitszeitverkürzung, also mehr Freizeit durchgesetzt werden. Und die | |
Eisenbahn sorgte dafür, dass größere Menschenmengen für ein Spiel in eine | |
andere Stadt fahren konnten. In der Saison 1913/14 hatte die Football | |
League schon einen Zuschauerschnitt von 23.100. | |
Die deutsche Entwicklung war ähnlich, nur kleiner und später: 1903 sahen in | |
Hamburg 1.200 Menschen das Finale um die Deutsche Meisterschaft, 1920 waren | |
es in Frankfurt schon 35.000 und 1922 in Berlin 58.000. Auch in puncto | |
Lautstärke zogen die Deutschen nach: In einer Studie von 1908, die England | |
und Deutschland vergleicht, wird erwähnt, englische Fußballzuschauer fielen | |
durch „einen fast unaufhörlichen Lärm“ auf, deutsche hingegen durch „nur | |
schwache Zurufe“. | |
Bei Olympischen Spielen wuchsen ebenfalls die Zuschauerzahlen an. Aus dem | |
Gentlemen vorbehaltenen elitären Fest wurde in den 20er Jahren ein | |
Weltereignis. Bei dem allerdings die Vorlieben deutlich auseinandergingen. | |
Ausverkauft bei den Olympischen Spielen etwa in Paris 1924 oder in | |
Amsterdam 1928 waren meist nur die Fußballspiele. | |
## Fans als Sicherheitsrisiko | |
Zur Geschichte der Zuschauer bei Sportereignissen gehört auch die Angst vor | |
der Masse, die sich der Kontrolle entziehen und von der ein Umsturz | |
ausgehen könnte. Ihr Eintrittsgeld mag man einbehalten, aber ein | |
Zusammenrotten möchte man verhindern. „Die ersten baulichen Maßnahmen | |
galten in Deutschland in der Regel nicht der Verbesserung des Komforts, | |
sondern dem Kassieren von Eintrittsgeldern“, schreibt der Fußballhistoriker | |
Dietrich Schulze-Marmeling. | |
Zäune und Mauern waren wichtiger als Toiletten. Tribünen wurden zunächst | |
für die bessere Gesellschaft gebaut, dem Volk blieb die unüberdachte | |
Gegengerade. Auch die Begriffe spiegeln die Angst vor Masse: Das Wort | |
„Fans“ kommt von Fanatikern, die in Italien übliche Bezeichnung für | |
Fußballanhänger, „Tifosi“, bedeutet, es seien die mit Typhus Infizierten … | |
mit Fußball so angesteckt wie andere mit Typhus. | |
Dieser Sicherheitswahn führte zu etlichen Unglücken. Am berühmtesten und | |
nachhaltigsten waren die Heysel- und die Hillsborough-Katastrophe 1985 | |
und 1989, wo Menschen gegen Zäune oder Mauern gedrückt und getötet wurden. | |
Sie führten zu einem Wandel der Stadionarchitektur dergestalt, dass | |
Sitzplätze favorisiert wurden – und damit ein neues Mittelschichtenpublikum | |
angezogen wurde. Proteste, die von Ultragruppen und Fanorganisationen | |
getragen werden, fanden nur teilweise Berücksichtigung. Und mit der | |
Coronakrise waren sie auch weitgehend perdu. | |
Der pandemiebedingte Ausschluss von Zuschauern ist für die Veranstalter von | |
Sportevents, seien es Vereine, Fachverbände oder Olympiakomitees, nicht | |
allzu schlimm, denn der allergrößte Teil der Einnahmen wird schon lange | |
nicht mehr durch Ticketverkäufe erwirtschaftet. Das Geld kommt durch | |
Fernseh- und Sponsorenverträge sowie durch Merchandising rein. | |
Der Widerspruch, der schon in den englischen Public Schools angelegt war, | |
dass man einerseits keine potenziell rebellierenden Zuschauer wünscht, | |
andererseits hingegen der moderne Sport, der nur von einer Handvoll Leuten | |
betrieben wird, Zuschauer benötigt, bleibt auch in Tokio bestehen. Die | |
Sportler werden am ehesten merken, [2][dass Fans eher zum Sport gehören] | |
als Fernsehkameras. | |
21 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Martin Krauss | |
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