# taz.de -- Berliner Spätkaufläden: „Ich bin 100 Prozent Späti“ | |
> Fast alle Spätibetreiber sind Einwanderer, die meisten kommen aus der | |
> Türkei, erzählt Tuncer Karabulut. Zumeist seien die Läden | |
> Familienbetriebe. | |
Bild: Tuncer Karabulut vor seinem Laden in Prenzlauer Berg | |
taz: Herr Karabultut, ist der Eindruck richtig, dass die meisten | |
Spätibetreiber einen Migrationshintergrund haben? | |
Tuncer Karabulut: Das stimmt. In Berlin gibt es über tausend Spätis, 90 bis | |
95 Prozent der Betreiber kommen aus Einwandererfamilien. Dabei handelt es | |
sich hauptsächlich um Menschen aus der Türkei, viele davon sind, so wie | |
ich, kurdischer Abstammung. | |
Das Spätkaufkonzept stammt aus der DDR. Wie kam es zu dieser Entwicklung? | |
Dafür gibt es viele Gründe. Viele Migranten waren früher Fabrikarbeiter. | |
Nach der Wende sind sie arbeitslos geworden. Sie haben dann versucht, neue | |
Wege zu gehen. Manche sind Taxifahrer oder Bäcker geworden, andere haben | |
ein Restaurant aufgemacht. Und manche haben dann die Lücke mit den Spätis | |
entdeckt. Viele Läden sind Familienbetriebe. | |
Die Spätibetreiber sind demnach Autodidakten? | |
Man braucht nicht unbedingt einen Schulabschluss, um einen Späti | |
aufzumachen. Aber man muss Geschäftssinn haben. Man muss ja auch die | |
Einkäufe und die Buchhaltung machen. Irgendwann lernt man das, aber einfach | |
ist es nicht. Man opfert die meiste Zeit für den Laden, sonst würde der | |
nicht laufen. | |
Der Vorsitzende des Spätiverbands, in dem auch Sie Mitglied sind, hat vier | |
Läden in Berlin. Kommt das oft vor? | |
Das ist eher selten, kaum einer kann sich das leisten. Unser Vorsitzender, | |
Alper Baba, hat das Glück, dass er eine große Familie hat. Aber ein großes | |
Unternehmen bedeutet auch viel mehr Verantwortung. Mir wäre das zu viel. | |
Ihr Späti befindet sich in der Danziger Straße in Prenzlauer Berg. Wie | |
haben Sie den Betrieb organisiert? | |
Mit 190 Quadratmetern ist das Geschäft vergleichsweise groß. Wir sind zu | |
dritt: ein Festangestellter, ein Teilzeitarbeiter und ich. Ich mache | |
meistens die Abendschicht. Wochentags bis 2 Uhr nachts, Freitag und Samstag | |
bis 3 Uhr. | |
Sie sind die Seele des Ladens? | |
Der Laden ist ein Stück weit wie das eigene Kind, wirklich! Das hat Vor- | |
und Nachteile. Der Nachteil ist, dass man auf vieles verzichten muss. Das | |
schafft nicht jeder, du musst immer hinterher sein. Und wenn du sagst, ich | |
habe keinen Bock, ich möchte nur 8 Stunden arbeiten und dann nach Hause | |
gehen, dann bist du kein Späti mehr. | |
Wie sehr sind Sie Späti? | |
100 Prozent (lacht). | |
Den Laden in der Danziger Straße gibt es seit vier Jahren, was haben Sie | |
vorher gemacht? | |
Vorher hatte ich ein Geschäft im Wedding im afrikanischen Viertel. Auch ein | |
Späti. Inzwischen bin ich seit 7, 8 Jahren im Geschäft. Davor war ich beim | |
Getränkegroßhandel. Ich habe schon einiges in meinem Leben gemacht. Ich bin | |
ja bald 58 (lacht). | |
Was gab es noch? | |
Ich bin mit 16 aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Das war 1979, | |
meine Eltern waren schon hier. Ich habe das Gymnasium besucht, aber vor dem | |
Abitur abgebrochen. Bei Siemens in Alt-Mariendorf habe ich als Monteur für | |
Autorelais gearbeitet. Als die Mauer fiel, hatten sie bei der BVG Busfahrer | |
gesucht. Ich habe mich beworben, einen dreimonatigen Intensivkurs gemacht | |
und dann fünf Jahre als BVG-Busfahrer gearbeitet. Dann bin ich in der | |
Kinder- und Jugendarbeit gelandet. In Freizeiteinrichtungen in Wedding und | |
Neukölln war ich 13 Jahre Erzieher. Das waren soziale Brennpunkte. Ich | |
bedauere immer noch ein bisschen, dass ich damit aufgehört habe. | |
Das Gespräch mit Karabulut findet an einem Stehtisch vor dem Späti in der | |
Danziger Straße statt. Ständig kommt jemand vorbei, grüßt oder winkt. | |
Sie scheinen hier bekannt zu sein wie ein bunter Hund. | |
Ich werde schnell mit Menschen warm. Das war auch in der Kinder- und | |
Jugendarbeit so. Viele konnten kein Deutsch, vor allem die arabischen und | |
kurdischen Kinder, die vor den Kriegen hierher geflohen waren. Wir haben | |
auch Elternarbeit gemacht. Ich interessiere mich für Menschen und versuche, | |
mit ihnen in Kontakt zu kommen – das ist eine Stärke von mir, aber auch von | |
vielen anderen Spätibesitzern, die ich kenne. Das ist ja unser Kiez, unsere | |
Klientel. Man kriegt alles mit … | |
Was unterscheidet Ihre jetzige Kundschaft von der früheren im Wedding? | |
Im Wedding waren natürlich deutlich mehr Migranten. | |
Winkt und ruft: „Hi Anne!“ | |
Hier ist es anders, sag ich mal. Hier gibt es Menschen fast aller Nationen. | |
Ich liebe alle Kulturen. Ich selber bin ja auch mit zwei Kulturen | |
aufgewachsen und dann kam hier noch die dritte dazu. Das ist eine tolle | |
Sache. Hier gibt es die Italiener, die Spanier, wir haben Kolumbianer, wir | |
haben Engländer. Alles Menschen, die hier im Kiez wohnen und arbeiten oder | |
studieren. Und dann sind da normalerweise natürlich auch noch die Touris. | |
Manche kommen extra wegen der Spätis nach Berlin. | |
Tatsächlich? | |
Ja, das ist so. Sie wollen unbedingt ein Späti-Erlebnis haben, von dem sie | |
zu Hause auch erzählen können. | |
Ein Späti-Erlebnis wäre was? | |
Spätis sind soziale Treffpunkte. Man steht draußen vor der Tür, trinkt in | |
Ruhe ein Bier oder ein anderes Getränk – es kann auch Tee sein –, und kommt | |
mit anderen Menschen in Kontakt. Die Politiker sollten sich mal die Zeit | |
nehmen und eine Woche lang in den Bezirken die Spätis angucken. | |
Worauf wollen Sie hinaus? | |
Niemand versteht, warum die Spätis sonntags und feiertags nicht mehr | |
aufmachen dürfen. Es gibt viele Leute, die schnell was kaufen wollen, weil | |
irgendwas im Haushalt fehlt oder weil sie sich mit einem kalten Getränk | |
oder Eis erfrischen wollen. Oder weil sie spontan backen wollen mit ihren | |
Kindern. Und was passiert? Sie stehen vor verschlossenen Türen. | |
Sie geraten ja richtig in Rage. | |
Von Getränken, Tabak und Paketannahme alleine, davon kann man nicht leben. | |
In den meisten Bezirken ist die Miete inzwischen ziemlich hoch. Das muss | |
erst mal wieder reinkommen. Die Sonn- und Feiertage sind die Tage, an denen | |
wir unseren eigentlichen Umsatz machen. | |
Was ist Ihre Forderung? | |
Unser Appell als Spätiverband ist, das Berliner Ladenöffnungsgesetz zu | |
modernisieren. Wir haben darüber schon im Abgeordnetenhaus mit der SPD, den | |
Linken und Grünen und auch mit der CDU gesprochen. Aber nichts bewegt sich. | |
Berlin ist kein kleines Dorf, wo um 20 Uhr die Bordsteine hochgeklappt | |
werden. Berlin ist eine Weltstadt. Die Gesetze sollten den Menschen Gutes | |
bringen und nicht gegen sie gerichtet sein. Ich kann dazu nur sagen: Bald | |
sind Wahlen. Wir, die Spätis, sind auch Wählerpotential. | |
Um wählen zu können, muss man die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Wie | |
steht es bei den Spätibetreibern damit? | |
Ich würde sagen, 70 bis 80 Prozent der Spätibetreiber haben den deutschen | |
Pass – ich übrigens auch. Wir sind Teil dieser Gesellschaft und gehen auch | |
wählen. Viele von uns sind politisch aktiv. Das sind Tausende von Menschen. | |
Viele unserer Getränkelieferanten haben einen Migrationshintergrund, da | |
hängt eine ganze Kette mit dran. Wenn wir an Sonn- und Feiertagen nichts | |
verkaufen, können auch die Lieferanten weniger verkaufen. Wenn sich das | |
nicht ändert, werden viele Spätis kaputtgehen. Viele. Und die Menschen | |
werden arbeitslos sein. Genau das wollen wir aber nicht. | |
Wie viele Spätis gibt es hier in der Gegend Greifswalder Ecke Danziger | |
Straße ungefähr? | |
Eine Menge. Fängt an zu zählen und gibt schnell auf. | |
Ich kenne die alle, klar. Ich habe mit allen Kontakt. Die meisten sind aus | |
der Türkei. Es gibt auch irakische Kurden, die einen Späti aufgemacht haben | |
oder syrische Kurden. Die Spätis werden immer bunter, das ist schön. | |
Eine Frau mit einem Kind an der Hand kommt vorbei. „Hallo Elke. Zum Kind: | |
Na, meine kleine Süße.“ | |
Das sind Nachbarn. Das ist überall so, es gibt ein gegenseitiges Vertrauen. | |
Viele Spätibesitzer haben auch eine Sozialarbeiterrolle. Es gibt viele | |
Menschen im Kiez, die alleine leben und nicht klarkommen. Und dafür sind | |
wir auch da. | |
Eine Straßenbahn rumpelt vorbei. | |
Oder in der Urlaubszeit. Die Schlüssel werden bei uns abgegeben und | |
abgeholt, wenn irgendwelche Besucher kommen in der Zwischenzeit. Oder, wenn | |
der Nachbar sagt: Ey mein Kind ist Linkshänder, der kriegt die Wohnungstür | |
nicht alleine auf. Jedes Mal, wenn der Junge kam, habe ich den Laden | |
zugemacht und bin mit ihm nach oben und habe die Tür aufgeschlossen. Ja | |
wirklich, das ist so. | |
Gibt es im Laden auch mal Ärger? | |
Klar passieren auch Dinge, die nicht schön sind. Wenn ein Betrunkener | |
reinkommt, ist die gute Stimmung manchmal schnell vorbei. Da musst du als | |
Betreiber dazwischen gehen. Es ist nicht immer alles Friede, Freude, | |
Einbahnstraße. So ist es nicht. | |
Warum gibt es im Späti-Business eigentlich kaum Frauen? | |
Tagsüber arbeiten auch viele Frauen in den Läden. Aber in den Abendstunden | |
verändert sich das Kundenklientel. Hier in der lebendigen Danziger Straße | |
ist das kein Problem, aber in ruhigeren Ecken – das ist für eine Frau schon | |
schwierig. Meistens ist ja nur ein Verkäufer im Späti. Das ist schon ein | |
ziemliches Männergewerbe, leider. | |
Zündet sich eine Zigarette an. | |
Sie rauchen, wie steht es mit Alkohol? | |
Ich trinke Wein, ein kleines Gläschen nach Feierabend, ich arbeite ja immer | |
nachts. Wenn ich dann zwischen 2 und 4 Uhr morgens nach Hause gehe, setzte | |
ich mich noch ein bisschen auf den Balkon, um runterzukommen. Die Wohnung | |
ist ja direkt hier über dem Laden drüber, zum Glück, ich habe lange | |
gesucht. Ich habe früher in Lankwitz gewohnt. Seit Dezember wohne ich hier | |
im Kiez, davor musste ich jeden Tag eine Stunde hin- und eine Stunde | |
zurückfahren, fast von einem Ende der Stadt zum anderen. Irgendwann hat man | |
die Schnauze voll. | |
19 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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