# taz.de -- Sommerserie „Berlin, deine Spätis“ (4): Wieso eigentlich Spät… | |
> Eine Zeitreise vom Kinderglück an einem Kiosk im Ruhrgebiet zu den | |
> Lifestylelinken von heute, die sich um die Ausbeutung im Späti nicht | |
> scheren. | |
Bild: Kein Späti, kein Büdchen, sondern eine Trinkhalle 1979 in Gelsenkirchen | |
BERLIN taz | „Späti“. Der Begriff wirkte von Anfang an unpassend für einen | |
Neu-Berliner wie den Schreiber dieser Zeilen, der sowieso nie den Drang | |
verstanden hat, alles mögliche mit einem Endungs-i zu verniedlichen, ob es | |
passte oder auch gar nicht, vom Kotti (da am wenigsten) über Wowi bis eben | |
hin zum Späti. | |
Unpassend mag man den Namen aber nicht wegen dem „i“ empfinden, sondern | |
weil er in die Irre führt. Er legt nämlich – zumindest in nicht abgekürzter | |
ausgeschriebener Form – nahe, dass es sich um eine Etablissement mit | |
Öffnungszeiten handelt, die von den üblichen abweichen, also eine Art | |
Ergänzung nach gesetzlichem Ladenschluss darstellen. So war es ja auch mal | |
gedacht, als der Spätverkauf in der 50er-Jahren des vergangenen | |
Jahrhunderts in der DDR entstand und Schichtarbeiter versorgen sollte, die | |
zu normalen Zeiten nicht zum Einkauf kamen. Heute aber ist der Späti – | |
bleiben wir mal bei der Verniedlichungsform – schier immer auf, früh, | |
mittags, abends. | |
Verkaufsstellen ähnlicher Natur waren auch dem Schreiber dieser Zeilen | |
bekannt, als er im Ruhrgebiet aufwuchs. Bloß hießen sie Kiosk oder Bude, im | |
benachbarten Rheinland Büdchen, hatten meist tagsüber geöffnet und schienen | |
damals in den späten 70-ern vor allem in Schulnähe vorrangig Kinder | |
anzuziehen, die sich dort mit Süßigkeiten verproviantieren. | |
Der Kiosk bestand nämlich vor allem aus einem Fenster, das als Durchreiche | |
für das was auch immer Gewünschte fungierte. Und um dieses Fenster herum | |
gruppierten sich neben einer Vielzahl von Illustrierten durchaus zählbare, | |
aber von uns Kindern nie genau gezählte durchsichtige Plastikkistchen mit | |
Leckereien wie Salinos, sauren Gurken oder Gummischlangen. | |
## Bude oder Trinkhalle | |
Wobei diese Gurken nichts mit gleichnamigen grünen Erzeugnissen aus dem | |
Spreewald gemein haben, sondern lediglich gezuckerte Fruchtgummi sind, | |
platt, aber entfernt tatsächlich gekrümmt wie eine Gurke. Das alles gab es | |
für Pfennig-, sprich halbe Centbeträge, und die typische Bestellung an so | |
einer Durchreiche ging in die Richtung von „Für 20 Pfennig saure Gurken, | |
für 10 Salinos“ (diese lakritzigen Dinger kosteten zeitweise nur einen | |
einzigen Pfennig pro Stück) und (wenn es gerade Taschengeld oder eine zwei | |
in Latein gegeben hatte) „eine Schlange“. | |
Bier gab es dort auch, und das ist wahrscheinlich der Grund, warum manche | |
dieser Kioske oder Buden offiziell „Trinkhalle“ hießen und das auch oben | |
drüber stand und draußen vor der Tür manchmal ein Stehtisch stand. | |
Abends aber war meist Schicht – der Inhaber samt Gattin wollte schließlich | |
auch mal Feierabend haben. Bier für später konnte man sich ja im Supermarkt | |
besorgen, und an der Trinkhalle standen auch meist Leute, die dafür mangels | |
anderer Verpflichtungen Zeit zu haben schienen. | |
Umgezogen nach Berlin, wo die Kindheitserinnerungen an die Bude auf den | |
anderen Späti trafen, formte sich auf Basis sporadischer, aber | |
kontinuierlicher Beobachtungen folgender Befund heraus: Je linker, desto | |
Späti-affiner. Wobei links hier nicht das klassische links im Sinne | |
traditioneller SPD meint, sondern jene Gruppe, die Sahra Wagenknecht jüngst | |
in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ [1][als Lifestyle-Linke beschrieben | |
hat]. | |
## Linke unterstützen (Selbst-)Ausbeutung? | |
Ein echter Linker nämlich, aufgewachsenen mit dem Glauben an | |
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, Tariflöhne und | |
menschenfreundliche Arbeitszeiten müsste doch den Späti als solchen – | |
konkrete anders strukturierte Einzelfälle ausgenommen – grundsätzlich | |
boykottieren. | |
Dort gelten nämlich viele jener genannten Errungenschaften jahrzehntelanger | |
sozialdemokratischer Sozialpolitik nicht: Da wird zu unmöglichen Zeiten | |
gearbeitet, gelegentlich offenbar auch unter offenem, von der Nachbarschaft | |
zum eigenen Vorteil gedeckten Bruch des Ladenschlussgesetzes – | |
(Selbst-)Ausbeutung scheint oft die Basis zu bilden. Aber es scheint halt | |
cool zu sein, sein Bier nicht im häufig bis 23 Uhr geöffneten | |
traditionellen Einzelhandel Marke Edeka zu kaufen, sondern im angesagten | |
„Späti“ daneben. | |
Wobei der Schreiber dieser Zeilen ehrlicherweise zugeben muss, auch schon | |
mal schwach geworden zu sein: Zwischen Bahnhof Friedrichstraße und | |
Deutschem Theater liegt in der Albrechtstraße ein gleichfalls länger | |
geöffneter Laden. Dort lässt sich bei drängendem Durst noch schnell eine | |
Flasche besorgen und auf den restlichen paar hundert Metern bis zum Theater | |
leeren, wo es wegen Garderobe und Platz suchen oft ein bisschen knapp wird | |
mit dem Getränk vorweg. Und so ist man auch schon beim Wegbier, einer | |
weiteren Berliner Besonderheit. Aber das ist, um ein ebenfalls berühmtes | |
Buch zu zitieren, eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt | |
werden. | |
26 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Buch-von-Sahra-Wagenknecht/!5771163 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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