# taz.de -- Sommerserie Spätis in Berlin (Teil 6): Ihre Brücke zur Welt | |
> Der postmigrantische Spätiverkäufer ist Berater und Therapeut der | |
> Berliner*innen. Er sieht, warum sie ihr Leben nicht in den Griff kriegen. | |
Bild: Open, eigentlich immer: Späti in Berlin | |
BERLIN taz | Es ist schon fast ein eigenständiges Subgenre innerhalb | |
erdiger Lokalreportagen: die schwärmenden Schilderungen passionierter | |
Onkel-Ahmed-Flüsterer davon, wie sie mit „ihrem“ [1][meist | |
postmigrantischen Spätiverkäufer] auf Dududu sind. | |
Stundenlang können sie mit ihm über Gott und die Welt philosophieren, denn | |
der Spätityp ist natürlich extrem bauernschlau hinter seiner schlichten | |
Fassade und berät unseren schreibenden Freund in allen Lebenslagen. Er ist | |
ihr Psychotherapeut und ihr politischer Berater; er ist ihre Brücke zur | |
Welt der einfachen, hart arbeitenden Menschen. | |
Er schenkt ihnen einen Hauch Lokalkolorit und dieses Dorfladenfeeling, das | |
sie aus Waldheim an der Zeck vermissen. Vertraut nennen sie ihn Murat oder | |
Georgij und sind stolz darauf, seinen Namen zu kennen. In Wahrheit heißt er | |
zwar Qxylatzaffouhz, aber das könnten sie nicht aussprechen. Eingängigere | |
Namen sind der Konstruktion einer künstlichen Nähe dienlicher und die ist | |
nun mal gut fürs Geschäft. | |
„Ich geh noch mal zu Murat“, sagen sie zuhause zu ihrer Freundin, „ne Mate | |
holen“, und die findet es dermaßen geil, dass sie so einen straßenkrediblen | |
Tausendsassa abgegriffen hat, der sich in der großen Stadt bewegt wie ein | |
Fisch im Wasser, dass sie in diesem Moment beschließt: Einen Geliebten, | |
dessen Persönlichkeit von Neugier, Weltoffenheit und dieser besonders | |
luziden Form universeller Menschlichkeit geprägt ist, wird sie niemals (!) | |
verlassen. | |
Kaum zu glauben, dass ich auch mal so war. Ich lud „Djibril“ zu meiner | |
Hochzeit ein und schrieb meine Patientenverfügung auf „Khang“ um. Doch als | |
ich immer öfter die Wohnungen und mit ihnen auch die Spätis wechselte, ging | |
meine Unschuld verloren: Der Wahn des Provinzlers, er und sein | |
Spätiverkäufer wären eine Art Kumpels, wich einem tiefen Wissen um die | |
Beliebigkeit der Dinge. | |
## Ich fühlte mich schmutzig, aber auch verwegen | |
Wahllos wechselte ich die Spätis, sie waren eh alle gleich und dienten nur | |
der schnellen Befriedigung meiner Triebe: Saufen, Rauchen, Kartoffelchips. | |
Ich fühlte mich ein wenig schmutzig, doch auch verwegen und vor allem | |
unendlich frei. | |
Jetzt weiß ich nicht mehr, wie die Späti-Betreiber heißen; sie wissen | |
nicht, wie ich heiße, und das ist auch gut so. Sie wissen ohnehin noch zu | |
viel über mich, wie ein Arzt, Psychiater oder früher, als es ihn noch gab, | |
der Videothekar, der ungerührt die Kartei meiner bizarren Kinks verwaltete. | |
Denn natürlich habe auch ich aus logistischen Gründen einen | |
familiengeführten Stammspäti. Und dort registriert man genau, welcher | |
Zausel aus welcher Hausnummer sich spät abends noch eine Flasche Rotwein | |
holt, um sich zuhause alleine in Unterhosen zu betrinken. Auch die Pakete | |
für die gesamte Nachbarschaft werden hier aufbewahrt. | |
Immerhin war ich zuletzt seltener da, weil ich ja nicht mehr rauche, also | |
eigentlich noch nicht, also versuche, noch nicht wieder zu rauchen, | |
wenigstens nicht gleich wieder so wahnsinnig viel. Ich bin für sie ein | |
offenes Buch mit meinen Aufs und Abs, das Psychogramm einer traurigen | |
Scheißkartoffel, die ihr Leben nicht im Griff hat. | |
Der Familienälteste erkennt das am klarsten – er blickt mich an, ohne mich | |
zu sehen, wie auf eine weiße Wand, die am Rand allenfalls noch schwach mit | |
einer ekelhaften Substanz verunreinigt ist. Die jüngeren Verwandten grüßen | |
hingegen stets freundlich, auch wenn ich nur am Laden vorbeigehe. Ich muss | |
daher aufpassen, dass ich nicht in dieselbe Falle wie besagte | |
Sozialromantiker tappe – die Leute sind schließlich keine | |
Kinderklinikclowns für meine First-World-Komplexe, wir haben nichts gemein, | |
meine Eltern wohnen am Chiemsee, ihre auf dem muslimischen Friedhof am | |
Columbiadamm. | |
Zuvor erschufen sie hier für ihre Nachkommen aus Schweiß und Lehm, aus | |
Kühlschränken und Regalen diesen Späti, der seitdem heldenhaft zwischen | |
Scylla und Charybdis, sprich Ordnungsamt und laberfreudiger Kundschaft, | |
navigiert. Davor stehen erwachsene Männer in kurzen Hosen schwitzend in der | |
Sommerhitze und bonden ab dem vierten Sternburg – „Murat, Keule!“ – mit… | |
Personal, dabei verkauft es ihnen doch nur den Stoff, der sie langsam | |
umbringt, Allah sei Dank. | |
Die Abendschicht übernimmt fast immer der Alte. Er zeigt durchaus | |
fürsorgliche Seiten, wenn es um echte Menschen wie seine Familie geht. Aber | |
ich liebe es, wie er mit den hippen Neuberlinern (nicht) redet und mich | |
gekonnt mit Nichtachtung erdet – eine permanente Lektion in Sachen Demut. | |
Der Spätimann ist eher Bewährungshelfer als Therapeut, doch mehr noch ist | |
er wie ein strenger Vater, unerbittlich und zugleich gelangweilt, also ein | |
Vater, der seinen Sohn schon lange aufgegeben hat, denn wer Wein im Späti | |
kauft, hat die Kontrolle über sein Leben längst verloren. | |
Sowieso ist das gar nicht sein Sohn, sondern nur ein Fremder, der offenbar | |
zu schwach und zu dumm ist, um mit dem Rauchen aufzuhören. Unter dem | |
Ladentisch liegt auch noch sein Paket mit den Penispumpen, das holt er | |
hoffentlich mal ab, aber er spricht ihn nicht darauf an; er spricht | |
grundsätzlich nicht mit Kunden. | |
## Der Sünder und sein Vater | |
Vater, ich habe gesündigt! Mit niedergeschlagenen Augen stelle ich eine | |
Flasche Il Grande Tardelli auf den Verkaufstresen und bitte leise um eine | |
Schachtel blaue Gauloises. Er legt mir wie immer rote hin, ich wiederhole, | |
„bitte die Blauen“: ein Dialog wie ein Reigen, es ist unser kleines | |
nonverbales Spiel, der einzige kurze Moment der von mir so hündisch | |
ersehnten Zuwendung. | |
9 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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