# taz.de -- Gründer übers Kulturschiff „Stubnitz“: „Das Schiff als Geda… | |
> Vor 30 Jahren verwandelte Urs „Blo“ Blaser den DDR-Hochseetrawler | |
> „Stubnitz“ in ein Kulturschiff. Seither hat sich viel geändert. | |
Bild: Für ihn ist die „Stubnitz“ vor allem ein akustischer Raum: Urs Blaser | |
taz: Herr Blaser, kann man Sie als Kapitän [1][der „Stubnitz“] ansprechen? | |
Urs Blaser: Naja, ich bin kein Nautiker. Der Begriff Schiffsleiter trifft | |
es besser. | |
Wie kamen Sie Anfang der 90er auf die Idee, Schiffsleiter eines alten | |
Hochseetrawlers der DDR zu werden und daraus einen Kulturort zu machen? | |
Ich hatte zuvor in einem Kollektiv gearbeitet. Wir haben alte | |
heruntergekommene Industrieräume gestaltet. Also, die Idee war: | |
Landschaften in Industriegebäuden aufzubauen, um audiovisuell und | |
mechanisch performen zu können. Überall in den europäischen Metropolen gab | |
es noch leerstehende Räume, die haben wir vitalisiert. Zum Teil war das | |
damals dann der Startpunkt einer langfristigen Nutzung der Räume durch | |
Leute von vor Ort. Daraus sind Kulturzentren entstanden. | |
Und dann wollten Sie das auch aus einem verlassenen Schiff machen? | |
Wir waren je nach Projekt mit drei bis fünf LKW, in dem das ganze Equipment | |
steckte, von Metropole zu Metropole gefahren. Ich hatte zwei Tonnen | |
Tontechnik hinten drin. Und von Raum zu Raum waren es mit der Zeit 200.000 | |
Kilometer, die ich abgefahren bin. Es war jedes Mal eine große logistische | |
Herausforderung, einen Raum von Null auf in Funktion zu bringen. | |
Klingt nach einer ziemlichen Plackerei. | |
Es war super anstrengend, aber es hat auch Spaß gemacht. Ich war noch jung | |
und die Energie hat nicht gefehlt. Aber gleichzeitig hatte ich zu überlegen | |
begonnen, wie ein Raum aussehen müsste, mit dem ich mich längerfristig | |
beschäftigen möchte. | |
Ein fahrtüchtiges Schiff sollte es unbedingt sein, weil: Im Gegensatz zu | |
einem Gebäude sind Sie immerhin noch ein wenig mobil? | |
Aus den zuvor gemachten Erfahrungen heraus gab es den Gedanken, dass ein | |
Schiff in der Lage sein könnte, ein Setup von einer Kulturregion in die | |
andere zu bringen und sofort einsatzbereit zu sein. Der für mich spannende | |
Aspekt daran war ja zuvor auch schon: In verschiedenen Regionen mit Kultur- | |
und Musikszenen zusammenarbeiten. Das Schiff war ein Gedankenmodell, um | |
sich den beschriebenen Aufwand zu sparen, aber dennoch in eine Region | |
eintauchen und den örtlichen Initiativen den kleinen roten Teppich | |
auszurollen zu können. | |
Dann war das Ende der DDR in diesem Kontext ein Glücksfall. | |
Ich kannte Ostdeutschland von innen nur ein bisschen, aber die | |
Aufbruchstimmung Anfang der 90er war toll. Zur Wendezeit war ich in Berlin. | |
Als die Währungsreform kam, funktionierten viele Wirtschaftszweige in ihrer | |
bisherigen Form nicht mehr. Eben auch bei der Schifffahrt. Dann standen 40 | |
bis 50 Schiffe in Rostock einfach herum – das hatte ich mitbekommen. Ich | |
dachte mir: Das passiert die nächsten 500 Jahre nicht mehr, dass im | |
deutschsprachigen Raum gut gebaute Seeschiffe auf Halde stehen. 1994 haben | |
wir die erste Tour gemacht. | |
Und wie war das? | |
Am Anfang sehr schwierig. Dann hat es eine Zeit lang richtig floriert. Es | |
gab verwaiste Kaianlagen, die wir in den Hafenmetropolen anlaufen konnten – | |
wohlgemerkt mitten in den Citys. Inzwischen ist das städtebaulich alles | |
weg. Die Kommunen waren auch offen für solche Projekte. Vorher habe ich in | |
einem Europa zu arbeiten begonnen, als alle Grenzen noch strikt waren und | |
wo du lückenlos alle Gegenstände beim Grenzübertritt auflisten musstet, die | |
du bei dir hattest, um sie wieder ausführen zu können. Und dann plötzlich | |
war überall eine große Offenheit für Besuch aus anderen Ländern. Wir haben | |
das Schiff ungefähr 120 Mal von einem Ort in einen anderen gefahren. Danach | |
ist das dann immer schwieriger geworden. | |
Wieso? | |
Einerseits weil die Regulierung von öffentlichen Veranstaltungen auf die | |
vorhandene Baukultur spezifiziert wurde. Das ist total inkompatibel | |
geworden: Die Reglementierungen sind immer weiter auseinandergegangen und | |
wir haben ja versucht, mit einer Location eine Brücke zu bauen. Es wurde | |
immer schwieriger, Zulassungen für Veranstaltungen zu bekommen. | |
War die Offenheit irgendwann auch weg? | |
Wir haben in Rostock eine jährliche Projektförderung bekommen, aber | |
irgendwann mehrten sich die Stimmen, die das hinterfragten, eben weil wir | |
ja viel mit dem Schiff in anderen Regionen unterwegs waren. Aber die Zeit | |
davor hat mich schwer geprägt, weil ich gemerkt habe, dass Musikkultur | |
durchaus etwas spezifisch Regionales ist. | |
Heute auch noch? | |
Ja. | |
Aber die Welt ist globalisierter geworden. | |
Man denkt es und im Mainstream ist es globalisiert, aber darunter | |
eigentlich nicht. Die dänische Musikszene hat ein cutting edge zwischen | |
Rock und Jazz, das gibt es sonst nirgends. Die französische Musikkultur ist | |
unglaublich vielfältig. Zu den interessantesten Musikprojekten der | |
Gegenwart gehören auch welche, die nicht von ihrer Musik leben und auch | |
nicht touren wollen. Die treten in ihrer Region auf und die kennt man | |
außerhalb davon nicht. Es gibt heute mehr neue spannende Musik als je | |
zuvor. Niemals zuvor war das so vielseitig. Aber ist auch immer schwieriger | |
geworden, diese Sachen zu finden. Das Internet reflektiert primär den | |
Kommerz, also hast du da mehr und mehr redundante Informationen, die – | |
kulturell gesehen – völlig überflüssig sind. | |
Aber Sie interessiert noch das Neue? | |
Ich bin da vielleicht auch etwas kritischer geworden. Jüngere in ihrer | |
Musikentwicklung stoßen auf etwas, dass sie total gut finden und ich stehe | |
da und sage: Das ist doch nur ein schlechtes Cover einer tollen Band, die | |
es vor 20 Jahren gab. Aber doch, natürlich, bei der aktuellen Musik liegt | |
meine Motivation. | |
Wie war denn Ihre Musikentwicklung? | |
Ich bin als Säugling unter einem Flügel groß geworden. Später war ich im | |
Chor, spielte dann Flöte – da hatte ich einen Hang zu den französischen | |
Impressionisten. Dann bin ich relativ schnell in die Breite gegangen mit | |
den ganzen Jazz-Sachen. Und immer stärker in die Elektro-Akustik, die ich | |
extrem bereichernd empfand und die zu meinem Hauptfokus geworden ist. | |
War das noch in Bern, wo Sie geboren sind? | |
Ich bin teils in Bern, teils etwas außerhalb von Bern aufgewachsen, aber | |
dann früh zuhause ausgezogen. Ich hab mich für Musik interessiert und | |
begriffen, dass dafür Bern besser ist als das Umland der Stadt. Und als | |
Bern zu überschaubar geworden ist, schaute ich halt in die nächstgrößere | |
Metropole. | |
Nun ist der Beginn der Stubnitz als Kulturort rund drei Jahrzehnte her und | |
praktisch durchgehend war er finanziell in seiner Existenz bedroht. Nervt | |
das Sie nicht irgendwann? | |
Nein. Das Ende war eigentlich immer absehbar und stand als Drohkulisse vor | |
uns. Man lernt damit umzugehen. Solange du motiviert arbeitest, kannst du | |
mit dir im Reinen sein: Entweder reicht es oder es reicht nicht. Das ist | |
ein bisschen wie das Leben überhaupt: Die meisten leben nicht mit dem | |
Bewusstsein des Endes. | |
Sie schon? | |
Ich habe mal eine vierjährige Diplomausbildung in der Krankenpflege in Bern | |
gemacht und … | |
Warum haben Sie aufgehört? | |
Die Auseinandersetzung auf der menschlichen Ebene hat mich total | |
interessiert, aber bevor mir die Schicksale gleichgültig werden, höre ich | |
auf. Letztlich hat mich Musik mehr interessiert. Aber was ich sagen wollte: | |
Da habe ich auch gelernt, dass das Leben eine Virengemeinschaft ist. Dass | |
alles ein Ende haben kann, ist immanent. Das habe ich vielleicht mehr | |
verinnerlicht, als es üblich ist. Aber das Medizinische ist weiter ein | |
Thema, das mich sehr beschäftigt. Und da betrachte ich manche Dinge | |
vielleicht anders als der Normalbürger. | |
Was meinen Sie? | |
Da habe ich schon den Eindruck, dass wir gerade sehr einseitig auf Probleme | |
blicken. Das ist sehr wenig interdisziplinär. Virologen und Epidemiologen | |
zu hören, ist gut, aber es ist genauso wichtig, einen | |
gesundheitswissenschaftlichen Standpunkt anzuhören. Genauso Psychologen und | |
noch ganz viele mehr. Wer größere Entscheidungen verantworten will, muss | |
viele Blickwinkel einholen. Das ist mir gerade zu einseitig. Auch der Fokus | |
auf Immunsysteme kommt derzeit zu kurz, hat aber das Potential, ganz viele | |
Schäden zu mindern. | |
So läuft es auf der Stubnitz auch, oder? Das ist ja ein ziemlich großes | |
Kollektiv, manche kümmern sich um Musik, andere erhalten das Schiff als | |
Denkmal. Da muss man auch alles im Blick haben. | |
Es gibt im kulturellem Betrieb ungefähr zehn Gewerke, ebenso viele bei | |
Instandhaltung und Betrieb des Schiffes. Wir haben immer Personen gehabt, | |
die im Prinzip ihre Erfahrungen aufgebaut, aber davon nicht ihren | |
Lebensunterhalt finanzieren konnten. An einem durchschnittlichen Tag kommen | |
etwa 20 Personen an Bord, um Arbeiten zu erledigen. Einer ist regelmäßig | |
da; der nächste kommt, wenn’s nötig ist. Vielleicht auch nur eine Woche im | |
Jahr. Pro Jahr sind das etwa 200 Leute. Wenn grundlegende Entscheidungen | |
getroffen werden müssen, dann müssen alle Seiten angehört werden, um | |
abzuwägen. | |
Was ist für Sie die Stubnitz? Ein Kollektiv? Ein Ort für Kunst? Ein Museum? | |
In erster Linie ein akustischer Raum, aus meinem ganz persönlichen | |
Blickwinkel. In der ganzen Projektarbeit ist das mein Hobby geblieben. Wenn | |
ich zwei oder drei Produktionen pro Woche betreut habe, war das eher der | |
kleine Teil der Arbeit auf dem Tisch. | |
Wohnen Sie die meiste Zeit auf dem Schiff? | |
Früher waren es sechs Nächte die Woche, jetzt gerade bin ich die Hälfte der | |
Woche hier, die andere Hälfte der Woche in Rostock. Meine Lebenspartnerin | |
hat überwiegend unsere vier gemeinsamen Kinder großgezogen. Jetzt ist | |
unsere Jüngste dabei auszuziehen. Nachdem nun die alternative Kultur | |
dezimiert wurde, versuche ich dieser Realität zu begegnen. Mit ungewissem | |
Ausgang. | |
30 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.stubnitz.com/ | |
## AUTOREN | |
André Zuschlag | |
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