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# taz.de -- Ausweisung trotz Vater im Koma: Ausländeramt ohne Gnade
> Behördlicher Eiertanz um ein Visum: Ein Türke soll ausreisen, obwohl sein
> Vater nach einem Unfall im Krankenhaus im Koma liegt.
Bild: Viele Krankenhauspatienten sind auf die Hilfe ihrer Angehörigen angewies…
Hamburg taz | Mitgefühlt und Pietät, Empathie oder Humanität – offenbar
kein Thema im Kreis Pinneberg bei Hamburg: Obwohl sein Vater Uysal Ince
nach einem schweren Arbeitsunfall im November immer noch im Boberger
Klinikum im Wachkoma liegt, soll der aus der Türkei herbeigeeilte Sohn
Mehmet Ince nach dem Willen der Kreisverwaltung Pinneberg das Land bis zum
Wochenende verlassen. Der Grund: Nach sieben Monaten sei sein Visum
abgelaufen.
Uysal Ince war am 3. November vorigen Jahres in den Morgenstunden auf der
Bundesautobahn 1 zwischen Stapelfeld und Ahrensburg (Kreis Stormarn) schwer
verunglückt. Der Kleinlaster der Baufirma aus Tornesch (Kreis Pinneberg),
den der 61-Jährige lenkte, war von einem mit Bäumen beladenen
Sattelschlepper beim Auffahrunfall teilweise aufgeschlitzt und zermalmt
worden. Ersthelfer mussten Ince vor Ort reanimieren.
Die herbeigeeilten Rettungskräfte brachten den Bauarbeiter schwer verletzt
ins Berufsgenossenschaftliche Klinikum Hamburg-Boberg (BG Klinikum). Die
Ärzte stellten ein schweres Schädeltrauma sowie wegen des Sauerstoffmangels
schwere Hirnschädigungen fest, sodass er ins Wachkoma fiel.
Als sein 36-jähriger Sohn in der Türkei von dem Unglück erfuhr, reiste er
nach Hamburg. Dafür beantragte er ein dreimonatiges Visum im deutschen
Konsulat in Izmir. Seitdem hat Mehmet Ince nahezu täglich seinen Vater im
BG Klinikum besucht. Doch nach nunmehr fast sieben Monaten ist das Visum
erloschen, Bestrebungen, das Visum über den [1][Ex-Sozialarbeiter und
Journalisten Adil Yigit] erneut verlängern zu lassen, lehnte die
Ausländerabteilung des Kreises Pinneberg strikt ab. Stattdessen wurde
indirekt formuliert, dass eine polizeiliche Abschiebung in Betracht gezogen
werde.
Daran änderte selbst die Intervention des BG Klinikums im Mai nichts. „Eine
noch mehrmonatige Behandlung im BG Klinikum Hamburg und später in der
Behandlungspflege ist erforderlich“, attestierte der Facharzt der
neurologischen Abteilung des BG Klinikums, Sven Knepel. „Besuche der
nächsten Angehörigen können die Heilung fördern und sind aus neurologischer
Sicht wünschenswert.“ Das BG Klinikum weist darauf hin, dass für den
Verbleib des Patienten Vorkehrungen getroffen werden müssten, was nur durch
die nächsten Angehörigen geschehen könne. Eine Verlängerung des Visums sei
daher dringend geboten, stellte der Facharzt fest.
Medizinisch ist bekannt, dass Koma-Patienten durch äußerliche Reize wie
[2][gewohnte Stimmen oder bekannte Musik stimuliert werden können], sodass
sie aus dem Koma erwachen. Doch das interessierte die Behörde nicht. Auch
dass Mehmet Ince die Situation psychisch schwer belastet, sodass er unter
Panikattacken, Angststörungen und Schlaflosigkeit leidet, ließ die Herren
der Ausländerabteilung in Pinneberg kalt. „Die gesamte Situation und der
unklare Verlauf hinsichtlich der Gesundheit seines Vaters sorgen für eine
Belastung und lassen eine Rückkehr in die Heimat aus medizinischer Sicht
nicht zu“, attestierte ihm sein Uetersener Facharzt.
Noch Ende vergangener Woche schien eine Goodwill-Vereinbarung in Sicht.
„Wir wollen eine konfliktfreie Lösung“, sagte die Sprecherin des Kreises
Pinneberg, Silke Linne, der taz. Doch bei einem Treffen am Montag in der
Ausländerabteilung fand nach Angaben Yigits dann doch kein Dialog statt,
sondern ein Verhör. Als Resultat wurde Ince ein Bescheid überreicht, indem
sich die Behörde erneut kompromisslos zeigte: Ausreise bis zum 11. Juni –
also Ausweisung zum Ende der Woche.
Gegenüber der taz relativiert Kreissprecherin Silke Linne den Bescheid. Im
Gespräch mit Ince seien für die Behördenmitarbeiter Fragen offen geblieben,
da Herr Yigit immer interveniert habe und weitere Unterlagen fehlten. „Das
macht die Sache so schwierig“, sagt Linne. So seien nochmals ausführliche
Atteste über die Gesundheitsprognose vom Vater und auch ein ausführlicheres
Attest über die eigene Erkrankung von Mehmet Ince verlangt worden, um nach
Möglichkeiten zu suchen, einen Aufenthaltsstatus zu gewähren. „Momentan war
er illegal hier“, so Linne. Daher nur die kurzfristige Duldung.
## Noch ist eine Tür offen
Es bestünde aber die Möglichkeit, dass Mehmet Ince ohne Adil Yigit die
Behörde noch einmal aufsuche, um die ungeklärten Fragen im Beisein eines
Behördenübersetzers zu beantworten. „Da geht vielleicht doch noch etwas“,
beteuert Kreissprecherin Silke Linne. „Die Tür ist noch nicht zu.“
Mehmet Ince ist von dem Eiertanz entsetzt und völlig verzweifelt. „Ich will
mir doch keinen Aufenthalt erschleichen“, sagt der 36-Jährige zur taz. Sein
Lebensmittelpunkt liege in der Türkei. Er habe zwei Kinder und eine eigene
Firma. Nach Deutschland kommen zu wollen, sei für ihn überhaupt kein Thema.
„Mein Vater arbeitet seit 20 Jahren in Deutschland, in der Zeit habe ich
ihn dreimal besucht“, sagt Ince. Bei diesen drei Malen sei er immer weit
vor Ablauf des Visums wieder in seine Heimat zurückkehrt, bekräftigt er.
Aber jetzt sei es etwas anderes. Es sei völlig unklar, ob und wie lange
sein Vater noch lebe und deshalb wolle er bei ihm sein, solange wie
möglich. „Da kann ich doch nicht einfach abreisen, als sei ein Urlaub zu
Ende gegangen“, sagte Mehmet Ince.
9 Jun 2021
## LINKS
[1] /Journalist-von-G20-Gipfel-ausgeschlossen/!5735941
[2] https://www.thieme.de/de/neurologie/komapatienten-elektrische-signale-emoti…
## AUTOREN
Kai von Appen
## TAGS
Ausweisung
Angehörige
Visum
Kolumne Transit
Niedersachsen
Abschiebehaft
Schwerpunkt G20 in Hamburg
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