Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 25 Jahre gescheiterte Länderfusion: Mit Berlin im Rücken
> In Brandenburg pflegt man ein pragmatisches Verhältnis zu Berlin. Eine
> Art Zweck-WG fürs Wochenende. Die Brandenburger Sicht.
Bild: So schön kann Brandenburg sein: der Regionalexpress in der Nähe von Tre…
Frankfurt (Oder) taz | Vom Brandenburger Tor aus ist der Frankfurter
Oderturm gefühlt kaum näher als die Frankfurter Main-Skyline. Andersherum
ist Berlin in Frankfurt (Oder) so präsent, als wären sie direkte Nachbarn.
Pendeln gehört zum Alltag. Laut Pendlerblatt 2020 von VBB und Amt für
Statistik Berlin-Brandenburg fuhren am Stichtag 30. Juni 2019 täglich rund
88.000 Menschen aus der Hauptstadt zur Arbeit nach Brandenburg.
Gleichzeitig pendelten mehr als doppelt so viele – nämlich fast 223.000 –
aus der Mark in die Metropole. Ihr Anteil war in zehn Jahren um mehr als 25
Prozent gestiegen. Berlin gehört in Brandenburg zum Alltag. In Berlin – da
ist der Job und der Flughafen, da sind Ikea, große Theater und
Konzertarenen. Mit guten Anlässen kann Berlin sehr angenehm sein.
Als sich die Bevölkerung des Landes Brandenburg im Mai 1996 gegen eine
Fusion mit Berlin entschied, lag Frankfurt (Oder) dabei ganz vorn: Mit 66,9
Prozent stimmten zwei Drittel der Wahlberechtigten gegen die als
„Länderhochzeit“ angepriesene Strukturreform. In der Prignitz, in
Oder-Spree, aber auch in Potsdam – das gemeinsame Hauptstadt hätte werden
sollen – lagen die Werte zwischen 63 und 65 Prozent. Allein
Berlin-Zehlendorf toppte diese Zahlen mit Pro-Fusions-Stimmen. Eine Ehe
zwischen Adler und Bär konnte man sich in Brandenburg damals nicht
vorstellen – und auch 20 Jahre später nicht, wie eine Forsa-Umfrage 2015
ergab.
Der „Scherbenhaufen“ nach der „geplatzten Hochzeit“ hätte Brandenburgs
Ministerpräsident Manfred Stolpe damals fast zum Rücktritt gedrängt. Per
Regierungserklärung räumte er ein: „Überhaupt habe ich persönlich
unterschätzt, wie groß die Fremdheit gegenüber den Strukturen und den
Menschen der Großstadt in einem Land ist, das mehrheitlich von dörflichen
und kleinen städtischen Einheiten geprägt ist.“
## Zahlreiche gemeinsame Institutionen
Dass diese ernüchterte Einschätzung auch heute noch zutrifft, beschreibt
der im Oderbruch lebende Autor Björn Kern mit Witz und Überzeichnungen in
seinem jüngsten [1][Roman „Solikante Solo“] über eine junge Familie
zwischen Großstadt und Provinz. Hier pendelt vor allem das Kind. Die Mutter
schlägt sich in Berlin durch, während der Vater auf dem Dorf ein altes
Schloss ausbaut. Jener meint da: „Es war hinlänglich bekannt, dass die
meisten Berliner verrückt geworden waren. Das brachte die Stadt nun mal so
mit sich.“
Oder weiter: „Wenn die Transformation in letzter Minute gelingen sollte (…)
Da brauchte es keine Pluralität, sondern Identität.“ Während sie
dagegenhält: „Ja, die Welt war unübersichtlich geworden. Aber sie wurde
doch nicht übersichtlich, indem man in ein Dorf zog. Dort bekam man keinen
Überblick, dort blendete man aus.“ Er wiederum: „Nicht die Abwesenheit des
Anderen, sondern die brachiale Anwesenheit des Anderen führte zu dessen
Ablehnung.“
Sie passen nicht zusammen. Aber sie brauchen sich doch. Eben so wie Berlin
und Brandenburg. So entstanden trotz ihrer Nicht-Fusion zahlreiche
gemeinsame Institutionen.
Schüler:innen aus Berlin können ebenso in Brandenburg zur Schule gehen
wie andersherum – seit 2014 gilt ein unbefristetes Abkommen, indem auch der
damit verbundene Finanzausgleich geregelt wird.
## Brandenburger Bauern auf Berliner Märkten
Und Brandenburger Bauern wie Klaus Mruk aus Friedland (Niederlausitz)
kommen gern jede Woche auf die Berliner Märkte. Mruk macht dort mit seinem
Bio-Gemüse aus Oder-Spree mehr Umsatz als mit dem kleinen Hofladen am
Beeskower Marktplatz. Und er erfreut sich an inspirierenden Trends: „Die
jungen Leute dort, die sich bewusst ernähren, oft vegan statt nur
vegetarisch, achten auf Plastikverbrauch und bringen oft eigene Becher und
Gläser mit.“ Gerne würde er das Verpackungslos-Prinzip auch in seinem Laden
anbieten. Ob das aber funktionieren würde, da ist er sich nicht sicher.
Für Schüler:innen und Studierende ist Berlin derweil besonders
attraktiv. Als Sprungbrett in die Freiheit, zum Erwachsenwerden, in die
Karriere, die große weite Welt.
Berlin – das sind große Universitäten, Freiräume, Diversität, aber eben
auch wuchernde Mieten, Gentrifizierung, Kommerz.
So ist die Hauptstadt nicht mehr unangefochtene Königin der
Ausbildungsorte. Beispielsweise für Potsdam entscheidet sich, wer sich von
Berlin überfordert fühlt. Und für einige Unis – beispielsweise die
Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde oder die
Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) – ist Berlin mit seiner
Magnetwirkung vielmehr Fluch und Segen zugleich. Einerseits pendelt mehr
als ein Drittel der Studierenden, anstatt vor Ort zu leben. Andererseits
ist es ein Pluspunkt bei der Entscheidung für ein Studium hier, dass
Ausflugsfahrten nach Berlin sogar im Semesterticket enthalten sind.
## Ein wahrer Sehnsuchtsort
Allein für Geflüchtete und People of Colour ist Berlin ein wahrer
Sehnsuchtsort: Dort warten Verwandte und Bekannte von Bekannten, bunte
Vielfalt zum Untertauchen statt des alltäglichen Auffallens in der deutlich
homogeneren, weiß dominierten Provinz. Während engagierte Musliminnen über
ostbrandenburgische Kleinstädte erzählen, dass ihnen dort noch vor die Füße
gespuckt wird, bietet ihnen Berlin Jobchancen nicht trotz Akzent im
Deutschen, sondern weil ihre Sprach- und Kulturkenntnisse da gefragt sind.
Vorausgesetzt, sie finden eine erschwingliche Bleibe.
Dabei ist man in Brandenburg nicht nur skeptisch gegenüber Fremdem, sondern
auch Vertrautem: Berliner Autokennzeichen zum Beispiel. Im vergangenen
Coronasommer waren sie zwar gern gesehen beim [2][Rohkunstbau-Festival im
Lieberoser Schloss] sowie auf Zelt- und Campingplätzen, wo sie als – trotz
vorübergehenden Nutzungsverbotes – weiter zahlende Dauercamper und
ausflugsfreudige Gäste sogar den Saisonumsatz retteten.
Andererseits avancierten sie zum Aufreger des Sommers wie am Storkower
Grubensee, berühmt für seine ausgezeichnete Badequalität: Die „Buletten“
kämen abends, zelteten wild und brächten nur Müll und Krach mit in den
Wald, ereiferten sich Alteingesessene auf Klappstühlen. Herkunft ist das,
was am Auto steht.
## Die größte Hoffnung der brandenburgischen Kommunen
Gleichzeitig liegt in der [3][Berliner Landlust] die größte Hoffnung der
brandenburgischen Kommunen: Nicht nur die Gemeinde Grünheide, wo im Sommer
die Tesla-Fabrik in Betrieb gehen soll, auch Strausberg, Fürstenwalde und
selbst Frankfurt (Oder) und Eisenhüttenstadt bereiten sich auf Zuzug vor.
Die zuständige Gemeinsame Landesplanung hat entlang der RE-1-Trasse von
Erkner bis Frankfurt (Oder) rund 3.300 potentielle neue Wohnflächen
aufgelistet. Die vielversprechende Aussicht: Dann kommen nicht nur
Intellektuelle im Homeoffice-Modus, sondern auch bodenständige Familien mit
Kindern aufs Land.
Doch noch prägt auch die Pandemie die Beziehung Brandenburgs zur
Hauptstadt. Die Stimmung heizt sich auf, das Schimpfen auf „die da in
Berlin“ wird lauter. Das Pendeln der Brandenburger:innen nach Berlin
lässt nach, weil das Homeoffice zunimmt. Beliebte Kultur- und
Konsumausflüge ins Kunst- und Kneipenleben der Hauptstadt fallen aus.
Nur die Landlust in der Metropole wächst. Statt in der Wochenend-WG treffen
sich Brandenburg und Berlin jetzt im Grünen. Oder online, wenn
Kulturveranstaltungen gestreamt werden. Und so fühlt sich der Frankfurter
Oderturm vom Brandenburger Tor aus weiter so nah an wie die Frankfurter
Main-Skyline. Aber Berlin ist in Frankfurt (Oder) immer öfter nur noch eine
Digital-Kachel auf dem Zoom-Monitor.
Peggy Lohse, 32, freie Autorin in Ostbrandenburg, wirft gern neugierige
Blicke nach Mittel- und Osteuropa bis nach Zentralasien. Sie lebt in
Frankfurt (Oder).
30 Apr 2021
## LINKS
[1] https://www.bjoernkern.de/
[2] https://www.rohkunstbau.net/
[3] /Berlin-oder-Brandenburg/!5678356
## AUTOREN
Peggy Lohse
## TAGS
Brandenburg
Landtag Brandenburg
Berlin Brandenburg
RBB
Tesla
Deutsche Einheit
Der Hausbesuch
Tesla
Schwerpunkt Afghanistan
Lesestück Interview
## ARTIKEL ZUM THEMA
Frankfurt (Oder) hat gute Chancen: Die doppelte Transformation
Mit einem „Zukunftszentrum für europäische Transformation und Deutsche
Einheit“ will der Bund in Ostdeutschland ein Zeichen setzen.
Der Hausbesuch: „Ich bin keine Wunderheilerin“
Nach der Wende durfte Uta Latarius nicht mehr als Lehrerin arbeiten, heute
ist sie Heilpraktikerin im Spreewald.
Tesla kritisiert deutsche Behörden: Genehmigungen dauern zu lange
Der US-Autobauer Tesla sieht die Verkehrswende durch die deutsche
Bürokratie gefährdet. Behörden sollen nachhaltige Projekte bevorzugen.
Drohende Abschiebung: Vom BER ins Kriegsgebiet
Am Mittwoch soll eine von Brandenburg gestartete Sammelabschiebung nach
Afghanistan stattfinden. Initiativen rufen zu Protest auf.
Berlin oder Brandenburg?: „Wir erleben eine Krise der Stadt“
Sabine Kroner lebt in Neukölln und in der Uckermark. Dass immer mehr
Berliner aufs Land wollen, sieht sie auch als Chance für den ländlichen
Raum.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.