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# taz.de -- Soziale Medien im Nahostkonflikt: Wir sind Trump
> Wenn, wie derzeit in Nahost, Konflikte eskalieren, fallen in den sozialen
> Medien alle Schamgrenzen. Welcher Weg führt aus dem Social-Media-Krieg?
Bild: Eine israelischen Abwehrrakete zerstört eine Rakete aus dem Gazastreifen…
Ich war dieser Tage mehr als dankbar, dass es in Zeiten der Kriege im
ehemaligen Jugoslawien keine sozialen Medien gab. Ich erinnere mich nur
ungern an die unerträgliche Ignoranz einiger Zeitgenossen. Ein analoges
„Ist ja ziemlich kompliziert bei euch da unten“, auf das viel Blödsinn
folgte, war nicht weniger schmerzhaft als ein digitales. Aber es hatte
weniger Reichweite und zog weniger Kommentare nach sich.
Stell dir vor, du bist eine junge Mutter in Israel, du kommst gerade mit
deinen Kindern aus dem Bunker. Du twitterst aus dem Krisengebiet, um die
Welt aus erster Hand zu informieren. [1][Das ist ja seit dem Arabischen
Frühling] das eigentliche Versprechen von Twitter. Und irgendein Lurch aus
dem Homeoffice in Berlin belehrt dich per Twitter über den Konflikt, den du
gerade am eigenen Leib durchmachst.
In dieser sozialmedialen Kaputtheit gibt es keine Schamgrenzen mehr. Die
Algorithmen, die Lager, die Desinformationen beherrschen jedes Thema. Doch
ein bewaffneter Kampf in einer der krisenreichsten Regionen der Welt ist
nicht der nächste Ignoranz-Fehltritt eines Friedrich Merz, über den man im
Netz spotten darf.
Personen des öffentlichen Lebens werden aufgefordert, auf Twitter Partei zu
ergreifen, möglichst per Hashtag, nur, um sie einem Lager zuordnen zu
können. Bezieh Position, damit ich dich bekämpfen kann! Bis dahin bekämpfe
ich dich, weil du keine Position beziehst. Doch Meinungsbildung ist ein
Prozess, der Zeit braucht. Aus dem Krisengebiet sehen wir unterdessen
Bilder von Menschen, die trotz allem Frieden miteinander suchen. Wie absurd
ist das?
Die letzte Woche in den sozialen Medien ist ein Einschnitt gewesen. Wir
müssen darüber sprechen, in welcher Form diese Plattformen den
gesellschaftlichen Dialog zersetzen und was dagegen getan werden kann. In
einer globalisierten Welt gibt es nur bedingt ferne Krisen. Jede Krise hat
ihre Repräsentation vor Ort.
## Frieden auf 280 Zeichen?
Das Netz wird für viele zum Hauptverhandlungsort der politischen
Positionen. Doch auf 280 Zeichen ist nicht allem beizukommen. Mit Angriffen
ad hominem schafft man es vielleicht in die Schlagzeilen einfallsloser
Redaktionen. Aber man schafft es meist nicht, einen Beitrag zu leisten, der
den Dialog vertieft, der zum besseren Verständnis beiträgt oder gar etwas
Unerhörtes will: Frieden.
Diese Woche hat gezeigt: Es braucht keinen Trump, um Twitter zu
trumpisieren. Wir sind Trump. Die zwitschernde Kriegsführung ist Teil
unserer Demokratie geworden. Doch auch der Hass, der sich im Netz
ausbreitet, die Lügen und Desinformationen, die dort gestreut werden,
tragen dazu bei, dass plötzlich wieder Fahnen vor Synagogen verbrannt
werden, dass Menschen gegeneinander aufgebracht werden, wo es schwer genug
ist, den Dialog zu führen.
Wir müssen endlich auch über Maßnahmen für den Frieden in den sozialen
Medien reden, die weiter gehen als der Kampf gegen die Hate Speech. Wer die
Schmutzkampagnen gegen Annalena Baerbock letzte Woche verfolgt hat, bekommt
eine Ahnung davon, was bis zu den Wahlen im Herbst in den sozialen Medien
stattfinden wird. Wie wappnen sich Demokratien dagegen?
## Die Illusion der Freiheit im Netz
[2][Im Dokumentarfilm „The Social Dilemma“ auf Netflix] erzählen Aussteiger
der Tech-Szene, von welchem Menschenbild die Entwickler digitaler
Plattformen ausgehen: vom Mensch als Produkt, nicht als Bürger.
Tristan Harris, ehemals Design-Ethiker bei Google, liefert die tiefste
Analyse: Die Aufmerksamkeitsökonomie ist in den sozialen Medien nicht nur
eine Frage zeitlicher Ressourcen – die weit grundsätzlichere Frage ist, ob
das menschliche Gehirn mit dem Feedback von Tausenden von Menschen
überhaupt umgehen kann. Ob wir angesichts dieses „epileptischen Anfalls“,
den die Meinungsattacken auslösen, verankert bleiben können in der analogen
Welt – solange die digitale so designt ist, wie sie es derzeit ist.
Die digitale und die menschliche Evolution seien letztlich derzeit nicht
kompatibel, weil sich das digitale Design schneller anpasst als das
menschliche Gehirn. Harris macht deutlich: Man will nicht nur die Zeit der
Nutzer, man will alles Menschliche über diese Plattformen laufen lassen, um
es kapitalisieren und lenken zu können.
Viele Optimisten betonen die Freiheit des einzelnen Nutzers. Doch wenn wir
diesen Aussteigern glauben, gibt es keine freie Wahl. Und Kontrolle ist
illusorisch. Natürlich lässt sich hier und da ein Zeitlimit setzen. Doch
die Art, wie wir uns auf die Welt, die Politik und die Menschen um uns
herum beziehen, entzieht sich zunehmend unserer Entscheidungskraft. Einige
Boomer, die nicht mit den sozialen Medien aufgewachsen sind, bekommen die
Trennung von analog und digital noch hin. Für die nächsten Generationen
geht das nicht mehr.
## „Alternative Wahrheiten“ auf Youtube
Die Pandemie hat endlich die Digitalisierung vorangetrieben, doch die
Fähigkeit, mit Medien umzugehen, nicht. [3][Laut dem IT-Branchenverband
Bitkom verbringen Erwachsene durchschnittlich 10,4 Stunden am Tag vor
Bildschirmen.]
Die Sonderbefragung „JIMplus Corona“ zum Umgang von Schülerinnen und
Schülern mit Medien kam zu dem Ergebnis, dass 12- bis 19-Jährige rund 260
Minuten täglich online verbringen. Nur 60 Prozent davon im Bereich
Unterhaltung und Spiele, der Rest ist Kommunikation und Informationssuche.
Die meiste Zeit verbringen die Jugendlichen dabei auf Youtube, einer
Plattform, die per Algorithmus schon mal „alternative Wahrheiten“
einspielt.
Tim Kendall, Ex-Präsident von Pinterest, der seinen Kindern keinen Zugang
zu sozialen Medien und Bildschirmen gewährt, wird am Ende der Netflix-Doku
gefragt, wovor er sich am meisten fürchte: „Civil War“. Bürgerkrieg.
Das klingt vielleicht übertrieben. Doch wer sich derzeit Twitter ansieht,
wer sich an die Bilder vom Sturm auf das Capitol im Januar erinnert, muss
sich fragen, was er zum Frieden beitragen kann. Die Illusion, Widerspruch
im Netz wäre ein Kampf gegen demokratiezersetzende Kräfte, ist nicht mehr
aufrechtzuerhalten. Wer widerspricht, ist mittendrin.
19 May 2021
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Arabischer_Fr%C3%BChling
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Dilemma_mit_den_sozialen_Medien
[3] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Corona-sorgt-fuer-Digitalis…
## AUTOREN
Jagoda Marinić
## TAGS
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