| # taz.de -- Krieg zwischen Israel und der Hamas: „Meine Sorge sind die Vertri… | |
| > 10.000 Menschen in Gaza haben durch Israels Luftschläge ihre Wohnung | |
| > verloren. Die Radikalisierung wächst, sagt der Chef des dortigen | |
| > UN-Palästinenserhilfswerks. | |
| Bild: „Sie haben Angst, auf die Straße zu gehen“: Zerstörungen nach israe… | |
| taz: Herr Schmale, von wo aus sprechen Sie gerade mit mir? | |
| Matthias Schmale: Aus meinem Büro in Gaza-Stadt. Momentan schlafen wir auch | |
| hier, aus Sicherheitsgründen. Heute Nacht bin ich fast aus dem Bett | |
| gefallen, dermaßen laut waren die Explosionen. | |
| In Ihrem Büro des UN-Hilfswerks UNRWA dürften Sie recht sicher sein, aber | |
| wie geht es den Menschen in Gaza? | |
| Sie sind terrorisiert und haben Angst, auf die Straße zu gehen. Sieben | |
| Schüler und Schülerinnen, die UNRWA-Schulen besuchten, sind schon | |
| umgekommen. Eine Kollegin hat ihre Schwester und Tochter bei einem | |
| Luftschlag verloren. Eine solche Intensität der Bombardierungen habe ich in | |
| meiner Karriere noch nicht erlebt. Meine Sorge ist, dass sich ein Krieg wie | |
| 2014 wiederholt, auf noch höherem Gewaltniveau. | |
| Die Israelis [1][reagieren mit dem Bombardement auf die Raketen der | |
| radikalen Hamas], die im Gazastreifen herrscht. Wie gehen sie dabei vor? | |
| Die Israelis sagen – bisher zu Recht, glaube ich –, dass sie nur die Hamas | |
| angreifen. Das ist allerdings ein schwieriger Punkt. Es gibt hier | |
| Wohngebäude, in denen sich Hamas-Leute aufhalten, privat oder in Büros. | |
| Diese Gebäude sind mitten im Stadtgebiet. Und Gaza-Stadt ist sehr dicht | |
| besiedelt. Mit vielen Hochhäusern. | |
| Vor den Angriffen auf Hochhäuser in den vergangenen Tagen wurden Warnungen | |
| ausgesprochen und sogar kleine Warnangriffe ausgeübt, damit sich die | |
| Bewohner*innen retten konnten. | |
| Richtig. Eines dieser Gebäude war der sogenannte Hanadi-Tower. Ich konnte | |
| ihn aus meinem Apartment sehen, er war nur 200 Meter entfernt. | |
| Skurrilerweise hatte sich vor meinem Gebäude ein Kamerateam aufgebaut, weil | |
| bekannt war, dass die Israelis den Tower in den Boden stampfen würden. Sie | |
| versuchen, die Bevölkerung zu schützen … hören Sie das Knallen im | |
| Hintergrund? Da werden jetzt wieder Raketen rausgeschossen … Die Israelis | |
| haben schon das Anliegen, den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering | |
| wie möglich zu halten. | |
| Aber? | |
| Die Frage ist: Reichen die Präsenz von Hamas-Leuten und die Warnungen als | |
| Rechtfertigung, einen ganzen Wohnkomplex in Grund und Boden zu schießen? | |
| Fast 80 Familien haben allein im Hanadi-Tower ihre Wohnung verloren. Unsere | |
| ehemalige Generalsekretärin hat auch dort gewohnt. Ja, Menschenleben wurden | |
| gerettet, aber die Konsequenz ist, dass 80 Familien jetzt auf der Straße | |
| sind. | |
| Kollateralschaden, würden viele sagen. | |
| Der Kollateralschaden wird unterschätzt. Die Bombardierungen sind zwar sehr | |
| präzise, aber es gibt neben Gebäudeschäden auch Tote und Verletzte. Und | |
| auch die psychologischen Folgen werden übersehen. Die Dauerbombardierung | |
| hinterlässt tiefe Spuren. Die Behauptung, dass das ohne Konsequenzen für | |
| die Zivilbevölkerung abläuft, ist Quatsch. | |
| Ein Eindruck ist allerdings auch, dass die Hamas sich hinter der | |
| Zivilbevölkerung versteckt. | |
| Das werfen die Israelis der Hamas vor. Es stimmt allerdings nicht komplett. | |
| In einem dicht besiedelten Gebiet gehört es dazu, dass Büros mitten in | |
| einer Stadt sind. Wenn man da reinfeuert, nimmt man den Tod von | |
| Zivilbevölkerung in Kauf. | |
| Die Hamas nutzt nicht gezielt zivile Einrichtungen? | |
| Ich habe bislang zumindest keine Beweise gesehen, dass sie zum Beispiel | |
| gezielt in Schulen reingeht und von dort feuert. Allerdings feuert sie | |
| teilweise von Stützpunkten aus, die mitten in der Stadt liegen. | |
| Sehen die Menschen in Gaza das israelische Bombardement auch als | |
| Vergeltung? Als Reaktion auf die Hamas-Angriffe? | |
| Viele hier sehen die Raketen der Hamas als Reaktion auf das, was in Israel | |
| und Ostjerusalem geschieht. Das soll nicht die Gewalt der Hamas | |
| rechtfertigen, die Raketen müssen aufhören! Aber so wird es hier gesehen. | |
| Am Anfang der Kette steht für viele Ostjerusalem. Das gilt auch für | |
| moderate Leute. Die Radikalisierung von Bevölkerungsgruppen, die eigentlich | |
| eine vernünftige Lösung wollen, ist ein Risiko, das wir nicht unterschätzen | |
| dürfen. | |
| Leute, die ich bislang als sehr moderat erlebt habe, sagten mir: „Ich bin | |
| gegen Hamas und gegen Gewalt, aber wenn ich sehe, was in der | |
| Al-Aksa-Moschee passiert, dann muss ich sagen, die tun wenigstens was.“ Das | |
| kam von einer Frau, die nie Hamas wählen würde. [2][(Die Stürmung der | |
| Al-Aksa-Moschee vergangene Woche in) Ostjerusalem] wird als Angriff auf | |
| palästinensische Identität und Religion wahrgenommen. Und das ist nicht nur | |
| ein Gaza-Problem. [3][Im Moment geht es erstmals seit Langem wieder um | |
| Palästina statt um zwei getrennte Gebiete.] | |
| Wie geht es jetzt weiter? | |
| Meine Sorge sind die internen Vertriebenen. Bei der UNO arbeiten wir mit | |
| einem Richtwert von 10.000 Wohnungslosen, der am Freitag erreicht wurde. | |
| Nun aktivieren wir fünfzig Schulen als Notunterkünfte. Seit der Nacht auf | |
| Freitag sind mehrere Tausend Menschen in mehr als zwanzig unserer Schulen | |
| im Norden Gazas und in Gaza-Stadt eingedrungen, um sich vor den | |
| Auseinandersetzungen im Norden in Sicherheit zu bringen. | |
| Unsere Teams arbeiten jetzt daran, diese Schulen verantwortungsvoll zu | |
| managen, was etwa bedeutet, sicherzustellen, dass das Risiko einer weiteren | |
| Verbreitung des Coronavirus so klein wie möglich gehalten wird. Wir haben | |
| hier eine völlig unzureichend geimpfte Bevölkerung. Wenn jetzt Massenlager | |
| entstehen, ist das Risiko einer dritten Welle mit verheerenden Auswirkungen | |
| groß. | |
| Hinzu kommt, dass ja auch über eine Bodeninvasion der Israelis spekuliert | |
| wird. Wenn es dazu kommt, werden sehr viele Menschen flüchten. | |
| Wie kann die Eskalation gestoppt werden? | |
| Ohne Vermittlung wird das nichts werden. Beide Seiten sind so verfahren und | |
| stur, dass sie es allein nicht schaffen werden. Die Amerikaner und die | |
| Golfstaaten, insbesondere Katar, werden eine Rolle spielen. Katar war bei | |
| Verhandlungen immer dabei, da es von der Hamas und auch von den Israelis zu | |
| einem gewissen Grad akzeptiert wird. Wenn es zu einer Allianz kommt | |
| zwischen Katar, Ägypten, den USA und der UNO, dann gibt es Hoffnung. | |
| Rechnen Sie mit Ruhe noch am Wochenende? | |
| Hier sind ja gerade Feiertage (Zuckerfest, d. Red.) und das Wochenende | |
| beginnt schon freitags. Meine Hoffnung ist, dass die kriegerischen | |
| Auseinandersetzungen am Samstag oder spätestens am Sonntag beigelegt | |
| werden. | |
| Was braucht es dann? | |
| Es wird psychologische Betreuungsmaßnahmen geben müssen, auf beiden Seiten, | |
| es sind ja auch auf israelischer Seite acht Menschen getötet worden, | |
| inklusive einem Kind. | |
| Und grundsätzlich brauchen wir eine Umorientierung auf allen Seiten. Bis | |
| vor knapp zwei Wochen noch hatte es in Gaza eine ziemlich positive Energie | |
| gegeben, was die mittlerweile abgesagten palästinensischen Wahlen angeht. | |
| Über 90 Prozent der Wahlberechtigten hatten sich registriert, davon viele | |
| junge Leute, Erstwähler. Es gab eine Aufbruchstimmung, die zwar nicht | |
| unbedingt damit verbunden war, dass sich radikal etwas ändert. Aber allein | |
| der Anfang eines politischen Prozesses hat Energien freigesetzt. | |
| Dass muss wieder hingekriegt werden. Es muss einen politischen Horizont | |
| geben, der verknüpft wird mit einer wirtschaftlichen Erholung. 50 Prozent | |
| hier sind ja arbeitslos. Wenn wir das nicht schaffen, sind wir in drei oder | |
| sechs Monaten wieder in der gleichen Situation. | |
| 14 May 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jannis Hagmann | |
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