# taz.de -- „Junge Welt“ im Visier vom Geheimdienst: Zur Verfassung des Kla… | |
> Seit 2004 wird die „Junge Welt“ im Bericht des Verfassungsschutzes | |
> aufgeführt: Ihre Überzeugungen richteten sich gegen die Demokratie. | |
Bild: Pause vom Klassenkampf: Erschöpfte Pflegerin einer Corona-Station im Kli… | |
Schreiende Typo in den Überschriften, mal gedehnt, mal gequetscht – immer | |
laut. Jägerzäune aus Beton, darunter im Text ein akkurat geschnittener | |
Blockrasen, mit Serifen immerhin. Das einzig sofort auffällig | |
verbrecherische Merkmal der Tageszeitung junge Welt ist ihr Layout. | |
Nicht dafür jedoch, sondern für seine angeblich „gesichert extremistischen | |
Bestrebungen“ wird das Blatt aus Berlin seit 2004 regelmäßig im | |
Verfassungsschutzbericht aufgeführt. Seit einigen Tagen wissen wir aus der | |
Antwort der Bundesregierung auf eine [1][Kleine Anfrage der Linksfraktion | |
im Bundestag] etwas mehr über die Beweggründe für diesen, sowohl Presse- | |
als auch Gewerbefreiheit nicht unerheblich einschränkenden Eintrag ins | |
Klassenbuch. | |
Die junge Welt, nach eigener Darstellung „marxistisch orientiert“, war in | |
der DDR das Hausblatt der FDJ, des staatlichen Jugendverbandes, durchlebte | |
turbulente Zeiten nach dem Mauerfall, mit unsicheren Eigentums- und | |
Redaktionsverhältnissen, und wird seit Ende der 1990er Jahre vom Verlag 8. | |
Mai herausgegeben, der einer Genossenschaft gehört. Mit einer täglichen | |
Druckauflage von mehr als 20.000 Exemplaren sieht der Verfassungsschutz die | |
Zeitung als das „bedeutendste und auflagenstärkste Printmedium des | |
Linksextremismus“. Schließlich basierten „marxistische Grundüberzeugungen… | |
auf Aspekten, die sich gegen Grundprinzipien der freiheitlichen | |
demokratischen Grundordnung richten“ würden. So widerspräche „die | |
Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal produktionsorientierter | |
Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde“. | |
Wer würde da widersprechen wollen? Wie beiläufig der Wert, „der jedem | |
Individuum um seiner selbst willen zukommt“, vergessen und übergangen wird, | |
verdeutlicht allein der aktuelle und [2][brutale Euphemismus der | |
sogenannten Arbeitsquarantäne]. Überhaupt heben die endlosen Monate der | |
Pandemie die tiefe soziale Spaltung der Gesellschaft [3][auf ungewohnt | |
drastische Weise hervor]. Eine Spaltung in jene, die selbst unter | |
buchstäblich lebensgefährlichen Bedingungen nichts als ihre Arbeitskraft zu | |
Markte tragen können, jene, die ihre halbwegs sicheren Nischen finden, und | |
jene, deren Vermögen auf dem Rücken der niederen Chargen vom Unermesslichen | |
ins Unvorstellbare wachsen. | |
## Im Behördenpressespiegel | |
Was aber ist der Ausweg, was die verfassungskonforme Auflösung dieses | |
Widerspruchs? „Unser gemeinsames Ziel ist eine klassenlose Gesellschaft“ – | |
zitiert das Bundesinnenministerium einen einschlägigen „Akteur“ – und zw… | |
missbilligend und zum Beleg der Verfassungsfeindlichkeit der jungen Welt. | |
Denn verfassungsfeindlich ist offenbar nicht die Existenz der | |
Klassengesellschaft, sondern die Unbotmäßigkeit, sie als solche zu | |
beschreiben. | |
Die junge Welt lasse insofern „eine bestimmte inhaltliche Linie erkennen“, | |
die sie relativ einseitig über „Themenauswahl und Intensität der | |
Berichterstattung“ präsentiere, ohne ein „breites Spektrum von | |
verschiedenen Meinungen und Ansichten“ widerzuspiegeln. Die Zeitung ist | |
also ein Tendenzmedium. Anders als alle anderen Tageszeitungen in | |
Deutschland? Eigenartig, dass Redaktionen üblicherweise schon | |
arbeitsrechtlich als Tendenzbetriebe gehandelt werden. Das ignorieren kann | |
nur, wessen Blickfeld vom jahrelangen Konsum der Behördenpressespiegel in | |
der stumpfsinnigen Wartezeit zwischen den Regelbeförderungen hinreichend | |
verödet wurde. | |
Ein Verständnis für Text und Kontext war sicher noch nie eine besondere | |
Stärke der Geheim- und anderer Polizeien. Sonst wäre kaum zu erklären, was | |
für grandiose Werke, ob nun journalistisch oder literarisch, unter den | |
Augen der Zensurbehörden aller Länder und Zeiten doch veröffentlicht werden | |
konnten. Man fragt sich fast, ob der Verfassungsschutz die Existenz der | |
jungen Welt überhaupt bemerkt hätte, wenn diese das Attribut „marxistisch“ | |
nicht selber annoncieren würde. | |
Überhaupt lehnt die Bundesregierung es ab, ausführlicher darüber | |
aufzuklären, welche konkreten Vorwürfe den Mitarbeitenden der jungen Welt | |
und ihrem Umfeld zu machen sind. Begründet wird dies mit dem „Staatswohl“, | |
könnten vertiefte Erläuterungen doch „Rückschlüsse auf den | |
Aufklärungsbedarf, den Erkenntnisstand sowie die generelle Arbeitsweise des | |
BfV gezogen werden“. Die haben ein Abo. Das Bundesamt für Verfassungsschutz | |
hat ein Abo der jungen Welt. | |
## Tendenzbetrieb Zeitung | |
Der vielleicht schwerste Vorwurf gegen die Zeitung, den man sich beim | |
Blättern angelesen hat, aber ist der einer unterstellten Unterstützung | |
politischer Gewalt. Die Zeitung biete „Vertretern von linksextremistischen | |
Organisationen im In- und Ausland regelmäßig Gelegenheit, in eigenen | |
Beiträgen und/oder Interviews ihre politischen Positionen zu propagieren“. | |
Diese Beiträge würden nicht der journalistischen Dokumentation dienen, | |
behauptet die Bundesregierung. Die Redaktion mache sich diese Positionen | |
nämlich zu eigen, da sie sich „nicht ausdrücklich von deren Inhalt | |
distanziert“. | |
Nun sollen an dieser Stelle nicht die Sympathien von Einzelpersonen oder | |
auch Redaktionen für Bombenleger oder Bomberpiloten bewertet werden, aber | |
Distanzierung vom Objekt ist nun wahrlich nicht die Aufgabe des | |
Journalismus. Er soll informieren und wenn er mag kommentieren. Ganz | |
bestimmt aber soll er sich von vermeintlichen Verfassungsschützern, die | |
sich hier als bewaffneter Arm der in ihren Objektivitätsfetisch vernarrten | |
deutschen Journalismusschulen gerieren, nicht vorschreiben lassen, wer oder | |
was auf welche Weise sein Berichtsgegenstand ist. | |
Marxismus aber will mehr als berichten: „Marxisten beabsichtigen nicht nur | |
zu informieren, sondern eine ‚Denkweise‘ herauszubilden, um bei den | |
Bevölkerungsgruppen, die sie als Unterdrückte oder Ausgebeutete | |
identifizieren, Verständnis und Bereitschaft zum Widerstand hervorzurufen.“ | |
Marxistisch oder nicht: Wie anders, denn als offen ausgetragenen | |
Klassenkampf soll man denn zum Beispiel den Konflikt um den Berliner | |
Mietendeckel nennen? Die in nach Geschlechtern getrennt eingesperrten | |
Spargelkolonnen? Das Hartz-IV-Regime? Die Milliardengeschenke für | |
Fluggesellschaften? Die unterbezahlten Pflegekräfte? | |
Mit dem Ende des sozialdemokratischen Zeitalters, mit der Erosion der | |
Sozialpartnerschaft, jenes Handschlagdeals eines zwar unfair, aber | |
immerhin doch ein wenig breiter geteilten Reichtums, treten die | |
Widersprüche nun wieder deutlicher zutage. | |
## Mal genauer schauen? | |
Eine Klasse hat entschieden, dass sie es nicht mehr nötig hat, ihren Teil | |
zu jenem Ausgleich zu leisten, der die schlimmsten Härten für | |
Lohnabhängige und Arbeitslose im Interesse des sozialen Friedens auffing. | |
Eines sozialen Friedens, der unter anderem Teil des Gründungskonsenses der | |
Bundesrepublik und ihres Grundgesetzes war. | |
Man will den Marxist*innen bei der jungen Welt nicht zu nahe treten, | |
aber eventuell gibt es weitaus gefährlichere Verfassungsfeinde als sie. | |
Vielleicht mag sich der Verfassungsschutz bei Gelegenheit ja deren | |
Zeitungen mal genauer anschauen. | |
18 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.martinarenner.de/nc/uebersicht/aktuelles/detail/news/presse-und… | |
[2] /Nach-Corona-Ausbruch-auf-Spargelhof/!5766037 | |
[3] /BDI-Chef-zu-Betrieben-und-Corona/!5742045 | |
## AUTOREN | |
Daniél Kretschmar | |
## TAGS | |
Klassenkampf | |
Klassismus | |
Verfassungsschutz | |
Junge Welt | |
GNS | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke | |
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Pro-Palästina-Demos weltweit: „Oh Qassam, zerstör Tel Aviv“ | |
Weltweit wurde am Samstag für Palästina demonstriert. In Berlin wurde | |
Israels Zerstörung berufen, es kam zu Straßenschlachten und Antisemitismus. | |
Petition der Woche: Was wusste der Verfassungsschutz? | |
Eine Petition fordert die Veröffentlichung des hessischen | |
Verfassungsschutzberichtes. Darin geht es um die eigene Verstrickung in den | |
NSU-Skandal. | |
Opposition spricht von Alarmsignal: Neonazi in Asylbehörde | |
Im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sollen mehrere Rechtsextreme | |
gearbeitet haben. Die Opposition spricht von einem Alarmsignal. |