| # taz.de -- Volker Weidermann verlässt den „Spiegel“: Glück eines Kritike… | |
| > Nach sechs Jahren beim „Spiegel“ kündigt Weidermann. Der ehemalige | |
| > Moderator des „Literarischen Quartetts“ hat eine Abschiedsmail | |
| > geschrieben. | |
| Bild: Volker Weidermann im unglücklichen Jahr 2017 | |
| „Der Schritt ist mir leichtgefallen.“ Allein für diesen Satz, der cool die | |
| gewohnte Floskel des für – wer weiß!? – künftige Verwendung absichernden | |
| Abschieds von einem Arbeitgeber zur Kenntlichkeit verzerrt, wäre Volker | |
| Weidermann zu preisen und zu beneiden. | |
| Denn nichts lieber als so einen abgezockten Satz möchten ja viele, denen in | |
| der Pandemie einmal unverhüllt ihr wahrer Wert als abhängig Beschäftigte | |
| vor den Latz geknallt wurde, in die Hallen und Etagen ihrer Arbeitsstätte | |
| rausjagen. Haben sie doch letzthin deutlich Bescheid bekommen, etwa von | |
| Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, der | |
| Sorgfaltspflicht am Arbeitsplatz so definiert hat: [1][„Es gilt nach dem | |
| Grundgesetz die Unantastbarkeit der Menschenwürde, aber das Recht auf | |
| ewiges Leben nicht.“] | |
| Wir alle sollen uns eben nicht fragen, was das System für uns tun kann, | |
| sondern was wir für das System tun können. Wir sollen, [2][um aus Volker | |
| Weidermanns Abschiedsmail an seine Spiegel-Kolleg:innen zu zitieren], | |
| schlicht akzeptieren, wie es eben ist, und nicht „sagen, was nicht ist“, | |
| „sagen, was sonst noch so sein könnte“, „sagen, wie es besser wäre“, … | |
| gar „sagen, was niemand sonst sich zu sagen traut“. | |
| Was Weidermann beklagt und was das Medienportal Übermedien öffentlich | |
| gemacht hat, [3][geht über Zustände beim Spiegel] – „so ein großes, | |
| unglaublich einflussreiches Haus“ – hinaus. In einer Zeit, in der | |
| Nachrichten einem von jedem Bildschirm kostenlos nachgeworfen werden, ist | |
| das augsteinsche „Grundgesetz“ des „Sagens, was ist“, zu einer | |
| Weltbeschreibung zerronnen, die in jedem aufgedeckten Skandal nur die | |
| Abweichung von einer Normalität sieht, die wiederhergestellt werden muss. | |
| Dabei ist eben die Normalität das Problem. | |
| ## Für ältere Herren | |
| Der Spiegel in seiner gedruckten Form hat ganz haptisch zu kämpfen, weil er | |
| ein Gebilde ist, dass sich nicht wie eine in Bücher aufgeteilte Zeitung | |
| teilen lässt. Es ist ganz überwiegend der ältere, männliche, berufstätige | |
| Leser, der das Magazin zur Hand nimmt, es nach „was ist“-Versorgung ablegen | |
| oder weitergeben kann. Wenn Weidermann von [4][„Angst, Misstrauen, | |
| Beharrungswillen, Unmut, Kontrollwahn“] schreibt, dann verkennt er | |
| möglicherweise, dass eben das Gefühle und Attitüden sind, die ein Großteil | |
| der Leserschaft selbst einbringt und gespiegelt sehen will. | |
| Und das ist ja auch kein Wunder, hat doch die Pandemie nur die mindestens | |
| zwei Großkrisen und die eine globale Befreiungsideologie zeitweise | |
| überdeckt, die unsere Epoche prägen: die Klimakatastrophe, die von ihr mit | |
| ausgelöste verzweifelte Fluchtbewegung vieler Menschen und die größte | |
| antiautoritäre Bewegung im Westen seit 1968, für deren Kenntlichmachung | |
| hier die Schlagworte „Identitätspolitik“ und „Black Lives Matter“ gen�… | |
| müssen. | |
| In einer solchen Lage ist die von Weidermann beklagte Perspektivlosigkeit | |
| des Spiegel-Weltbilds genau das, was verängstigte Boomer kaufen, sozusagen | |
| die Wiederauflage von Themen und Sprache der 1980er Jahre in Dauerschleife, | |
| [5][mit gelegentlichen Verirrungen in deutlich schlimmere Epochen der | |
| deutschen Geschichte.] Und selbst das „Sagen, was ist“, gelingt eben | |
| durchaus nicht immer – aber so geht es uns natürlich allen. | |
| ## Oder sollte er es lassen? | |
| Angst macht depressiv oder verwandelt einen in einen Friedrich-Merz-Klon. | |
| Nur eine sinnvolle Tätigkeit schafft Glück. Das ist der zweite wichtige | |
| Aspekt von Weidermanns Mail: „Ich bin hier nicht glücklich gewesen.“ Zum | |
| Glück gehört das Beharren, es auch sein oder zumindest werden zu können, | |
| das der Literaturkritiker gegen Einwände verteidigt: „Ich weiß schon, viele | |
| sagen: Na, darauf kommt’s doch nicht an. Ich glaube doch, dass es darauf | |
| ankommt.“ | |
| Und weil wir mit Weidermanns Coolness begonnen haben, die er nicht zuletzt | |
| in seinem Kommentar [6][zur Einladung der antisemitischen Possenreißerin | |
| Lisa Eckardt in das „Literarische Quartett“] an den Tag legte, hören wir | |
| mit ihr auch auf: Zur Coolness gehört nämlich, dass er seine durchaus auch | |
| sehr herzliche Abschiedsmail an die Kolleginnen und Kollegen beim Spiegel | |
| nicht weiter kommentiert. Und nun sein Glück als Feuilletonchef der Zeit | |
| sucht. Ob er das mal lieber gelassen hätte, wird die Zukunft weisen. | |
| Immerhin gibt es für ihn jetzt wieder eine. | |
| 13 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /BDI-Chef-zu-Betrieben-und-Corona/!5742045 | |
| [2] https://uebermedien.de/59677/so-viel-angst-misstrauen-beharrungswillen-unmu… | |
| [3] /Interner-Streit-beim-Spiegel/!5744801 | |
| [4] /Barbara-Hans-verlaesst-den-Spiegel/!5762863 | |
| [5] /Ausstellung-ueber-Archaeologie/!5538515 | |
| [6] https://www.spiegel.de/kultur/lisa-eckhart-im-literarischen-quartett-nicht-… | |
| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
| ## TAGS | |
| Der Spiegel | |
| Medien | |
| Feuilleton | |
| Literatur | |
| Der Spiegel | |
| Mann | |
| Literarisches Quartett | |
| Literarisches Quartett | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Melanie Amann: Vize-Chefredakteurin verlässt „Spiegel“ | |
| Die stellvertretende Chefredakteurin Melanie Amann arbeitet künftig nicht | |
| mehr beim „Spiegel“. Zuvor gab es Berichte über einen Machtkampf bei dem | |
| Magazin. | |
| Männer-Debatte: Versagen ist keine Option | |
| Mittelalte Männer fühlen sich in Politik und Wirtschaft von vermeintlichen | |
| Machern wie Friedrich Merz angezogen. Da hilft nur Frank Sinatra hören. | |
| Neue Staffel „Literarisches Quartett“: Solo plus drei | |
| Im neuen Quartett wird krampfhaft versucht, an aktuelle Themen anzuknüpfen. | |
| Polemik und scharfe Kritik aber fehlen weitestgehend. | |
| Kolumne Jung und dumm: Wenn Weidermann weint | |
| „Die Unglückseligen“: Literaturkritiker haben neuerdings auch Gefühle. Und | |
| Gedanken. Manchmal sogar zwei auf einmal. |