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# taz.de -- Europameisterschaften im Turnen: Gegen das Gefühl der Nacktheit
> Turnerin Sarah Voss zieht im Ganzkörperanzug die Blicke auf sich. Die
> jüngsten Misshandlungsvorwürfe werfen einen Schatten auf die EM.
Bild: Im Wohlfühloutfit: Sarah Voss bei der EM hoch über dem Balken
Basel taz | Blicke bekommt man im Turnen in der Regel für herausragende
Leistungen oder auch für bemerkenswerte Stürze. Ansonsten lässt diese
Sportart mit ihrem strikten Reglement kaum Spielraum für Aktionen, die
Aufmerksamkeit erregen. Als die Niederländerin Céline van Gerner 2018 für
ihre Bodenkür zur Musik von „Cats“ mit einem Make-up auflief, das in jeder
Musicalvorführung beeindruckt hätte, wurde kurzerhand ein Paragraf ins
Reglement aufgenommen, der für die Zukunft untersagte, was man in der
Funktionärsriege offenbar als ein Übermaß an Individualität betrachtete.
Im Qualifikationsdurchgang der Turn-Europameisterschaft am Mittwoch in
Basel gelang es Sarah Voss, Blicke auf sich zu ziehen – und zwar mit ihrem
Turnanzug. „Ich habe so lange wie möglich die Jacke anbehalten, da sah es
so aus, als hätte ich einfach noch eine lange Hose drunter“, sagte sie nach
ihrem Wettkampf. Als sie dann vor dem Schwebebalken stand, in einem
schwarz-roten Ganzkörperanzug, hatte sie alle Blicke sicher. Alle Blicke
der anderen Delegationen zumindest, denn Zuschauer sind coronabedingt nicht
zugelassen.
Sportlich hat es nicht so geklappt: Mit zwei Stürzen landete die
WM-Finalistin von 2019 auf Rang 79 am Balken und verpasste knapp das
Sprungfinale. Die Ursachen dafür sind jedoch keineswegs beim neuen Outfit
zu suchen: Sie habe sich „sehr wohl gefühlt“, sagt Voss, sie sei „froh u…
auch stolz“, diesen Anzug zu tragen. Es war vielmehr eine zweiwöchige
strikte coronabedingte Quarantäne, die Voss eine – wie sie formulierte –
„holprige“ Vorbereitung beschert hatte. Teamchefin Ulla Koch zollte ihrer
Athletin „Respekt“ dafür, dass sie entschieden hatte, überhaupt in Basel
anzutreten.
Zurück zur Bekleidung: Die Reaktionen waren laut Voss positiv.
Mitstreiterinnen aus Schweden hoben den Daumen, andere lächelten
anerkennend und lobten den „schönen“ Anzug. Auch Ulla Koch beobachtete die
Reaktionen. „Ich glaube, die meisten wissen gar nicht, dass wir lang tragen
dürfen“, sagt die Cheftrainerin. Sie hatte den Impuls für die deutsche
Initiative gegeben, nachdem ihr eine ihrer Athletinnen erzählt hatte, sie
fühle sich in dem knappen Dress „manchmal fast nackt“. Da habe sie gedacht:
„Da muss man auch als Trainerin reagieren.“ Es sei schließlich wichtig,
dass die Athletinnen sich im Wettbewerb auch wohlfühlten. Also begann im
Team während der ersten Coronaphase ein kreativer Prozess, wie denn ein
solcher Ganzkörperanzug aussehen könnte.
## Umstrittene Trainer
Die sonst so strikten Regularien der Turnwelt lassen dies bereits seit 2009
zu. Eine Änderung, zu der der Weltverband sich durchgerungen hatte, seit
vermehrt auch Turnerinnen aus muslimisch geprägten Ländern, in denen der
klassische Turnanzug zum Teil auf laute Kritik von Traditionalisten
gestoßen war, auf internationaler Bühne auftreten. Es gab also in den
vergangenen Jahren durchaus vereinzelte Auftritte von Athletinnen im
Langdress. Auch sie bekamen Blicke, an zustimmende Anerkennung oder gar
positive Kommentare kann sich allerdings niemand erinnern.
Eine Frage des Kontextes also. Auf den war Sarah Voss bestens vorbereitet:
Sie sprach über Eleganz, darüber, dass man größer, die Beine länger wirken
würde; und vor allem darüber, sie wolle ein Vorbild für andere Turnerinnen
sein, jenen Mut geben, die sich vielleicht auch im knappen Dress unwohl
fühlen. Man würde hiermit gern einen Trend setzen, erklärte die 21-Jährige
selbstbewusst.
Im Frauenturnen ist bekanntlich auch ohne Wettkämpfe im vergangenen Jahr
viel passiert – Stichwort: die Netflix-Doku [1][Athlete A], die
internationale Bewegung #gymnastAlliance, die Vorwürfe von Pauline
Schäfer, die in Basel abiturbedingt fehlt, gegen ihre Chemnitzer Trainerin,
Suspendierungen und Untersuchungskommissionen in etlichen Ländern. Das
Thema ist auch in Basel präsent, und nicht nur unterschwellig.
So liefen die [2][britischen Turnerinnen] ohne ihre noch suspendierte
Cheftrainerin auf. Die Belgierinnen hingegen mit Trainerehepaar Marjorie
Heuls und Yves Kieffer, das nach Veröffentlichung einer Untersuchung, die
ihnen für die Vergangenheit „grenzüberschreitendes Verhalten“ bescheinigt,
letzte Woche ein eher skurriles Entschuldigungsvideo veröffentlicht haben.
Vincent Wevers, Vater und Trainer der Zwillinge Sanne und Lieke, sieht sich
Beschuldigungen ausgesetzt, durfte aber seine Töchter in Basel betreuen.
Auch sie bekamen Blicke am Mittwoch: Die 29-Jährigen qualifizierten sich
mit beeindruckenden Vorträgen für das Balkenfinale am Sonntag.
22 Apr 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Sandra Schmidt
## TAGS
Turnen
Missbrauch
Feminismus
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Schwerpunkt #metoo
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Kolumne Press-Schlag
Turnen
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
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