# taz.de -- Trainingsregime im Turnen: Warten auf den echten Wandel | |
> Frauenturnen hat ein strukturelles Problem psychischer Gewalt. Mit | |
> schönen Bildern schicker Ganzkörperanzüge lässt es sich nicht lösen. | |
Bild: Sarah Voss im Ganzkörperanzug bei der EM in Basel | |
Das Turnen hat ein Problem. Ein Problem, das seit fast einem Jahr in der | |
Öffentlichkeit verhandelt wird. Es geht um ein Trainingsregime, in dem | |
Gewalt ausgeübt wird, vor allem psychische Gewalt: absolute Macht und | |
Kontrolle der Trainer:in, subtiler Druck und explizite Strafmaßnahmen, | |
das Ignorieren von Verletzungen, die ständige persönliche Erniedrigung der | |
Schutzbefohlenen, nicht nur, aber insbesondere im Kontext des Gewichts der | |
Turnerinnen. | |
So geht Leistung, ist die Überzeugung vieler, und für Leistung, also | |
Medaillen, wird man schließlich als Trainer:in im Hochleistungssport | |
bezahlt. Das Problem gibt es auch in Deutschland, wie die Ende Januar | |
veröffentlichte Zusammenfassung der Untersuchung von Vorwürfen, die | |
Chemnitzer Turnerinnen gegen ihre Cheftrainerin erhoben haben, belegt. Die | |
Trainerin ist suspendiert. Der Verband spricht jetzt von einem | |
Kulturwandel. | |
So weit, so bekannt. Und jetzt? Bei der EM startet [1][Sarah Voss in einem | |
Ganzkörperanzug]. Der Verband formuliert eine Pressemitteilung, in der er | |
auf seine [2][Maßnahmen zur „Prävention sexualisierter Gewalt“] hinweist | |
und formuliert zum Auftritt von Voss: „Der Deutsche Turner-Bund sieht | |
diesen Schritt als ersten wichtigen Baustein, um das Wohlbefinden aller | |
Athletinnen in den Turn-Sportarten zu stärken und eine offene Kultur im | |
Hinblick auf das Tragen von Wettkampfbekleidung zu schaffen.“ Dann titelt | |
eine erste Meldung: „Sarah Voss gegen Sexualisierung“. Mit diesem Stichwort | |
rollt die Welle los: „Sexismus-Protest!“, „Aufbegehren in Hosen“ – und | |
schwups! wird es eine „Revolution“ im Frauenturnen. | |
## Fremde Federn | |
Daran ist so gut wie alles falsch. Zum einen die Chronologie: Der Verband, | |
der dieses Trikot nun als „wichtigen Baustein“ in seinem Kulturwandel | |
vereinnahmt, hat – so schreibt er es Ende Januar 2021 selbst – gar nicht | |
geahnt, was für schlimme Dinge in deutschen Turnhallen geschehen. Die | |
Initiative zum Ganzkörperanzug hingegen stammt aus dem Frühjahr 2020 – | |
Cheftrainerin Ulla Koch hatte sie angestoßen, nachdem ihre Athletinnen vom | |
persönlichen Unwohlsein im Kurzdress berichtet hatten. | |
Und dann ist da die einseitige Kontextualisierung seitens vieler Medien. Es | |
würde reichen, Sarah Voss zuzuhören: Die 21-Jährige hat unmissverständlich | |
erklärt, welche Intention dahinter steht: Sich selbst wohler fühlen im | |
Wettkampf, zeigen, dass so ein ungewöhnlicher Einteiler elegant und schön | |
sein kann und damit „jüngeren Turnerinnen, die sich vielleicht auch unwohl | |
fühlen, ein Vorbild sein“. Es gehe um die Freiheit der Entscheidung – für | |
kurz oder für lang – kurzum um ein Stück Selbstbestimmung der Athletin. Das | |
ist die zentrale Botschaft, und sie ist wichtig. | |
Die Worte Protest, Sexismus oder Sexualisierung hatte Sarah Voss allerdings | |
nicht in den Mund genommen. Zu Recht. Denn wenn aus dieser Aktion nun ein | |
„Protest“ wird, würde das im Umkehrschluss auch bedeuten, dass all die | |
Turnerinnen, die weiterhin ein Kurzdress bevorzugen, damit Sexismus und | |
Sexualisierung Vorschub leisten. Das wäre fatal und das Gegenteil der | |
Intention, die freie Entscheidung zu propagieren. | |
Im Frauenturnen, das übrigens fast nur von Frauen bewertet wird, sind | |
kindliche, also vorpubertäre Körper nach wie vor deutlich in der Mehrheit. | |
Es ist schon deshalb kein ausgewiesener Tummelplatz für sexistische | |
Sprüche. Anders gesagt: Die Sportart ist so sexistisch wie die patriarchale | |
Gesellschaft. Die DTB-Führung reibt sich nun feixend die Hände über einen | |
gelungenen PR-Coup. Man steht gut da. | |
Und das strukturelle Problem psychischer Gewalt? Scheint im Aufsehen, das | |
der Ganzkörperanzug erregt hat, irgendwie verschwunden. So leicht sollte | |
man es dem Deutschen Turner-Bund nicht machen. | |
24 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sandra Schmidt | |
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