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# taz.de -- Die Wahrheit: Autokorso der Coronasimpel
> Als Begleitperson für einen Impfling in eine gespenstische Demonstration
> von Pandemieleugnern zu geraten, weckt die alten Widerspruchsgeister.
Wenn ich mich in der Pubertät zu einer akuten Aufsässigkeit verleiten ließ
und in meinem Elternhaus die Füße auf den Tisch legte, wurde mir mein
absoluter Lieblingssatz um die Ohren gehauen: „So fangen wir hier gar nicht
erst an!“
Um des lieben Friedens Willen nahm ich augenrollend die Füße vom Tisch und
schwor, dass ich niemals selbst diese herablassende Form der „inklusiven
Anrede“, wie es in der Linguistik genannt wird, verwenden würde. Dann
vergaß ich die belehrende Phrase – solange, bis mich irgendein Arzt
wohlwollend von oben herab mit dem Pluralis benevolentiae ansprach: „Und?
Hatten wir heute schon Stuhlgang?“ Ich weiß schon, warum ich gelernter
Widerspruchsgeist das kollektive Wir verabscheue.
Am vergangenen Sonntag war ich in Berlin Begleitperson eines Impflings und
begegnete zum ersten Mal seit ewigen Zeiten der gönnerhaften Ansprache.
Nicht jedoch im erstaunlich gut organisierten Impfzentrum, das im
ehemaligen Flughafen Tempelhof eingerichtet war. Zwar wirkte die
Impfschlange ein wenig wie ein Viehtrieb, aber das Ganze fluppte viel
besser, als in der schlecht gelaunten und von der Pandemie erschöpften
Öffentlichkeit vermutet.
Vor dem Flughafengebäude allerdings tuckerte auf dem Tempelhofer Damm ein
gespenstischer Autokorso laut hupender Coronaleugner hin und her. Dutzende
gelangweilte Polizisten begleiteten in ihren Dienstfahrzeugen die vom
örtlichen Diktator genehmigte Demonstration. Den Kennzeichen nach stammten
die mit irren Parolen („Corona-Diktatur beenden“) beklebten Wagen der
Querfunzeln aus Provinzorten wie Potsdam oder Paderborn, gesteuert wurden
sie von mit Guruhemden bekleideten Pferdeschwanzträgern – Typ: erleuchteter
Heilpraktiker.
Von diesen Gestalten wird sich selbstverständlich niemand impfen lassen,
das muss die gesamte Gesellschaft für sie mit erledigen, um die Pandemie
einzudämmen. Stattdessen nutzen die anmaßenden Ignoranten die
gesellschaftliche Freiheit auf Kosten zum Beispiel jener bedauernswerten
Krankenschwestern, die seit mehr als einem Jahr auf den überfüllten
Intensivstationen bis zum Anschlag wullacken.
Unermüdlich skandierte ein Paderborner Pferdeschwanz in sein Megafon
hinein: „Merkel aufs Schafott! Spahn aufs Schafott! Söder aufs Schafott!“
Dann brach er seine Tirade plötzlich ab und ranzte aus dem offenen
Autofenster heraus Passanten wie mich am Straßenrand direkt an: „Berliner!
Masken nützen nichts. Nur gegen Mundgeruch. Wir nehmen jetzt mal schön die
Masken ab!“
Da war es wieder! Das lang vergessene „So fangen wir hier gar nicht erst
an!“. Und in dem Moment explodierte in meinem Kopf ein Feuerwerk des
Verstehens, mir wurde klar, dass es mit diesen Simpeln und ihrer Sprache
der Idiotie niemals den lieben Frieden geben konnte. Also sprach ich ein
großes Wort gelassen aus: „Nein!“
20 Apr 2021
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Schwerpunkt Coronavirus
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