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# taz.de -- Nawalny im russischen Straflager: Nawalny wird nicht behandelt
> Der russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny hat Schmerzen. Er
> simuliere, behauptet man im Straflager. Jetzt tritt er in den
> Hungerstreik.
Bild: Im Straflager N2, wo Nawalny einsitzt, steht auch eine orthodoxe Kirche
Moskau taz | Das Wichtigste, sagen Menschen, die in russischen
Strafkolonien waren, sei es, hinter Gittern nicht krank zu werden. Das hat
vor seiner Haft wohl auch Alexei Nawalny, Russlands bekanntester Häftling,
gesagt bekommen – von einem, der es wissen muss: Michail Chodorkowski,
einst Oligarch, dann Politgefangener, nun Kämpfer für die Demokratie im
Exil in London. Er hat zehn Jahre in verschiedenen russischen Strafkolonien
abgesessen. In Haft, so Chodorkowski, „wird dich niemand behandeln. Wirst
du ernsthaft krank, stirbst du.“
Diese Worte lässt Nawalny seine Vertrauten über seinen Instagram-Kanal
verbreiten. In der „Besserungskolonie Nummer 2“ in Pokrow, etwa 100
Kilometer östlich von Moskau gelegen, sitzt er seine zweieinhalbjährige
Strafe ab und darf lediglich hin und wieder Besuch von seinen Anwälten
bekommen.
Nun ist Nawalny offenbar krank. Seit Wochen klagt er über Schmerzen im
Rücken, die nach seinen Angaben mittlerweile in beide Beine ausstrahlen und
sie taub werden lassen. Medizin aber bekomme er keine, klagt er – und ist
deshalb in Hungerstreik getreten. „Was soll ich denn sonst tun?“, fragt er
via Instagram. Einen solchen Schritt habe er stets als radikale politische
Geste bezeichnet, sagen die Weggefährten des inhaftierten
Oppositionspolitikers. Er halte ihn für einen Weg, der nur dann zu
beschreiten sei, wenn der Mensch ihn auch bis zum Ende gehen wolle. Eine
andere Methode für den Kampf um seine Rechte sehe er nicht, heißt es in dem
Post.
Seine Anwälte befürchten für den Fall, dass er nicht behandelt wird, eine
dauerhafte Behinderung. Nawalny könnte wieder ins Koma fallen, sagt der
Neurologe Alexei Barinow, um dessen Besuch in der Strafkolonie Nawalny
angefragt hatte.
Die von Russland unabhängige Gewerkschaft Allianz der Ärzte fordert in
einem offenen Brief an den Strafvollzug, Nawalny schnell medizinische Hilfe
zukommen zu lassen – „um uns Ärzteschaft nicht in der ganzen Welt zu
blamieren“. Fast 160 Autoren, Regisseure, Journalisten haben ebenfalls in
einem offenen Brief an die Strafvollzugsbehörden gefordert, für „normale
und nicht lebensbedrohende Verhältnisse in der Strafkolonie“ zu sorgen.
Auch Nawalnys Anwälte und er selbst schreiben Beschwerden.
Es passiert das, was oft passiert hinter den Mauern des geschlossenen, noch
an die Traditionen des Zarenreiches und des stalinistischen Gulag
anknüpfenden Mikrokosmos: nicht viel. „Hallo, es tut sehr weh. Lasst einen
Arzt hierher oder gebt mir Medikamente“, lässt Nawalny über Instagram
wissen.
Der russische Strafvollzugsdienst FSIN nennt Nawalnys Zustand dagegen
„zufriedenstellend“, der Gefangene erhalte „notwendige medizinische
Versorgung“. Mitglieder der staatlichen Kommission für Menschenrechte von
Inhaftierten, die Nawalny nach dessen Beschwerden in der Strafkolonie
besuchten, sagen, dieser simuliere.
Viele der in dieser Kommission Vertretenen waren früher bei der Polizei
aktiv und somit Teil der russischen Sicherheitsorgane. Nawalny nennt sie
„Gauner und Lügner“.
Obwohl jede russische Hafteinrichtung über eine medizinische Einheit
verfügt und beim täglichen Kontrollrundgang meist auch ein Arzt dabei ist,
sei die Versorgung „armselig“, sagen russische Menschenrechtler. „Wenn der
Mensch nicht mehr in Freiheit ist, verliert er das Recht auf Gesundheit,
manchmal auch das Recht auf Leben“, heißt es in einem Interview mit Natalja
Magnitskaja in der Nowaja Gaseta.
Magnitskaja hat vor elf Jahren ihren damals 37-jährigen Sohn Sergei
Magnitski verloren. Er saß im Moskauer Untersuchungsgefängnis
„Matrosenruhe“, in dem auch Nawalny war. Der Wirtschaftsprüfer hatte
illegale Steuerrückzahlungen an zwei Oberste des Innenministeriums und
deren kriminelles Netzwerk aufgedeckt. 2008 kam er als gesunder Mann in
Haft und starb ein Jahr später an einer Bauchspeicheldrüsenentzündung. Eine
Gefängnisärztin stellte zwar die Diagnose, behandelt wurde Magnitski, der
für den britischen Unternehmer Bill Browder tätig war, allerdings nie.
Nawalnys Mitstreiter und seine Familie befürchten ein ähnliches Schicksal.
## Eine Petition „Free Navalny“ gibt es
Voller Sorge um ihr inhaftiertes Idol planen die Anhänger des
Oppositionspolitikers trotz allem weitere Protestaktionen. Dafür wollen
sie auf ihrer Website [1][free.navalny] zunächst online 500.000
Unterschriften sammeln. Mehr als 367.000 davon sind bereits
zusammengekommen.
Nawalny hat derweil auch eine Beschwerde wegen Folter durch Schlafentzug
eingereicht. Da der 44-Jährige von den Behörden als „fluchtgefährdet“
eingestuft wurde, wird er nachts jede Stunde geweckt, damit ein
Strafvollzugsmitarbeiter seinen Verbleib vor Ort mit einer Videokamera
dokumentieren kann. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nannte ein solches
Vorgehen „normal“. In ausländischen Haftanstalten gehe es weit strenger zu,
behauptete er.
Nawalny nimmt die gnadenlose Behandlung in Pokrow mit Humor, wie er es
immer mit Humor zu nehmen versucht, malt sich die Geschichte aus, wie er
mit einem Holzbein wie der Pirat Long John Silver aus der „Schatzinsel“
durch die Strafkolonie humpelt. „Ich liege hungrig, aber noch mit zwei
Beinen da“, scherzt er. Die Schmerzen aber hören nicht auf. Kommt hinzu,
das auch niemand sagen kann, welche Spätfolgen die Vergiftung mit dem
Nervengift Nowitschok auslösen könnte.
## Die Diagnose bleibt geheim
In der Zwischenzeit haben Ärzte eines zivilen Krankenhauses in Wladimir,
der Hauptstadt der Region, in der die Strafkolonie von Pokrow liegt, den
Oppositionspolitiker untersucht. Ein MRT sei veranlasst worden, die
Diagnose aber sei weder dem Gefangenen noch seinen Anwälten mitgeteilt
worden, sagte Nawalnys Rechtsbeistand Wadim Kobsew. Das ist nicht
ungewöhnlich in der russischen Gefängnismedizin, die an allerlei Defiziten
leidet.
Das Institut für Probleme der Rechtsanwendung (IPP) an der Europäischen
Universität in Sankt Petersburg spricht in einem Aufsatz von fünf
Hauptproblemen in der Medizin des russischen Strafvollzugs. Es fehle in den
Kolonien nicht nur an einfachsten Mitteln wie Schmerztabletten oder
Nasensprays, sondern vor allem an Personal, auch an medizinischem. Auf
1.000 Häftlinge kommen laut IPP 11 Ärzte, 32 Arzthelfer und 5 Psychologen.
„Viel zu wenige, zumal im europäischen Vergleich“, sagt Xenia Runowa vom
IPP. Zudem sei die Abhängigkeit der Ärzte vom nichtmedizinischen Personal
in den Strafkolonien sehr stark. 30 Prozent aller Mediziner im russischen
Gefängniswesen sind sogenannte Ärzte mit Schulterklappen. Sie sind
Offiziere des Strafvollzugs, unterstehen dem Justizministerium und damit
auch Befehlen ihres Vorgesetzten in der Kolonie. Das größte Problem aber
seien organisatorische und logistische Schwierigkeiten, wodurch der Zugang
der Häftlinge zu medizinischer Versorgung unzureichend sei und die Diagnose
oft zu spät gestellt werde.
Gemäß dem Gesetz hat in Russland jeder Häftling das Recht auf Behandlung
durch einen Arzt, dem er vertraut. Alexei Nawalnys Angehörige sagen, sie
hätten auch längst einen Arzt organisiert. Die Strafvollzugsbürokratie legt
einem solchen Vorhaben jedoch etliche Steine in den Weg: Erforderliche
Beglaubigungen, Kontrollen, interne Vorgaben. „Das System hat mehrere
Methoden, niemanden zum Häftling vorzulassen“, sagt Xenia Runowa. „Und
Häftlinge, die ständig Beschwerden schreiben, mag man in der Strafkolonie
schon gar nicht.“
Nawalny hat innerhalb von zwei Wochen in Pokrow bereits sechs Verweise
kassiert. Einmal sei er zehn Minuten vor dem Aufstehbefehl aufgestanden,
einmal habe er beim Treffen mit seinen Anwälten ein T-Shirt getragen,
einmal habe er die Teilnahme an einem Videovortrag verweigert. Bereits ab
zwei Verweisen könnte ein Häftling in einen Strafisolator kommen. Eine
Schreckenskammer mit noch unmenschlicheren Bedingungen.
2 Apr 2021
## LINKS
[1] http://free.navalny.com
## AUTOREN
Inna Hartwich
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