| # taz.de -- 50 Jahre Roma*-Emanzipationsbewegung: Zeit, um zusammenzukommen | |
| > Am 8. April wird 50 Jahre Emanzipationsbewegung der Roma* gefeiert. Doch | |
| > gibt es einen Grund zu feiern, und für was muss heute gekämpft werden? | |
| Bild: Kurator*innen der Roma-Biennale, Delaine Le Bas und Hamze Bytyci, bei der… | |
| Am Donnerstag feiern wir 50 Jahre der weltweiten Emanzipationsbewegung der | |
| Roma*. Anlass dafür ist das Jubiläum des Ersten Welt-Roma*-Kongresses, der | |
| am 8. April 1971 in Orpington bei London stattfand. Doch was gibt es | |
| eigentlich nach fünf Dekaden zu feiern? | |
| Während 1971 die Aktivist*innen für die Anerkennung des Genozids an den | |
| Sinti* und Roma* kämpften, müssen wir 2021 dafür kämpfen, dass das viel zu | |
| spät eingeweihte [1][Denkmal für die ermordeten Sinti* und Roma* Europas in | |
| Berlin-Tiergarten unberührt bleibt]. In den Augen des Berliner Senats, des | |
| Deutschen Bundestags und der Deutschen Bahn – der Nachfolgeorganisation der | |
| Reichsbahn, die mit Transporten in die KZs Geld verdiente – steht das | |
| Denkmal zur Disposition und soll womöglich dem Bau einer S-Bahn-Linie | |
| weichen. Es wurde als Ausdruck der Anerkennung des NS-Völkermords an den | |
| Sinti* und Roma* Europas und der deutschen Verantwortung für die | |
| Geschichte, aber auch die Gegenwart dieser Minderheit in Europa errichtet. | |
| Doch wird diese jetzt zurückgenommen? | |
| Stellt euch vor, ihr habt die Möglichkeit, bei Harry Potter mitzumachen. | |
| Kennt ihr noch die Szene, wo er zum Gleis 9 ¾ kommen soll? Er rennt quasi | |
| bildlich gegen die Wand. Aber wie wir wissen, das führt zu was. Nicht | |
| immer, aber in diesem Fall schon. | |
| So oder so ähnlich muss es wahrscheinlich auch vor 50 Jahren in Orpington | |
| gewesen sein. Ihr rennt also gegen die Wand und landet im Cannock House, | |
| einem Schulgebäude. Vielleicht passt auch hier der Vergleich, denn vom 8. | |
| bis zum 10. April 1971 wurde es in eine Art Hogwarts der Zeitgeschichte | |
| verwandelt. Von diesem Ort ging [2][die internationale Bewegung der Roma*] | |
| aus. Die Rede ist hier vom Ersten Welt-Roma*-Kongress, an dem | |
| Vertreter*innen von Roma* und Sinti* aus West- und Osteuropa teilnahmen | |
| mit dem Ziel, mit einem neuen Selbstbewusstsein der Welt gegenüberzutreten | |
| und für Gleichberechtigung zu kämpfen. Keine*r von ihnen ist als | |
| Dumbledore auf die Welt gekommen, doch mit dem Kampf gegen Antiziganismus | |
| haben sie es gleich mit einem Gegner der Größe von Lord Voldemort | |
| aufgenommen. | |
| ## Anerkennung des Genozids | |
| Aber immer der Reihe nach. Der Porajmos, wie der NS-Völkermord an den Roma* | |
| und Sinti* genannt wird, war zu dem Zeitpunkt über 25 Jahre her, doch immer | |
| noch nicht als solcher anerkannt. Im Gegenteil: Die Überlebenden mussten | |
| sich täglich ihren Peiniger*innen aussetzen: ob in der Schule, beim | |
| Arzt oder in Behörden. Nicht nur in Deutschland, auch überall sonst gab es | |
| Täter*innen und Mitläufer*innen, die ihre eigenen Nachbar*innen | |
| teilweise bereitwillig verraten hatten. | |
| Natürlich war also die Anerkennung des Genozids an den Sinti* und Roma* | |
| eine der wichtigsten Forderungen des Kongresses von 1971. Um mit dem Bild | |
| von Harry Potter zu schließen: Hier saßen ein paar Zauberlehrlinge vor dem | |
| Feuer – aus Protest gegen die fehlende Holocaust-Anerkennung wurde ein Zelt | |
| aufgestellt und anschließend verbrannt – und waren auf der Suche nach | |
| Zaubertricks und Formeln. | |
| Die Schlüsselformel hieß „Roma*“ – als die vom Kongress gewählte | |
| Selbstbezeichnung, die alle anderen rassistischen Fremdbezeichnungen | |
| zukünftig ersetzen sollte. Als Zauberzirkel braucht man auch ein Wappen. | |
| Wieso also nicht gleich eine Roma*-Fahne mit den Farben blau für den | |
| Himmel, grün für die Erde und am besten noch mit einem roten Chakra-Rad für | |
| die Wurzeln und die lange Wanderung der Roma*. | |
| Jetzt fehlt nur noch ein „Abrakadabra“, um das Wunder zu vollenden. Somit | |
| entstand die internationale Roma*-Hymne „Djelem Djelem“. Sie handelt von | |
| dem langen Weg der Roma*, von dem Leid und der „schwarzen Legion“, also der | |
| SS, die etwa eine halbe Million Sinti* und Roma* vernichtete. Aber auch von | |
| dem Moment der Emanzipation: „Steht auf, Roma*, die Wege sind für uns | |
| offen“, heißt es zum Schluss des Liedes. Wir dürfen nicht vergessen: Es war | |
| die Zeit des Kalten Kriegs und des Eisernen Vorhangs. | |
| ## 50 Jahre später – und jetzt? | |
| Mein persönliches Fazit 50 Jahre später: Während das ehemals geteilte | |
| Europa zusammengewachsen ist, zersplitterte die Roma*-Bewegung in tausend | |
| Stücke. Große Gönner*innen tingeln durch die Welt und versprechen das | |
| Allheilmittel – doch dass Entwicklungshilfe ein zweischneidiges Schwert | |
| ist, muss ich nicht lange erklären. Die wenigen Roma*, die in Südosteuropa | |
| einen Job haben, arbeiten zu mehr als der Hälfte in geförderten Projekten. | |
| Nicht dass ich es den Menschen nicht gönnen würde, aber wer hat denn schon | |
| Lust, ein Problem zu lösen, wenn man dadurch den eigenen Arbeitsplatz | |
| überflüssig macht? [3][Von der Bürgerrechtsbewegung blieb trotzdem eine | |
| Menge übrig, denn die Nöte bleiben]. Jede*r tut, was sie oder er kann – | |
| vereint oder eben nicht. | |
| Die Leute, die nach Deutschland als Gastarbeiter*innen gekommen sind, | |
| haben das sicher nicht wegen des tropischen Klimas getan. Die, die wegen | |
| der Balkankriege hierhergeflohen sind, haben es sicher nicht aus | |
| hedonistischen Gründen getan. Die Bombardierung Kosovos war der erste | |
| Angriff, an dem Deutschland beteiligt war nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber | |
| darüber reden wir heute nicht mehr, quasi Schwamm drüber. | |
| Und was macht Deutschland doch bloß mit den neuen | |
| „EU-Zuwanderer*innen“? Die sind wie eine Plage, hier und überall. Zum | |
| Glück kann man die Nachfahren der letzten Sklav*innen aus den alten | |
| Fürstentümern Moldawien und Walachei zumindest in die heutige Republik | |
| Moldau abschieben. Egal ob im Rollstuhl, ob hochschwanger oder mit einem | |
| Stomabeutel in der Hand. Den Roma* dort geht es blendend, gesundheitlich | |
| sowieso. Und Corona herrscht in der Republik sicher auch nicht. | |
| Minderheiten, die hier geschützt werden, sind die Friesen, die Dänen, die | |
| Sorben und die nationale Minderheit der deutschen autochthonen Sinti* und | |
| Roma*. Also diejenigen, die schon vor 1945 in Deutschland lebten und es bis | |
| nach 1945 auch geschafft haben. Als wären woanders keine Roma* von den | |
| Faschisten umgebracht worden. | |
| ## Zum Glück gibt es Allies | |
| Wir sind viele im Land der Täter*innen. Und alle unterschiedlich. | |
| Irgendwie auch nachvollziehbar, dass sich die einen ihr hart erkämpftes | |
| Integrationsmonopol nicht nehmen lassen wollen, vor allem wenn wir uns die | |
| allgegenwärtige rassistische Struktur der Unterdrückung vor Augen führen. | |
| Diejenigen, die etwas länger hier waren, hatten den Durchblick in diesem | |
| Land, die anderen waren noch blind. | |
| Es gab zum Glück immer wieder Allies: die Gesellschaft für bedrohte Völker | |
| oder die Liga für Menschenrechte. Aktuell sind es selbst organisierte | |
| Gruppen wie das Aktionsbündnis Antira ABA, Migrantifa, We’ll come united | |
| oder das Theater X in Berlin – und natürlich viele Einzelpersonen! | |
| Und eigentlich wären sowohl das 50-jährige Bewegungsjubiläum und auch die | |
| aktuelle Bedrohung des Berliner Denkmals für die ermordeten Sinti* und | |
| Roma* Europas zwei sehr gute Gründe, um wirklich zusammenzukommen. Dass man | |
| sich nicht mal darauf so richtig einigen kann, hätten sich die | |
| Zauberlehrlinge wohl nicht vorgestellt. | |
| Im Jahr 1992 wurde versprochen, dass es das Mahnmal geben soll. Und kurze | |
| 20 Jahre später war es da, gestaltet von dem israelischen Künstler Dani | |
| Karavan, 2012 festlich eingeweiht von Bundespräsident, Bundeskanzlerin und | |
| anderen Würdenträger*innen. Angela Merkel hat eine sehr tolle Sonntagsrede | |
| gehalten, von Menschenwürde, die unantastbar ist, und von dem Versprechen, | |
| dass sie für alle gilt. Da gab es einen Vogel, der einen Zwischenruf wagte, | |
| ob dies auch für die Abgeschobenen gelte. Aber an den erinnere ich mich | |
| nicht mehr so gut. | |
| Aber auch er hat sich nicht vorstellen können, dass nicht mal 10 Jahre | |
| später dieses Versprechen beiseitegeräumt werden kann. Darüber sprechen | |
| Vertreter*innen des Staates nun mit Vertreter*innen der deutschen | |
| Minderheit hinter verschlossenen Türen seit einigen Monaten. | |
| ## Wer soll kritisiert werden? | |
| Wieso werden Roma*, die nicht zur deutschen Minderheit gehören, nicht zu | |
| den Gesprächen eingeladen? Nichts Genaues weiß man nicht. | |
| Und wen sollten wir hier kritisieren? Den Ansprechpartner der autochthonen | |
| Minderheit? Die Institution, der er vorsteht? Die Strukturen, die es | |
| ermöglichen oder gar befördern? Das Land Berlin? Den Senat? | |
| Verkehrssenatorin Regine Günther? Die Nachfolgeorganisation der Reichsbahn? | |
| Den Bundestag? Den Ältestenrat des Bundestags? | |
| Wir wissen es nicht! Und die Moral von dieser Geschicht? Doch nicht etwa: | |
| Hast du einen Fahrschein oder nicht? Im Ernst: Wir haben mit Hermann Hesses | |
| „Stufen“ angefangen, und vielleicht kann dieses Gedicht auch Hoffnung | |
| geben: | |
| Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise / Und traulich eingewohnt, so | |
| droht Erschlaffen; / Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, / Mag | |
| lähmender Gewöhnung sich entraffen | |
| Transparenzhinweis: In einer früheren Version dieses Artikels wurde | |
| indirekt der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma im Zusammenhang mit | |
| dem Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma | |
| Europas mit dem Vorwurf der Korruption diffamiert. Es gibt keine Grundlage | |
| für eine solche Unterstellung. Wir bedauern den Fehler und bitten den | |
| Zentralrat und unsere Leser*innen um Entschuldigung. | |
| 8 Apr 2021 | |
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