# taz.de -- Corona-Impfstrategie in Deutschland: Der Krampf um die Sicherheitsn… | |
> Dafür, dass es mit dem Impfen gegen Corona nicht so schnell vorangeht, | |
> gibt es Gründe. Praktische und organisatorische, aber auch emotionale. | |
Bild: Erst fehlte der Impfstoff, jetzt die Impfbereitschaft | |
Weißte noch? Damals, als wir in der Turnhalle im Sportunterricht | |
aufgestellt wurden, und der Klassenclown hüpfte herum und machte sich über | |
unsere blassen Gesichter lustig, bis die Reihe der Pockenimpfung an ihn kam | |
und er ohnmächtig zusammenkippte? Die Tetanusspritze, die man nach dem | |
Fahrradunfall bekam, und danach einen leckeren Bienenstich als Belohnung | |
für die vernünftige Duldsamkeit? Die Mischung aus kleinem Spritzschmerz und | |
dem Empfinden, gesichert zu werden, dieses wunderbare Wort „immun“, fast | |
schon superheldisch, reicht tief in die Kindheit. | |
Impfungen, mit den Worten von Spektrum der Wissenschaften gesprochen, | |
„rüsten den Körper gegen eindringende Krankheitserreger oder unterstützen | |
ihn im aktiven Kampf gegen Keime“. Eine Impfung stellt nicht einen | |
ursprünglichen, „gesunden“ Zustand wieder her oder hilft bei einer | |
Beeinträchtigung, sondern verändert das Abwehrsystem, greift, | |
fundamentalistisch gesagt, in die Natur des Körpers ein. Die strengsten | |
Götter der Fundamentalisten können so etwas ebenso wenig zulassen wie die | |
kosmisch verrauschten Phantasmen der Esoterik. | |
Mit der Impfung liefert man sich einer Macht aus, die weder transzendental | |
noch subjektiv ist. Man muss an die Vernunft und die Moral der Wissenschaft | |
glauben, wenn man sich impfen lässt. Oder zumindest an die Evidenz der | |
Wirkung. Man nennt das nach den Regeln der Semiotik „soziale Einheit“: der | |
kollektive Bezug zu einem Sinnsytem oder zu mehreren Sinnsystemen, aus dem | |
man ein höchst einfaches Phänomen gewinnt: Wirklichkeit. | |
Die soziale Einheit entsteht aus der Dreierbeziehung von Bezeichnung, | |
Vorgang und Interpreten. Hat das Kind im Sandkasten eine Schaufel und kann | |
es „Schaufel“ sagen, wenn es eine Schaufel oder das Bild einer Schaufel | |
sieht, und das Schaufeln als lust- und sinnvolle Tätigkeit ausüben, stellt | |
es auch eine soziale Einheit her. Erweitert man das von einer bloß | |
semiotischen zu einer sozialen Beziehung, dann bedeutet das, drei Dinge | |
müssen einander mehr oder weniger entsprechen: 1. Das, was wir von der | |
Impfung wissen, die Bilder, die Begriffe, Begründungen, Symbole. 2. Das, | |
was wir an Impfung erleben, direkt oder vermittelt durch das soziale und | |
familiäre Umfeld. Und 3. das, was wir von Impfungen halten, was wir | |
erwarten und erhoffen, ein bisschen fürchten. | |
## Die soziale Einheit | |
Wenn diese drei Sphären zusammenwirken, entsteht eine einfache soziale | |
Wirklichkeit: Impfen tut ein bisschen weh und hat manchmal unangenehme | |
Nachwirkungen, ist aber in aller Regel nutzbringend sowohl für den eigenen | |
Körper als auch für die Allgemeinheit. Eine soziale Einheit lässt zwar | |
Korrekturen und Einschränkungen zu: „Es ist wirklich und wahr, aber …“ o… | |
„Es ist wirklich und wahr, wenn …“ Aber sie lässt eine Einheit von | |
Darstellung, Praxis und Haltung nicht mehr in den Status einer bloßen | |
„Meinung“ zurückfallen. Die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe oder | |
Impfungen dienten der Gehirnwäsche, entsprechen daher keiner „Meinung“, | |
sondern einem Bruch mit der allgemeinen Semiotik der Wirklichkeit. Wenn ein | |
solcher Bruch nicht mehr bizarre Ausnahme, sondern gewöhnliche | |
Alltagserfahrung ist, dann ist ebenso Feuer unterm Dach für eine | |
demokratische Gesellschaft, wie wenn umgekehrt Korrektur der semiotischen | |
sozialen Einheit unterdrückt wird. | |
Soziale Einheit entsteht auch durch die simple Gleichung: Was für mich gut | |
ist, das ist auch für die Gemeinschaft gut, und umgekehrt. Und hier beginnt | |
der zweite Ärger, nämlich wo auf das Verständnis die Verteilung folgt. | |
Impfen ist eine Zuweisung und damit Zuwendung durch ein großes | |
Idealsubjekt: eine Mischung aus Staat, Verwaltung und medizinischer | |
Fürsorge, ein „großes Anderes“, das mir persönlich im Kampf gegen das | |
eindringende Virus hilft. Der Staat oder die Gesellschaft verlangen von mir | |
eine kleine Selbstüberwindung und versprechen mir dafür Schutz – und im | |
Nachgang wieder etwas von der Freiheit, die ich lange vermissen musste. | |
Nun aber kommt vieles darauf an, dass diese Geste der fordernden Fürsorge | |
nicht nur vernünftig und richtig, sondern auch gerecht ist. Dummerweise | |
aber haben wir bisher weder genügend Impfstoff noch genügend Kräfte, um | |
eine allgemeine Impfkampagne durchzuführen. Die Gleichung von Ich und Wir | |
geht deshalb nicht mehr ganz auf. Das Impfbild im Fernsehen sagt jetzt | |
nicht mehr „Wir werden geimpft“, sondern „Die werden geimpft (und ich | |
nicht)“. Das, was wir als „Auseinanderfallen“ der Gesellschaft | |
bezeichnen, also das Gefühl von Menschen, nicht gerecht behandelt zu | |
werden, wiederholt sich auf einem sehr spezifischen Gebiet. Zwischen Ich | |
und Wir entsteht die Frage „Wer von uns“ (zuerst) geimpft wird, und damit | |
zerbricht die soziale Einheit und führt zurück zu Konkurrenz, Neid und | |
Misstrauen. | |
## Fehlende menschliche Wärme | |
Und nicht genug damit, dass man in Gruppen der Impfwürdigkeit eingeteilt | |
wird, so spaltet sich auch noch das Angebot: Nach einer medialen | |
Echoverstärkung des Misstrauens haben wir mit AstraZeneca einen Impfstoff, | |
der von vielen als Serum zweiter Klasse betrachtet wird. Akzeptiert man es, | |
verwirkt man seinen Anspruch auf das vielleicht bessere Mittel. Prompt | |
entsteht neben dem Ansturm auf das eine ein Verkommen des anderen Stoffes, | |
einschließlich der Frage, was mit dem nun überzählig gewordenen Impfstoff | |
geschieht, ohne dass dabei die vorher mühsam errichtete Gruppen-Ordnung zu | |
Fall gebracht wird. | |
So impfen wir uns nicht nur soziale Fremdheit ein, sondern vergiften auch | |
die Bilder und Begriffe, die soziale Einheit herstellen sollen. Die | |
Geimpften werden aus dem Status der Gesicherten in den der Privilegierten | |
erhoben. Als hätten wir nicht schon genügend Ärger mit einer real | |
existierenden Klassengesellschaft, werden nun noch temporäre und fluide | |
Klassen gebildet. Die Traumschiffe besser verdienender Geimpfter stechen | |
wieder in See, vielleicht. | |
Statt zur neuen sozialen Einheit zu werden, zerlegt sich so eine | |
Heilungserzählung. Auf den Bruch der „Impfgegner“ folgt also ein zweiter | |
Bruch jener, die den gesellschaftlichen Instanzen und/oder den Mitmenschen | |
schlicht das Vertrauen entziehen. Und plötzlich erkennen wir, was mit den | |
Endlosschleifen der Impfbilder los ist: Es fehlt ihnen menschliche Wärme. | |
Der Impfakt ist auf einen aggressiv-technischen Vorgang reduziert, die | |
„Impfzentren“ erinnern an Orte in dystopischer Science-Fiction, und unter | |
den Masken ist nicht einmal ein aufmunterndes Lächeln zu erkennen. | |
## Vertrauen und Verantwortung | |
In einer besseren Welt wäre die soziale Wirklichkeit des Impfens eine | |
freundschaftliche und solidarische Verbindung mit den anderen und mit der | |
Gemeinschaft. Die gegenwärtigen Bilder dagegen setzen sich aus technischer | |
Abstraktion und körperlicher Schamlosigkeit zusammen. Die Spritze im | |
Fleisch wird zum Minispektakel einer pornografischen Überwindung des | |
Distanzgebots. | |
Der Vorgang des Impfens hat neben der medizinisch-wissenschaftlichen | |
Vernunft einen gesellschaftlich-moralischen Aspekt, den man auf zwei | |
Begriffe zurückführen kann: Vertrauen und Verantwortung. Die Ikonografie | |
der Impfbilder stellt aber die Kälte des Vorgangs dar, die nur das Ziel der | |
Effizienz zu kennen scheint. Entscheidend sind nur Zahlen und Kategorien, | |
die Abwehr von „Impfvordränglern“ oder Korruptionsverdächtigen. | |
Da findest du keinen Klassenclown, der in Ohnmacht fällt, keinen Hinweis | |
darauf, dass hier nicht nur Medizin, sondern auch Gesellschaft geschieht. | |
Das Bild verweigert sich fundamental einer Geschichte. Es stellt den | |
Vorgang „Impfen“ dar, wobei es reale, aber unkenntliche Menschen als | |
Symbolträger benutzt. Noch drastischer müssen dann reale kranke und | |
unkenntlich gemachte Menschen den Vorgang „Sterben an oder mit Corona“ | |
darstellen. Man stellt die Situation sozusagen ohne Menschen, auf jeden | |
Fall ohne Menschlichkeit dar. | |
Sollten unsere famosen Medien vielleicht einen Schuss Sentimentalität für | |
geschundene Coronaseelen oder eine Prise Eierkuchen-Gemeinsinn in ihre | |
Bilderschleifen injizieren? Nicht doch.Es wäre schon damit geholfen, | |
darüber nachzudenken, was da falsch läuft, wenn das, was eigentlich die | |
Aussicht auf ein glückliches Ende der Krise vermitteln sollte, so freud- | |
und trostlos daherkommt. Und darüber, warum unter den Händen von Markt und | |
Bürokratie, aber auch der Bildmaschinen Impfen vom Bild der Rettung zu | |
einem des Kampfes geworden ist. | |
15 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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