| # taz.de -- Journalist über Seepferdchen: Verfressene Räuber | |
| > Männliche Seepferdchen tragen den Nachwuchs aus, ihr Geschlecht ist lange | |
| > unklar. Mit dieser Tarnung können sie sich optimal schützen, sagt der | |
| > Journalist Till Hein. | |
| Bild: Seepferdchen, der eigenwillige Fisch | |
| taz: Herr Hein, Sie haben als Wissenschaftsjournalist ausgerechnet über | |
| Seepferdchen ein Buch geschrieben und das Leben der „Crazy Horses“ | |
| akribisch studiert. Warum gerade dieses Tier? | |
| Till Hein: Seepferdchen wirken erst einmal niedlich. Als ich mit der | |
| Recherche begann, entdeckte ich aber immer mehr Besonderheiten. Das fängt | |
| an bei ihrem einzigartigen Körper, der aufrecht im Wasser schwimmt. Und es | |
| gipfelt in der Schwangerschaft der Männchen, das ist einmalig im Tierreich. | |
| Mit ihrer Bruttasche am Bauch könnten Seepferdchen zur Gattung der Kängurus | |
| gehören, mit ihrem Farbenspiel eher zu den Chamäleons. Sie sind aber | |
| Fische, was macht sie zu Fischen? | |
| Das habe ich mich auch gefragt, denn Seepferdchen haben keine Schuppen, | |
| sondern ein Exoskelett aus Knochenplatten. Sie haben aber kleine Flossen, | |
| mit denen sie schwimmen und navigieren. Sie sind auch sonst sehr „fischig“, | |
| haben eine Schwimmblase und auch Kiemen. Zur Aufzucht der Jungtiere im | |
| Brutbeutel gibt es bei Fischen durchaus Parallelen. Die meisten Arten | |
| laichen zwar ihre Eier ab, aber andere tragen die Jungtiere tatsächlich | |
| aus, zum Beispiel Haie. | |
| Man glaubt es kaum, aber eigentlich ist das Seepferdchen ein Raubtier. Ein | |
| zahnloser, aber verfressener Räuber. | |
| Seepferdchen haben tatsächlich keine Zähne – höchst ungewöhnlich für ein | |
| Raubtier. Sie fressen Zooplankton und vor allem winzig kleine Krebse. Und | |
| diese Kleinkrebse verzehren sie in horrendem Ausmaß. | |
| Warum sind sie so verfressen? | |
| Seepferdchen haben einen Darm, aber keinen Magen. Deshalb kann ihr | |
| Organismus nur leicht verwertbare Nährstoffe aufnehmen. Der größte Teil der | |
| Nahrung bleibt unverdaut und wird – flutsch! – wieder ausgeschieden. | |
| Deshalb muss man ständig das Aquarium putzen, wenn man Seepferdchen hält. | |
| Sie fressen eigentlich den ganzen Tag. Als gut getarnte Lauerjäger klammern | |
| sie sich mit ihrem Schwanz eisern fest, zum Beispiel am Seegras, und | |
| warten, bis Beute vorbeischwimmt. Die saugen sie dann blitzschnell ein. | |
| Seepferdchen fressen zwar wahnsinnig schnell, sie sind aber extrem langsam. | |
| Die Rückenflosse liefert den Vortrieb, sie onduliert mit einer seltsamen | |
| Wellenbewegung. Die Zwergseepferdchen kommen damit auf eine Geschwindigkeit | |
| von 1,5 Meter pro Stunde – damit sind sie die langsamsten Fische der Welt, | |
| und selbst die Weinbergschnecke ist doppelt so schnell. | |
| Mit dieser Geschwindigkeit können sie Feinden kaum entkommen? | |
| Ja, sie haben eigentlich keine Chance. Aber sie sind mit ihrem harten | |
| Skelett eine schwer verdauliche Beute. Sie haben wenig Fleisch auf den | |
| Knochenplatten. Und mit ihrer Supertarnung können sie sich optimal | |
| schützen. Viele Arten wechseln ihre Farbe wie das Chamäleon, vor einem | |
| grauen Felsen haben sie ein graues Outfit. | |
| Das Farbenspiel der Seepferdchen verwirrt selbst die Taxonomen, schreiben | |
| Sie, die immer wieder neue Arten entdeckt haben, die gar keine sind. Wie | |
| viele Spezies gibt es tatsächlich? | |
| Im 19. Jahrhundert, als die Seepferdchenbegeisterung ihren Höhepunkt | |
| erreichte, war von 120 Arten die Rede. Manche wurden aber immer wieder | |
| entdeckt, in immer neuen Farben. Die kanadische Wissenschaftlerin Sara | |
| Lourie hat unlängst die bisher strengste Taxonomie vorgelegt. Sie hat viele | |
| Doppelungen aufgedeckt und kommt auf 44 Seepferdchenarten. Die | |
| Artabgrenzungen sind sehr tricky, da streiten die Wissenschaftler. Einige | |
| Seepferdchen gelten als „Kandidaten“ einer eigenen Art, die genetischen und | |
| die Verhaltensunterschiede müssen aber noch eindeutiger bestimmt werden. | |
| Finden wir Seepferdchen auch in der Nord- und Ostsee? | |
| Die meisten Menschen vermuten Seepferdchen eher in tropischen Gewässern. | |
| Tatsächlich leben die meisten Arten in den Meeresgebieten um Australien. | |
| Aber es gibt im Mittelmeer und auch in der Nord- und Ostsee zwei | |
| Seepferdchenarten: die Kurzschnäuzigen und die Langschnäuzigen. Die einen | |
| haben entsprechend längere, die anderen kürzere Schnauzen, die einen haben | |
| eine lustige Mähne, die anderen einen Stachel über den Augen. | |
| Das Kurioseste und Einmalige der Seepferdchen ist die Schwangerschaft der | |
| Männchen? Was passiert bei der Paarung, wie werden die Männer schwanger? | |
| Zuerst wird getanzt, Seepferdchen tanzen oft, das ist aber noch nicht die | |
| Paarung, eher Beziehungspflege. Seepferdchen leben monogam und treffen sich | |
| jeden Morgen zum Schmusen und Tanzen. Sie umkringeln sich, legen die | |
| Schwänze ineinander und sind ganz eng. Alle paar Wochen wird der Tanz aber | |
| zum Vorspiel der Paarung, das ist dann der Hochzeitstanz, der bis zu neun | |
| Stunden dauern kann. Bei der eigentlichen Paarung ergreift das Weibchen die | |
| Initiative und macht sich ganz gerade mit aufgerolltem Schwanz. Dann | |
| beginnt der Schwanz des Männchens auf und ab zu schnappen und der | |
| Brutbeutel füllt sich mit Wasser. Bald darauf nähern sich beide, eng | |
| aneinander geschmiegt, der Wasseroberfläche. Schließlich stülpt das | |
| Weibchen den penisartigen Ovipositor aus und spritzt seine Eier in den | |
| Brutbeutel des Männchens. | |
| Dann wäre der Brutbeutel die Gebärmutter? | |
| Das ist vergleichbar. Das Männchen befruchtet die eingespritzten Eier und | |
| danach schließt sich der Brutbeutel. Er öffnet sich erst wieder bei der | |
| Geburt, bis dahin ist er Uterus und Plazenta zugleich. | |
| Und die Geburt selbst? | |
| Ob die Seepferdchen dabei richtige Schmerzen haben, das ist ein großes | |
| umstrittenes Thema. Auf jeden Fall ist die Geburt strapaziös, echte | |
| Schwerstarbeit. Für die Weibchen ist die Produktion der Eier genauso | |
| anstrengend, deshalb ist das Austragen des Nachwuchses durch den Papa ein | |
| biologischer Vorteil, eine gute Arbeitsteilung. Manche Arten gebären nur | |
| ein Dutzend Kinder, andere haben bis zu 2.000 Nachkommen, das ist wieder | |
| sehr unterschiedlich. | |
| So unterschiedlich wie die Geschlechterverteilung der Jungtiere, bei denen | |
| offenbar immer ein Geschlecht klar dominiert? | |
| Ein verrücktes Thema, die Wissenschaft weiß darüber noch sehr wenig. | |
| Anfangs sehen alle Seepferdchen wie Weibchen aus, ab dem Alter von sechs | |
| Monaten entwickeln sich dann aber viele zu Männchen. Bei jedem Wurf ist am | |
| Ende ein Geschlecht deutlich in der Überzahl. Es könnte am Eintrag | |
| hormonell wirksamer Substanzen im Meerwasser liegen, vielleicht auch an der | |
| lokalen Wassertemperatur. Die Klimaveränderung könnte mittelfristig zu | |
| einem Überschuss männlicher Seepferdchen führen. Untersuchungen zeigen | |
| jedenfalls, dass warmes Wasser bei vielen Fischarten die Ausprägung | |
| männlicher Geschlechtsmerkmale begünstigt. | |
| Seepferdchen sind Glücksbringer, sie gelten auch als Potenzmittel und | |
| werden deshalb dezimiert. Sind sie in ihrem Bestand bedroht? | |
| Manche Arten sind tatsächlich bedroht, weil ihre Habitate in den | |
| Uferregionen zunehmend zugebaut werden. Und die Schleppnetzfischerei ist | |
| eine große Gefahr. Zudem landen gerade bei der Garnelenfischerei jedes Jahr | |
| Millionen Seepferdchen als Beifang im Netz. Auch die Überdüngung ist | |
| gefährlich und die Klimaveränderung. Um 15 von 44 Arten müssen wir uns | |
| ernsthaft Sorgen machen. | |
| 28 Mar 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Manfred Kriener | |
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