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# taz.de -- An der eigenen Vision arbeiten: Dieses Kribbeln im Bauch
> Michael Obert hat in der taz seinen ersten Text über Seepferdchen
> geschrieben, dann wurde er zum ausgezeichneten Auslandsreporter.
Bild: Michael Obert on the road
taz: Michael, du hast Betriebswirtschaft studiert, warst im gut bezahlten
Management tätig und bist dann ein erfolgreicher Journalist mit
ungewöhnlichen Themen geworden. Was hat dich getrieben?
Michael Obert: Als Jungmanager damals wusste ich nur, was ich nicht wollte:
Krawatten tragen, Büropflanzen aus Plastik und ein Job, der nichts mit mir
zu tun hatte.
Und dann bist du in die Welt gezogen.
Ich war 27, als ich kündigte, um mit dem Rucksack zwei Jahre durch
Südamerika zu ziehen. Mit einem anderen Reisenden tauschte ich ein Buch
gegen zwei Bände des britischen Reiseschriftstellers Patrick Leigh Fermor.
Diese beiden Bücher haben alles verändert. Sie haben mich nicht mehr
losgelassen.
Fermor, der in 30er Jahren von Rotterdam quer durch Europa bis nach
Konstantinopel gewandert ist, wurde dein Vorbild?
Ja, ein wissbegieriger Mensch mit einem großen Aufbruch in seinem Leben.
Seine Bücher habe ich damals nicht eingetauscht, sondern aus Südamerika
nach Hause geschickt. Das hat mich wahrscheinlich ein Wochenbudget
gekostet. Danach habe ich Fermor immer mit mir herumgetragen.
Bis du ihn schließlich in Griechenland ausfindig gemacht hast?
Fast 15 Jahre später, ja. Ich suchte ihn auf dem ganzen Balkan und fand ihn
auf dem Peloponnes. Er öffnete mir die Tür seines Hauses, frisch frisiert
und rasiert – und im Anzug. Patrick Leigh Fermor konnte nicht nur wunderbar
schreiben, er hatte auch Stil. Er war schon fast hundert Jahre alt.
Deine ersten journalistischen Versuche hast du in der
taz-Wirtschaftsredaktion gemacht.
Nach zwei Jahren kam ich aus Südamerika zurück und wollte meinen
Kindheitstraum verwirklichen, Auslandsjournalist werden. Das Dumme war: Bis
dahin hatte ich außer meiner Diplomarbeit in Marketing nie etwas
geschrieben. Ein Praktikum bei der taz – das klang vernünftig, um mal in
den Journalismus reinzuschnuppern. Ich erinnere mich genau: Meine erste
Geschichte, kaum mehr als eine Spalte, schrieb ich über Seepferdchen.
Dann bist du wieder gereist?
Danach war ich gut zwei Jahrzehnte als Journalist unterwegs, vor allem in
Afrika und im Nahen Osten. Reisen war und ist für mich ein Lebenselixier.
Freiheit. Neugier. Lernen. Dieses Kribbeln im Bauch, wenn du nicht weißt,
was hinter der nächsten Straßenkurve oder Flussbiegung auf dich wartet. Das
ist für mich eines der größten Gefühle. Eine wirklich gute Reise
überrascht, verwirrt, irritiert und rückt den inneren Kompass immer wieder
von Neuem zurecht.
Freiheit, Abenteuer, schöne Geschichten?
Die ersten zehn Jahre. Ich habe es geliebt, für ein paar Wochen eine
Schotterpiste in Patagonien hinunterzufahren oder mit Mönchen in Bhutan zu
leben, um darüber eine unterhaltsame Reportage zu schreiben. Als ich etwa
40 war, hat mir das dann aber nicht mehr gereicht. Ich habe mein Leben
immer als eine Forschungsreise betrachtet. Ich wollte tiefer graben, über
ernsthaftere Themen schreiben, die dort draußen wirklich etwas bewegen
konnten. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Ich wollte mehr Sinn in meine
Arbeit bringen.
Danach hast du überwiegend aus Afrika und dem Nahen Osten berichtet. Über
Menschenrechte, Rohstoffe, Migration, auch über sehr harte Themen:
Menschenhandel, Folter, Terrorismus, Krieg.
Nachdem ich die Schönheiten der Welt erkundet hatte, führten mich meine
Reisen in die finstersten Abgründe des Menschseins. Mehr als zehn Jahre
habe ich aus Krisen- und Kriegsgebieten berichtet, mich dort allerdings
weiterhin meist auf die ganz einfachen Menschen konzentriert. Bauern in
Afghanistan oder Somalia, Fischer im Nigerdelta oder Arbeiter, die im
Ostkongo mit bloßen Händen irgendein Erz aus den Minen kratzen, ohne das
unsere Handys nicht funktionieren würden. Ich komme selbst aus einer
Arbeiterfamilie, die Intellektuellen und die Politiker in diesen Ländern
haben mich nur sekundär interessiert als – ich sag’s mal böse –
Lückenfüller, weil man ihre Stimmen für einen handwerklich soliden Text im
investigativen Bereich braucht.
Zur Freiheit gehört auch Unabhängigkeit. Hast du Familie?
Ich lebe in einer glücklichen Partnerschaft und habe keine Kinder. In all
diesen Jahren des Umherziehens bin ich nur wenige tiefe Bindungen
eingegangen. Ich habe zum Beispiel auch keine Tätowierung. Viele meiner
Freunde sind von oben bis unten tätowiert. Ich komme ursprünglich aus dem
kulturellen Underground. Freiburger Szene in den Achtzigern. Punkrock.
Nein, eine Tätowierung schien mir einfach zu endgültig.
Du hast heute zwar noch eine Reporter-Akademie in Berlin, an der du deine
Erfahrung weitergibst. Aber aus dem aktiven Journalismus bist du
ausgestiegen und hast dich als Coach noch mal neu erfunden. Warum der
Wechsel?
Nach mehr als zwanzig Jahren Auslandsjournalismus, den ich begeistert und
leidenschaftlich bis in die Haarspitzen gelebt habe, war das Forschungsfeld
„Welt“ für mich abgegrast. Im Schönen wie im Hässlichen. Auch der
spannendste Job wiederholt sich irgendwann.
Vom Jungmanager zum Auslandsjournalisten, zum Coach. Was befähigt dich
dazu?
Der rote Faden ist ein aufrichtiges und sehr tiefes Interesse für Menschen.
Was macht uns aus, wie ticken wir? Welche Wünsche, Träume, Ziele verfolgen
wir? Antworten auf diese Fragen zu finden hat mich als Journalisten in die
hintersten Winkel unseres Planeten geführt. Und um dieselben Fragen geht es
jetzt auch im Coaching. Im Journalismus ging es darum, etwas
herauszufinden, es aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen in Form von
Text. Im Coaching geht es darum, Menschen dabei zu unterstützen, dass sie
selbst etwas für sich herausfinden, um es dann bestmöglich in ihr Leben zu
bringen.
Du hast dich auf Vision spezialisiert?
Dieses Thema hat mich immer fasziniert. Meine Texte sind voll von
Visionären. Menschen wie der Amerikaner Louis Sarno. In den 1980ern hörte
er im Radio eine Musik, die ihn nicht mehr losließ: Pygmäengesänge. Er
kaufte sich ein Ticket nach Zentralafrika, fand tief in den Regenwäldern
bei Jägern und Sammlern seine Musik – und kehrte nie mehr zurück. Als ich
im Kongobecken zwanzig Jahre später zufällig auf ihn stieß, hatte er mehr
als tausend Stunden dieser magischen Klänge aufgezeichnet, um sie vor dem
Verschwinden zu bewahren Dann war da noch Ásbjörn Thorgilsson, ein
schweigsamer Grauhaariger mit Stoppelbart. Im äußersten Nordwesten Islands,
in der Einsamkeit der zerklüfteten Strandir-Küste, hatte er die Ruine einer
alten Heringsfabrik gekauft. Tagein, tagaus schweißte er in den
labyrinthischen Hallen wie besessen verrostete Maschinenteile,
Trockenrohre, Fischöltanks und Schiffsschrauben zu einem surreal anmutenden
Kunstwerk in der eisigen Stille der Fjorde zusammen.
Andrea Turkalo verbrachte ihr Leben auf einer afrikanischen Waldlichtung.
Als ich die amerikanische Biologin besuchte, arbeitete sie seit Jahren an
einem Wörterbuch der Elefantensprache.
Jeder Mensch ein Visionär?
Absolut! Nur wissen es die wenigsten. An der eigenen Vision zu arbeiten,
sie greifbar zu machen und zu formulieren ist wichtig, weil wir alle
wichtigen Entscheidungen im Leben an ihr ausrichten können.
Was sind das für Menschen, die zu dir ins Coaching kommen?
Das reicht von der Balletttänzerin und dem Opernsänger über
Top-Führungskräfte und Politikerinnen bis zu Spitzensportlern und Personen
des öffentlichen Lebens. Sie alle vereint, dass sie an einer Schnittstelle
in ihrem Leben stehen und sich neu ausrichten wollen.
Und das Reisen – nicht nur wegen Corona – war gestern?
Für mich war das Unterwegssein immer viel toller, als darüber zu schreiben.
Kurz vor Corona war ich noch mal in Afrika unterwegs. Ich hatte so eine
große Sehnsucht, dass ich mir ein One-Way-Ticket nach Dakar kaufte.
Wochenlang ließ ich mich durch Senegal, Gambia und Guinea-Bissau treiben.
Ziellosigkeit. Leichtigkeit. Sich selbst und das Leben spüren.Ich bin jetzt
mit dem Reisen wieder da, wo vor fast dreißig Jahren alles für mich
begonnen hat.
25 Oct 2020
## AUTOREN
Edith Kresta
## TAGS
Reisen
Reporter
Autor
Forschung
Schwerpunkt Flucht
Nigeria
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