# taz.de -- Reporter über Auslandsjournalismus: „Manchmal muss man was riski… | |
> Der Journalist Michael Obert reist auf eigene Kosten in Krisenregionen. | |
> Ein Gespräch über Risiken, Authentizität und Auslandsredaktionen. | |
Bild: Recherchen in Nigeria können gefährlich werden: Szene nach einer Autobo… | |
taz: Herr Obert, Sie sind gelernter Betriebswirt. Wie kam es dazu, dass Sie | |
heute preisgekrönte Reportagen schreiben? | |
Michael Obert: Mein erstes Leben endete 1993 mit einer traumatischen | |
Erfahrung. Ich war 27 Jahre alt, arbeitete als Jungmanager für ein | |
internationales Logistikunternehmen, verdiente 10.000 Mark im Monat und | |
lebte luxuriös in Paris. Eines Morgens wachte ich auf und wusste nicht | |
mehr, wer ich war. Ich fragte mich: Was hat dein Leben mit dir zu tun? Die | |
Antwort: nichts. Es war verstörend. Ich kündigte und brach zu einer | |
zweijährigen Reise durch Lateinamerika auf, entdeckte meine Leidenschaft | |
für das Schreiben. | |
Ein guter Journalist ist man deswegen noch lange nicht. Wie haben Sie den | |
Einstieg geschafft? | |
Während der Reise schrieb ich Tagebuch. Als ich nach zwei Jahren zurückkam, | |
erwartete mich ein Stapel Notizbücher, die ich von unterwegs nach Hause | |
geschickt hatte. Ich fing an, aus meinen Beobachtungen Geschichten zu | |
extrahieren, und schickte sie unverlangt an Tageszeitungen in ganz | |
Deutschland. | |
Bekamen Sie eine Antwort? | |
Von den meisten hörte ich nie etwas. Andere kamen zurück mit Kommentaren | |
wie „Schulaufsätze drucken wir nicht!“ Also holte ich mir einen Stapel Geo | |
und Stern, um mir anzusehen, wie Reportagen aufgebaut sind. Bald darauf | |
lief meine erste große Geschichte in der Zeit. Dafür reiste ich 1996 über | |
Land nach Westafrika und fuhr auf den Eisenerzhügeln mit den Einheimischen | |
mit. Im Radio hatte ich von einem Zug gehört, der in Mauretanien 500 | |
Kilometer quer durch die Westsahara fuhr, um Eisenerz an die Küste zu | |
transportieren. | |
Wie haben Sie das finanziert? | |
Ich lieh mir von Freunden ein bisschen Geld und trampte nach Mauretanien. | |
Alles super low budget. Das ist bis heute meine Reise- und | |
Recherchephilosophie: Ich will dicht an den Menschen sein, auf Augenhöhe, | |
zuhören, was sie zu sagen haben, mit ihnen leben, Erfahrungen teilen. Meine | |
Protagonisten sind keine Quellen, keine Informanten – ich fühle mich ihnen | |
nahe, sie bedeuten mir etwas. | |
Trotzdem leben Sie von den Geschichten, die Sie über die Menschen | |
schreiben. Ist Ihre Argumentation nicht ein bisschen arg romantisch? | |
Dass ich die Menschen, denen ich unterwegs begegne, als Menschen sehe und | |
mich entsprechend verhalte, hat nichts mit Romantik zu tun. Es ist Ausdruck | |
der Verantwortung, die ich trage und der ich – auch in meinen Texten – | |
gerecht zu werden versuche. | |
Anders als die meisten Journalisten sind Sie ohne konkreten Auftrag einer | |
Redaktion losgefahren. Warum? | |
Mich hätte damals niemand losgeschickt. Aber ich wollte reisen, die Welt | |
erkunden. Und darüber schreiben. Die Geschichten einer Reise ergeben den | |
Anstoß zur nächsten. Von Marokko kam ich in den Senegal, vom Senegal auf | |
den Kongo, vom Kongo nach Uganda und von dort nach Mogadischu – und in der | |
kriegszerstörten Hauptstadt von Somalia hörte ich von den Folterungen | |
afrikanischer Flüchtlinge im Sinai. | |
„Im Reich des Todes“, Ihre Reportage über diese Flüchtlinge, erschien 2013 | |
im Magazin der Süddeutschen Zeitung und wurde für den Henri-Nannen-Preis | |
nominiert und mit dem Otto-Brenner-Preis ausgezeichnet. | |
Ich war in Somalia, um für das SZ-Magazin ein Porträt über den | |
„Bürgermeister der Hölle“ zu schreiben, einen ehemaligen | |
Internetcafé-Besitzer, der die gefährlichste Hauptstadt der Welt retten | |
wollte. In den Kriegsruinen dort erzählte mir eine Frau, dass ihre Tochter | |
im Sinai in Foltercamps von Beduinen festgehalten wurde, die Lösegeld | |
erpressten. Wenige Wochen später reiste ich in den Sinai. Auf eigene Kosten | |
und eigenes Risiko. | |
Ein fragwürdiges Konzept. Sollten nicht die Verlage für solche Recherchen | |
aufkommen? | |
Ich kann einer Redaktion keine Geschichte aus den gesetzlosen | |
Stammesgebieten des Nordsinai anbieten, ohne vorher sichergestellt zu | |
haben, dass ich diese Story auch wirklich in einer hohen Qualität liefern | |
kann. Manchmal muss man für große Geschichten einfach etwas riskieren. Die | |
Situation ist doch die: Die Budgets der Redaktionen für die | |
Auslandsberichterstattung werden immer kleiner, deshalb sind immer weniger | |
Kollegen wirklich an der Basis unterwegs. Der Zugang zu authentischen | |
Geschichten wird immer schwieriger. Das führt zu einer Menge | |
Agenturmeldungen und Wiedergekäutem, zu einem verengten Blick auf die Welt. | |
Was meinen Sie damit? | |
Auslandsressorts sehen sich aus wirtschaftlichen Gründen zunehmend | |
gezwungen, eine Art medialen Kannibalismus zu betreiben, also schon im | |
Stadium der Themenfindung auf Geschichten aus zweiter, dritter, vierter | |
Hand zurückzugreifen. Mit jedem neuen Aufguss verflacht das Thema weiter, | |
und die Distanz zu den Verhältnissen vor Ort wächst. Eine Bombe, ein | |
Anschlag, Krieg, Menschen sterben, eine neue Epidemie – klar, das gibt es | |
alles. Doch die Art und Weise, wie zum Beispiel oft über Afrika berichtet | |
wird, hat eine starke Schieflage. Momente, die scheinbar nicht ins Bild | |
passen, nicht in die Erwartungen, sind für mich elementar. Denn da bewahren | |
sich Menschen oft ihre Würde. Wenn wir ihnen diese Würde absprechen, indem | |
wir sie als Erfüllungsgehilfen unserer Texte und Fotos missbrauchen, machen | |
wir sie erneut zu Opfern. | |
Qualitätsjournalismus entsteht also durch freie Journalisten, die ihre | |
Reisen selbst bezahlen? | |
Das Schreiben und Reisen ist für mich mehr als eine Arbeit, es ist meine | |
Art zu leben. Ich will Geschichten erzählen, gut recherchierte, Geschichten | |
aus den Teilen der Welt, in denen ich seit fast 20 Jahren unterwegs und | |
bestens vernetzt bin. Ich glaube, dass wir solche Geschichten brauchen und | |
dass sie Prozesse anstoßen und die Dinge vor Ort verändern können. Die | |
Medienbranche ist in rasanter Umwälzung begriffen. Das führt zu einer Menge | |
Schwarzmalerei, aber ich stelle fest: Die Nachfrage nach hochwertigen | |
Auslandsgeschichten ist enorm. Um solche Reportagen weiterhin zu | |
ermöglichen, müssen alle Beteiligten kaufmännisch kreativer werden. Auch | |
die freien Journalisten. Ich begreife die Redaktionen als Partner, mit | |
denen ich gemeinsam nach Wegen suche, wie sich aufwendige Projekte umsetzen | |
lassen. | |
Zum Beispiel? | |
Kooperationen mit internationalen Medien. Die Sinai-Geschichte aus dem | |
SZ-Magazin lief auch im Magazin des Schweizer Tages-Anzeigers, im Sunday | |
Times Magazine, in Norwegen und weiteren Ländern. Und warum nicht auch eine | |
Zusammenarbeit deutscher Medien, um wertvolle Auslandsreportagen gemeinsam | |
zu stemmen? Die Exklusivität einer Geschichte sollte nicht wichtiger sein | |
als die Geschichte selbst. | |
Im Juli erschien in Geo Ihre Reportage über Boko Haram – kurz nachdem die | |
islamistische Terrorsekte in Nordnigeria 270 Mädchen entführt hatte. Wie | |
war das möglich? | |
Als die Mädchen entführt wurden, lag die Geschichte schon fix und fertig in | |
der Redaktion. Ich hatte zwei Jahre lang recherchiert. Die ganze Welt | |
sprach plötzlich über Boko Haram, ich wollte mit Boko Haram sprechen. | |
Gemeinsam mit dem Fotografen Andy Spyra waren wir meines Wissens die ersten | |
westlichen Journalisten, die Kämpfer der Terrorgruppe trafen. Im Gespräch | |
mit einem der Kämpfer wurde sehr schnell klar: In Nigeria tobt nicht, wie | |
oft von westlichen Medien behauptet, ein Krieg der Religionen. Die Wurzeln | |
des Konflikts liegen vielmehr in der ungerechten Verteilung der | |
Erdöleinnahmen Nigerias – Milliarden, von denen auch unsere multinationalen | |
Konzerne gehörig profitieren. | |
Gibt es Themen, die Ihnen zu gefährlich sind? | |
In heiklen Gebieten gehe ich meine Recherchen gut vorbereitet und mit guten | |
lokalen Kontakten an. Nach vielen Jahren Erfahrung in Afrika würde ich auf | |
dem Kontinent fast jedes Thema machen. Doch ich kenne meine Grenzen. Nach | |
Syrien zum Beispiel würde ich nie fahren. Da kenne ich mich einfach nicht | |
gut genug aus. | |
Was halten Sie von dem Grundsatz, ein Journalist solle sich nicht mit einer | |
Sache gemeinmachen, auch nicht mit einer guten? | |
Überhaupt nichts! Ich bin immer zuerst Mensch und dann Journalist. Und ich | |
glaube an die Kraft von Geschichten, die mit Emotion und Erlebtem erzählt | |
werden. Ich kann nicht über etwas schreiben, das mich nicht berührt. | |
21 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Marlene Halser | |
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