# taz.de -- Warum Berliner Seen so toll sind: Auf, ihr Seepferdchen! | |
> Neid! Berliner können in so viele Seen hüpfen. Wer hier aufwächst, lernt | |
> schon früh, die Nixen zu kitzeln und mit den Fröschen zu tuscheln. Eine | |
> Liebeserklärung. | |
Bild: Ob da im Wannsee wohl ein Seeungeheuer wartet, gestreichelt zu werden? | |
Es gibt Menschen, die sind im Allgäu aufgewachsen und lernten klettern oder | |
jagten Gämsen, bevor sie richtig laufen konnten. Andere sind im Speckgürtel | |
von Städten groß geworden, die den Namen Stadt nicht verdienen, und jobbten | |
mit dreizehn, um sich ein Rennrad zu verdienen oder das Moped zu frisieren | |
und möglichst bald das Weite suchen zu können. Und es gibt die Berliner. | |
Berliner, die mit zwei Schwimmen lernten, die mit vier den Freischwimmer | |
und mit sechs den Rettungsschwimmer machten. Spätestens. | |
Landeier sind oft neidisch auf Berliner, denn Berliner mögen mit weniger | |
Natur um sich herum aufgewachsen sein, aber eins hatten sie sicher mehr als | |
alle anderen: Sie hatten die Seen. Massenhaft Seen, die manchmal brackig | |
sein mögen oder überfüllt, die aber von Mai bis Oktober genau die richtige | |
Temperatur haben, immer um die Ecke und gut erreichbar sind, sogar mit den | |
Öffentlichen, an die man auch ohne Eintritt herankommt – zumindest wenn man | |
keinen gesteigerten Wert legt auf Annehmlichkeiten wie Imbissbude oder Klo. | |
Während meiner Kindheit war es durchaus nicht üblich, im Sommer in die | |
Ferien zu fahren. Um mich herum lebten vor allem Bauern und Hippies. | |
Erstere mussten täglich Kühe melken und Schweine füttern, Letztere Häuser | |
sanieren. Also blieben wir ebenfalls daheim, genauso wie alle anderen. | |
Daheim heißt in diesem Fall: in einer Gegend ohne Seen. | |
## Eine Kindheit voller Durst | |
Die Sommer waren länger als heute, sie waren auch heißer. Wir vergruben | |
unsere Fingernägel im Asphalt, der weich gekocht war wie warmes Wachs. Wir | |
fuhren Rollschuh, schliefen im verlassenen Backhaus, aßen Steckrüben und | |
Mais, liefen mit dem Walkman über die Felder, weiter und weiter, bis wir | |
nicht mehr wussten, wo wir sind. Wenn ich an meine Kindheit denke, fühle | |
ich auch Glück. Vor allem aber fühle ich Durst. Denn wir hatten unbändiges | |
Verlangen nach Wasser. Immer. | |
Dieses Wasser wurde erst später erreichbar, als der Radius größer wurde. | |
Aber was war das für ein Wasser: Wir fuhren 20 Kilometer mit dem Rad ins | |
Freibad – eine Pfütze, in der das billige Sonnenöl in Schlieren auf dem | |
Chlorwasser schwamm. Wir fuhren mit dem Bus 20 Stunden nach Griechenland, | |
der CVJM hatte es möglich gemacht, ein Zeltplatz, um dort täglich zu beten | |
und Eintopf zu essen. Der Kieselstrand war fünf Kilometer entfernt. | |
Seit ich Kinder habe, bin ich sechs Monate im Jahr neidisch, weil sie in | |
Berlin Kind sein dürfen. Meine Tochter machte mit fünf den | |
Rettungsschwimmer, so ungefähr jedenfalls. Sooft wir können und je nach | |
Zeitfenster fahren wir an den Weißensee, den Kiessee, den Wandlitzsee oder | |
den Parsteiner See. Manchmal verschlägt es uns auch an den Flughafensee, | |
die Havel, den Wannsee. | |
## Seeungeheuer streicheln | |
Immer wieder heißt es, Stadtkinder hätten es nicht so gut wie Landkinder. | |
Sie könnten sich nicht so frei bewegen, wären immer unter Aufsicht, müssten | |
nicht genug Verantwortung übernehmen für ihr Tun. Das mag für Kinder in | |
London oder in Peking gelten. Für Kinder in Berlin gilt das nicht. Sie | |
werden niemals Steckrüben essen und Mopeds frisieren, aber das brauchen sie | |
ja auch nicht. | |
Denn sie schwimmen so weit raus, bis sie außer Sichtweite sind, bevor sie | |
das Wort See überhaupt buchstabieren können. | |
Sie streicheln den ganzen Sommer über die Seeungeheuer, kitzeln die Nixen | |
und tuscheln mit den Fröschen. Sie finden versunkene Städte, verstecken | |
ihre Schätze auf Pirateninseln und bauen Flöße für die Schiffbrüchigen. Und | |
bald werden sie abends die Fische braten, die sie gefangen haben, und sie | |
mitsamt den Gräten verputzen. Ich bin wirklich unheimlich neidisch. | |
■ Dieser Text ist Teil des Schwerpunkts in der Wochenendausgabe der | |
taz.berlin vom 2./ 3. Juli 2016 über Seen und Strandbäder in Berlin | |
2 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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