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# taz.de -- Kajaktour auf offenem Meer: Weiße Strudel, wilder Sog
> Die Ostküste der Halbinsel Avalon von Neufundland ist rau, bizarr und
> eigen. Ein Abenteur für Kajakfahrer, ein Erlebnis für Ornithologen.
Bild: Mit Tordalken und Trottellummen auf du und du
Caplin’s comin’!“ – der Sommer ist da in Neufundland. Wenn die
Riesenschwärme der fingerlangen Lodden in die Buchten ziehen, um zu
laichen, herrscht an den verlassenen Küsten plötzlich Hochbetrieb. Tölpel
schießen wie weiße Torpedos senkrecht ins Meer, Menschen hantieren im
seichten Wasser mit Eimern und Keschern, Schiffe liegen im Kreis und legen
ihr Netz aus, und auch die Wale haben Gourmettage. Prustend und blasend
wiegen sie die schwarzglänzenden Rücken aus dem Wasser, pflügen die Wellen
vor Trinity und St. Vincent’s gründlich durch und schlemmen und stopfen
sich die Mägen mit den silbernen Leckerbissen voll, zu ihrem großen
Vergnügen, wie man ihrem Prusten ganz unwissenschaftlich zu entnehmen
glaubt – und dem der Touristen auch, die schon seit Tagen erwartungsvoll
auf die See hinausgeblickt haben.
Die Ostküste der Halbinsel Avalon von [1][Neufundland] reicht von Topsail
im Norden bis Trepassey im Süden. Sie ist die Abbruchkante, an der Atlantik
und Amerikas östlichster Vorposten sich treffen, so rau, so bizarr und so
eigen, wie die Menschen, die sich an ihr festgesetzt haben. Entlang dieser
Küste reihen sich steinerne Zinnen und Wände und riesige Felsplateaus und
Felsnadeln, auf denen Weißkopfseeadler nisten. Tiefe Schluchten kerben das
Ufer, Inseln erinnern an die Schädel versteinerter Riesenkrokodile, aus
einer Zeit, als die Welt noch deren war.
Und gleich davor erstreckt sich der „Friedhof der Meere“. 232 große und
unzählige kleinere Schiffe sind an den schwarzen Klippen zerschellt und
liegen in der Tiefe, Schiffe wie die „City of Philadelphia“ etwa, die am 7.
September 1854 mit 300 Frauen, Männern und Kindern an Bord unterging. Oder
auch die „Titanic“, die am 14. April 1912 ihren berühmten Eisberg rammte,
409 Seemeilen weiter draußen: Der Leuchtturm von Cape Race im Süden hatte
die ersten SOS-Signale empfangen.
Jetzt, im Juli, ist hier die beste Zeit für eine Kajaktour. Jim Price,
einer der Pioniere dieses Sports an der Ostküste, hat seine spindelförmigen
schnittigen Boote per Trailer nach Bauline East gebracht. Sieben Gäste
wollen heute mit hinaus, vier Führer werden sie begleiten. Der Chef, ein
wettergegerbter Fünfziger mit offenem Gesicht, ist ein überaus gründlicher
Mann. Scheint bei manchen Outfittern, wie die Veranstalter genannt werden,
die anfängliche Einweisung lediglich eine Formsache zu sein, hält er sich
fast pingelig damit auf: Wie man paddelt, wie das Ruder am Heck mittels der
beiden Fußleisten bewegt wird, wie der Spritzschutz, eine Art Gummischürze,
um die rundumlaufende überstehende Leiste des Sitzlochs gezogen wird, und
zwar so, dass die Lasche freibleibt, mit der er im Notfall mit einem Griff
abgezogen werden soll – „ist die letzten Jahre zwar nie passiert …“
## Leichter Wellengang
So sorgfältig geht Jim vor, dass es beinahe langweilt, zumindest wenn man
schon einmal in einem solchen Boot gesessen hat. „Und deine Rettungsweste
tauschen wir auch. Die sitzt ein bisschen locker.“ Na gut, wenn’s der
baldigen Ausfahrt dient. Endlich gleiten die Boote aufs Wasser. Auch die
Anfänger haben die Grundfertigkeiten bald kapiert: Das leichte Drehen des
Paddels links und rechts, die Kraft, die aus dem Rumpf kommen muss, nicht
aus den Armen. Und immer dazwischen und darum herum die Führer in ihren
Booten, die mit dem Wasser verwachsen zu sein scheinen und die Gruppe
umkreisen wie eifrige Hunde ihre Schafe.
Leichter Wellengang herrscht heute nur, [2][Eisberge], die im Sommer häufig
an der Ostküste vorbeiziehen, zerknitterten Papierschiffchen oder
bläulichen Kathedralen gleich, gibt es in diesem Jahr nicht. Die Küste
bleibt zurück: eine schwarze, schrundige, vielfach gekerbte Wand, verziert
mit Felsköpfen und Buchten, in denen ein paar weiße Häuser und eine
verlassene Fischfabrik Dorf spielen.
Es tröpfelt, dann beginnt es zu regnen, schließlich schüttet der Himmel die
Kajakfahrer zu. Wasser prasselt herunter, platscht zurück von der See,
Wasser von oben, von unten, von überall und dazwischen die Luft erfüllt von
feinen Nebeltropfen. Aber der Spritzschutz hält dicht, die Regenjacke leckt
nicht, die See bleibt ruhig – die Demonstration neufundländischen Wetters
erweist sich als ein großer, nasser Spaß.
In der Luft nimmt ein Krächzen, Klagen und Zetern zu, ein Konzert, das seit
Tausenden von Jahren nicht unterbrochen wurde: Die Seevogelkolonien von
Witless Bay kommen näher. Millionen weißer, grauer und schwarzer Vögel
stehen auf kaum sichtbaren Felsbändern, trippeln über Grasvorsprünge und
starten von Klippen, auf denen überhaupt kein Platz mehr für sie zu sein
scheint. Andere treiben wie Schatten auf der Meeresoberfläche. Als die
Boote herangleiten, schrecken die Vögel auf, breiten die Flügel und
brettern wassertretend los – aber sie kommen nicht hoch, sondern sinken
zurück wie überladene Maschinen. „Tölpel, voll bis zur Halskrause mit
Caplin“, lacht Jim Price, der seine Gruppe scharf im Auge behält.
## Was Ornithologen schwärmen läßt
Die Luft stinkt nach Vogeldung und ist erfüllt von Vogellärm. Vogelfedern
und Eierschalen treiben auf dem Wasser, und immer mal wieder klatscht dicht
neben dem Boot ein Vogelgruß von oben ins Wasser. Manchmal auch darauf.
Papageientaucher mit dem missbilligenden Gesichtsausdruck englischer
Gouvernanten flattern vorbei, als hätte jemand gerade ihr Uhrwerk frisch
aufgezogen. Sie sind so etwas wie stolze Hauptstadtbewohner: Dies ist
schließlich ihre größte Niederlassung in Nordamerika. Lummen stehen in Reih
und Glied wie eine Chor kleiner Nonnen, die aufs Abendessen warten.
Möwen und Seeschwalben in unterschiedlichen Formen und Größen schießen am
ohnehin schon dicht bevölkerten Himmel hin und her, so sicher, dass jeder
Flugüberwacher vor Neid erblassen würde. Während ihre Namen jeden
Ornithologen ins Schwärmen bringen: Tordalke, Wellenläufer, Trottellummen,
Dreizehenmöwen, Eissturmvögel, Silbermöwen und Mantelmöwen.
Es wird Zeit für das Mittagessen. Wir verlassen die Vogelfelsen und steuern
ein anderes, unbewohntes Inselchen an. Handgelenke und Schultern sind jetzt
doch ein wenig angespannt von der ungewohnten Anstrengung, eine Pause wird
guttun. Fantastisch zu sehen, was Jim und seine jungen Männer aus ihren
Trockensäcken zaubern und in Minutenschnelle auf den Felsen anrichten: Ein
Teller mit Sellerie-, Gurken- und Brokkolistücken nebst Kräuterkäse zum
Dippen geht herum. Zur hausgemachten heißen Hühnersuppe vom Benzinkocher
gibt es Brötchen. Dann schneidet Jim frische Ananas und Birnen auf.
Das Wasser simmert, Tee, Kaffee oder Kakao, ganz nach Wunsch, dazu
verschiedenartiges Gebäck – keine Rede von Margarinebroten oder Tütenreis.
„Das Wetter können wir nicht kontrollieren“, grinst Jim. „Und auch eine
ruhige See können wir nicht vorbestellen. Aber ordentliches Essen können
wir allen unseren Gästen garantieren.“ Dazu ein kleines Feuer aus
Treibholz, an dem ein paar nassgespritzte Pulloverärmel trocknen – das
Leben auf See an Land hat durchaus seine Reize.
## Unter Fischschwärmen
Aber dann heißt es wieder hinaus. Die See ist rauer geworden, über ein
kurzes, ausgesetztes Stück hinweg schneiden die [3][Kajaks] jetzt in
richtige Wellen. Gischt spritzt, Paddeln wird zur Arbeit. Wale haben wir
heute noch keine zu sehen bekommen. Alle Kajaker blicken angestrengt ins
weite Rund, aber je angestrengter man starrt, desto stärker narrt die See
das Auge: Hunderte von Rücken scheinen plötzlich auf- und abzutauchen. Doch
es sind nur Trugbilder – schade.
Denn es ist ein unvergessliches Erlebnis, wenn die vielfach gekerbten und
genarbten riesigen Rücken plötzlich zehn, zwölf Meter vom Boot entfernt aus
dem Wasser tauchen, und die Luft urplötzlich erfüllt ist von ihrem
unangenehmen Gestank – ganz egal, ob es die kleineren, nur fünf, sechs
Meter langen Minkwale sind oder einer der überwältigenden Buckelwale, der
seine gewaltigen Fleischmassen auf eine Länge von achtzehn, zwanzig Metern
verteilt. Einige der Gäste haben es schon erlebt, und auch die Führer, die
im Sommer fast täglich auf sie stoßen, schwärmen mit großer Begeisterung
von den Begegnungen.
Uns bleiben die Felsen. Jim steuert in den Windschatten einer Inselgruppe,
und schon gleiten die Boote wieder ruhig dahin. Gleiten unter mächtigen
Felsüberhängen durch, schieben sich in Höhlen, von deren Decken Wasser
tropft, steuern vorsichtig durch steinerne Labyrinthe, und immer mal wieder
schaben sie hässlich kratzend über mit Seepocken bewachsene Felsen. Die
Dünung gluckst und schmatzt im Tang – und da sind sie plötzlich: die
Lodden. Ein zwei Meter breites, scheinbar endloses schwarzes Band bewegt
sich durchs Wasser, Millionen und Abermillionen kleiner Fische, zielsicher
Boote und Steine umsteuernd, wie gelenkt von einem einzigen großen Gehirn.
Sie ziehen am Ufer entlang, auf der Suche nach einer der kiesigen Buchten,
in denen das Wasser die erforderlichen 12 Grad Celsius hat, die sie
brauchen. Im Flachwasser laichen sie, verenden und wirbeln tot hin und her.
Uns scheinen es unendlich viele zu sein, aber auch ihre Bestände schrumpfen
rapide. Kein Vergleich zu den Zeiten vor vierzig, fünfzig Jahren, als ihre
Kadaver handhoch die Steine bedeckten, und die Fischersfrauen sie mit
Schubkarren in die Gärten fuhren, als Dünger für die Rüben. Heute gilt ihr
Rogen in Japan als Delikatesse – gefangen aber werden unterschiedslos
männliche wie weibliche Fische. Was nicht gebraucht wird, wandert in den
Abfall. Neufundland ist munter dabei, nach dem Verschwinden des Kabeljau
seine nächste Fischereikatastrophe zu programmieren.
## Kopfüber in der See
Eine schmales Felstor nach draußen kommt in Sicht. O ja, man kann hindurch.
Es heißt einfach, die nächste größere Welle abzuwarten, sich von ihr durch
die Engstelle treiben zu lassen, mit den Paddeln den nötigen Abstand von
den Steinwänden links und rechts zu halten – und schon gleitet das Boot
wieder hinaus aufs offene Meer. Dort aber ist es inzwischen recht kabbelig
geworden.
Die Wellen treiben Schaumkronen, schwellen zu Hügeln an und werfen Täler
auf. Großartige Bilder – auch für die Kamera. Jim, der schon dabei ist,
seine Gruppe in den sicheren Schutz der Inseln zurückzuschicken, runzelt
besorgt die Stirn, bleibt dann aber bei dem Journalisten. Eine Reihe sicher
grandioser Fotos, die Kamera zurückgesteckt in den Trockenbeutel, das Kajak
schwappt, da kommt doch – und urplötzlich bricht aus dem Himmel eine
grün-gläserne Lawine herunter und begräbt das kleine Plastikding unter
sich. Weiße Strudel, wilder Sog und das Aufblitzen eines Gedankens: Jetzt
ist es passiert! Ringsum – ringsum! – brodelndes Wasser, kopfüber im Kajak
in der See, bloß keine Luft holen jetzt!
Und einen Sekundenbruchteil später die glasklare Erinnerung an Jims
Instruktionen: „Wenn etwas passiert: Zieht den Spritzschutz ab, schnellt
euch heraus.“ Aufgeregtes Tasten am Rand der Gummischürze entlang: Da ist
die Lasche, vorschriftsmäßig frei, zum Ziehen geradezu geschaffen. Ein
Ruck, und großes Erstaunen: Nichts hakt, nichts klemmt, das Ding ist auf
Anhieb weg. Ein Sichherauswinden aus dem Sitz, und schon schießt der
Körper dank der Rettungsweste wie ein Kork an die Oberfläche.
Ein gekipptes Kajak, zwei Trockensäcke, eine Mütze und daneben treibt ein
Paddel – eigenartig klar registriert das Gehirn das gesamte Bild. Schon ist
Jim da, sein Kajak dient zum Festhalten, während er mit einem seiner Jungs
das gekippte Boot dreht, das erstaunlich wenig Wasser genommen hat. „Beine
voraus und wieder rein!“, brüllt er, und „Halt das Paddel fest“, während
seine Kollegen die treibenden Säcke aufsammeln. Und als der unfreiwillige
Taucher wieder sitzt, bringen beide sogar so etwas wie ein Lachen zustande.
„Jetzt aber nichts wie rein!“
Und während der nasse Journalist in Richtung Ufer paddelt, Jim Price immer
dicht neben sich, bewegt ihn in seinem aufgewühlten Herzen und seinem
nassen Kopf nur ein Gedanke und ein Gefühl: Respekt. Tief verankerter,
gerade frisch erneuerter Respekt vor der See. Und eben erst gewonnener vor
den Männern, die ihre Gefahren ganz genau kennen und mit so viel Umsicht
und Gelassenheit damit umzugehen vermögen.
13 Mar 2021
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## AUTOREN
Franz Lerchenmüller
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Schwerpunkt Klimawandel
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