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# taz.de -- Straßburger Gerichtshof zu Whistleblower: Erst Akten lesen, dann a…
> Wann darf der Arbeitnehmer zum Whistleblower werden? Die Straßburger
> Richter haben dies im Fall eines deutschen Arztes klargestellt.
Bild: Whistleblower: Kein Erfolg am Europäischen Gerichtshof für Menschenrech…
Straßburg taz | Wer als Whistleblower den guten Ruf seines Arbeitgebers
beschädigt, muss vor dem Gang an die Öffentlichkeit genau prüfen, ob seine
Schlussfolgerungen korrekt sind. Das entschied der [1][Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)] im Fall eines deutschen Arztes, der
nach Meinung der Richter von einer Klinik in Liechtenstein zurecht
gekündigt worden war.
Lothar Gawlik war stellvertrender Chefarzt im Liechtensteinischen
Landesspital, einer kleinen Klinik mit 34 Betten. Im September 2014 fiel
ihm nach dem Hinweis einer Krankenschwester auf, dass binnen weniger Tage
vier Patienten überraschend schnell gestorben waren. Alle vier hatten hohe
Morphindosen erhalten und alle vier waren von Gawliks Vorgesetzten, dem
Chefartz H., behandelt worden.
Gawlik prüfte die elektronischen Krankenakten und kam zu dem Verdacht, dass
Chefarzt H. die Kranken absichtlich vorzeitig sterben ließ, um ihr Leiden
zu beenden – eine Form von verbotener aktiver Sterbehilfe. Gawlik zeigte
seinen Verdacht bei der Staatsanwaltschaft an. Er wollte weitere Todesfälle
verhindern.
Doch es dauerte nicht lange, bis die Klinik erfuhr, wer hinter den
Ermittlungen steckte. Gawlik wurde fristlos entlassen, weil er nicht zuerst
eine interne Klärung versuchte. Da es nur eine einzige Klinik in
Liechtenstein gibt, musste Gawlik sogar den Kleinstaat verlassen.
## Die Vorwürfe waren wohl falsch
Der deutsche Arzt klagte vor liechtensteinischen Gerichten auf
Wiedereinstellung und Schadensersatz. Doch er hatte fast durchgehend keinen
Erfolg, bis hin zum Staatsgerichtshof in der Hauptstadt Vaduz. Die Gerichte
gingen davon aus, dass Gawliks Anschuldigungen falsch waren. Interne und
externe Gutachter fanden das Vorgehen des Chefarztes gerechtfertigt, es
seien notwendige Palliativbehandlungen gewesen. Gawlik hält seinen Verdacht
immer noch für gerechtfertigt und vor allem seine Kündigung für umzulässig.
Deshalb wandte er sich mit letzter Hoffnung an den EGMR in Straßburg.
Doch auch beim Straßburger Gerichtshof hatte der Arzt keinen Erfolg. Eine
mit sieben RichterInnen besetzte Kammer entschied einstimmig, dass die
Kündigung verhältnismäßig war, weil Gawlik nur die elektronischen
Patientenakten studiert hatte, bevor er Strafanzeige stellte. Er hätte aber
auch die ausführlicheren schriftlichen Akten prüfen müssen, dann wäre ihm
sofort aufgefallen, dass er mit seinem Verdacht falsch lag.
Der EGMR prüft bei der Abwägung in [2][Whistleblower-Fällen] in der Regel
sechs Kriterien: Hat der Whistleblower lautere Interessen? Liegt die
Information im öffentlichen Interesse? Ist sie wahr? Wie hoch ist der
Schaden für den Arbeitgeber? Welche Sanktion wurde dem Whistleblower
auferlegt? Und hätte es eine andere Möglichkeit gegeben, den mutmaßlichen
Mißstand abzustellen?
Arzt hat neue Anstellung gefunden
Im Fall von Gawlik ging es vor allem um die Wahrheit der Informationen. Die
EGMR-Richter betonten, dass es nicht automatisch zu lasten eines
Whistleblowers gehe, wenn sich sein Verdacht im Laufe weiterer
Untersuchungen als falsch entpuppt. Doch er muss, bevor er sein Unternehmen
beschuldigt, alles zumutbare versuchen, um die Korrektheit der
Informationen zu prüfen. Im Fall von Gawlik nahmen die Liechtensteiner
Gerichte an, dass er als stellvertretender Chefarzt jederzeit Zugang zu den
schriftlichen Akten hatte und deren Prüfung auch keine (mutmaßlich
lebensgefährdende) Verzögerung mit sich gebracht hätte.
Eine andere Frage ließ der EGMR im Fall von Gawlik aber ausdrücklich offen:
Hätte er sich zuerst an interne Stellen wenden müssen, bevor er seinen
Vorgesetzten anzeigt? Dass Gawlik nicht das Gespräch mit dem verdächtigten
Chefarzt suchen musste, war klar. Aber hätte ers sich vielleicht auch an
den Spitaldirektor oder an den Präsident der Spitalstiftung wenden können?
Da es für die Zulässigkeit der Kündigung hierauf nicht mehr ankam, konnte
der EGMR die Frage unbeantwortet lassen – wie vor ihm schon der
Liechtensteinische Staatsgerichtshof.
Lothar Gawlik hat nach längerem Suchen seit 2019 eine neue Anstellung
gefunden, an einer Klinik in Verden (Niedersachsen).
16 Feb 2021
## LINKS
[1] /Anja-Seibert-Fohr-wird-Richterin-am-EGMR/!5648790
[2] /Gesetzentwurf-der-Justizministerin/!5738519
## AUTOREN
Christian Rath
## TAGS
Whistleblower
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