Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Leben mit Cluster-Kopfschmerzen: Wie ein Dolch in der Schläfe
> In Deutschland leiden Tausende unter Cluster-Kopfschmerzen. Betroffene
> haben kaum auszuhaltende Schmerzen und bekommen oft falsche Diagnosen.
Bild: Viele PatientInnen haben ständig ein Sauerstoffgerät bei sich, um die S…
Sidiqa Sanjrani kann über die klassische 1-bis-10-Skala nur lachen. Ihr
Schmerz ist unvergleichlich und lässt sich nur in Bildern beschreiben: Ein
glühendes Messer im Auge, ein Dolch in der Schläfe, eine Nadel, die im
Gehirn rumstochert. „Was ich aushalten muss, ist außerhalb jeder
Kategorie“, sagt die 41-Jährige. Weil sich der Schmerz im Gesicht befindet,
ist er so unmittelbar, so nah. „Man kann ihm nicht entkommen.“ Marcus
Schrettinger hält seinen Unterarm vor die Laptopkamera. Auf den ersten
Blick: Tattoos, auf den zweiten: eine senkrechte Narbe. Der 50-Jährige hat
genau das versucht: dem Schmerz zu entkommen.
Sidiqa Sanjrani, die eigentlich anders heißt, und Marcus Schrettinger
[1][haben Cluster-Kopfschmerzen]. Was nach einem etwas intensiveren
Spannungskopfschmerz klingt, wird umgangssprachlich auch suicide headache
genannt. Dass das keine Übertreibung ist, zeigt Marcus Schrettingers
Unterarm. 100.000 bis 200.000 Menschen in Deutschland leiden unter
Cluster-Kopfschmerzen. Cluster, weil der Schmerz gebündelt, in mehrmals
täglichen Attacken kommt.
Der überwiegende Teil, über drei Viertel, hat einen episodischen
Krankheitsverlauf. Sidiqa Sanjrani gehört zu dieser Mehrheit: Alle drei bis
vier Jahre attackiert sie der Schmerz über mehrere Monate. Danach ist es
vorbei und sie versucht zu vergessen. Marcus Schrettingers Krankheit ist
chronisch. Bis zu achtmal täglich, meistens nachts, kommt der Schmerz, der
– wenn es unbedingt die Skala sein muss – eine 11 ist. Neben dem Schmerz
sind die häufigsten Symptome ein gerötetes, tränendes, leicht
hervorstehendes Auge, ein hängendes Lid und eine laufende Nase.
Obwohl sich die Krankheit auch optisch bemerkbar macht, dauerte es bei
Sanjrani acht, bei Schrettinger elf Jahre bis zur Diagnose. In der
Zwischenzeit: Besuche bei AugenärztInnen, KieferchirurgInnen, in
HNO-Fachpraxen und immer wieder rein in die Röhre. Auf den MRT-Scans:
nichts, keine Auffälligkeiten. Sidiqa Sanjrani lässt sich an den
Nebenhöhlen operieren, Marcus Schrettinger hat nicht mehr alle Backenzähne.
„Gezogen, denn da hätte ja was entzündet sein können.“ Seine Erkrankung
wird erst als „Raucherkopfschmerz“ abgetan, dann soll es wieder die Psyche
sein, die ihn vor Schmerzen schreien lässt. In diese „Zeit des
Ausgeliefertseins“, wie er sie nennt, fällt auch sein Suizidversuch.
## Ratlose ÄrztInnen
„Es ist tatsächlich so, dass viele Ärztinnen und Ärzte sich mit dieser
Krankheit nicht auskennen, wenige sogar noch nie etwas davon gehört haben“,
sagt Mark Obermann. Der Chefneurologe an der Asklepios-Klinik in Seesen
forscht zu Cluster-Kopfschmerzen. Einige MedizinerInnen gingen nach den
Schilderungen ihrer PatientInnen fälschlicherweise von beschädigten Nerven,
Entzündungen oder Tumoren aus. „Ich musste mir sogar mal anhören, dass ich
wahrscheinlich nur noch wenige Monate zu leben habe – Krebs“, sagt
Schrettinger. Das war zwar in einer Wald-und-Wiesen-Klinik in den
Neunzigern, dennoch hat sich in seinen 28 Jahren als „Clusterkopf“ nicht
viel getan. Die Ursache der Cluster-Kopfschmerzen ist nach wie vor unklar.
Sicher ist nur: Die Krankheit ist unheilbar, aber nicht lebensbedrohlich –
nimmt man mögliche psychische Folgen aus.
Bis heute ist noch kein Medikament auf dem Markt, das einzig für
Cluster-Kopfschmerzen entwickelt wurde. Aber es gibt eine Vielzahl an
Arzneimitteln, die Linderung verschaffen können, obwohl sie für andere
Erkrankungen vorgesehen sind.
Verapamil zum Beispiel hilft eigentlich gegen Bluthochdruck, mindert aber
bei vielen die Attackenhäufigkeit. Für Lithium, Inhaltsstoff von
Antidepressiva, gilt das Gleiche.Verbreitet sind auch Triptane, also Mittel
gegen Migräne, die dem Cluster-Kopfschmerz weniger fern liegt.
Eine experimentellere Behandlungsmöglichkeit sind sogenannte
Neurostimulatoren, die in den Kiefer implantiert werden. Mit kleinen
Stromimpulsen lässt sich der dort verlaufende Trigeminusnerv überreizen.
## Zwischen physischen Schmerzen und psychischer Last
Was die allermeisten PatientInnen zu Hause stehen haben, ist eine
Zehn-Liter-Sauerstoffflasche. Inhalieren, sobald es losgeht, kann den
Schmerz vertreiben. Kann. Bei manchen schlagen einige dieser Medikamente
an, bei anderen überhaupt nicht. Bei wieder anderen wirken sie ein paar
Jahre, dann funktionieren sie plötzlich nicht mehr. „Diese Krankheit ist
mit so viel Ungewissheit und Bedrohung verbunden“, sagt Sidiqa Sanjrani.
Aktuell hat sie nach vier Jahren Ruhe wieder eine Episode. Die Attacken
sind häufiger als beim letzten Mal. „Das kann mit einer nachlassenden
Wirkung des Sauerstoffs zu tun haben“, sagt sie.
Es sind nicht allein Schmerz und Ungewissheit, die Betroffene umtreiben.
Hinzu kommt die Last, ihrem privaten Umfeld, ihrem Arbeitgeber begreiflich
machen zu müssen, dass ihr Leiden nicht alltäglich ist. „Die schlimmste
Reaktion ist: ‚Das hab ich auch!‘ oder ‚Nimm doch mal ’ne Ibu!‘“, s…
Sidiqa Sanjrani. „Das ist die Höchststrafe für jeden
Cluster-Kopfschmerz-Patienten. Dieses: ‚Hast du es mal mit Aspirin
versucht?‘“, sagt auch Marcus Schrettinger. Der Cluster-Kopfschmerz trägt
den „Kopfschmerz“ im Namen und eine ganze Nation kann mitfühlen.
Schrettinger würde sich wünschen, die alternative Bezeichnung nach den
Entdeckern der Krankheit, Bing-Horton-Syndrom, wäre geläufiger. „Da würde
man keine so voreiligen Schlüsse ziehen“, sagt er.
Sidiqa Sanjrani ist Lehrerin. Ohne Sauerstoffflasche to go geht sie nicht
in die Schule. Kommt der Schmerz im Unterricht, muss sie rausgehen und
inhalieren. Ihrem Arbeitgeber hat Sanjrani kurz bevor sie anfing eine
ausführliche E-Mail geschrieben und ihre Krankheit erklärt. „Ich kann nicht
davon ausgehen, dass eine Personalerin oder ein Personaler das googelt oder
von selbst ernst nimmt.“ Besonders im Referendariat litt sie unter dem
Druck, schnell wieder fit sein zu müssen. Mit Krankschreibungen tut sie
sich schwer: „Da ist viel schlechtes Gewissen, viel Scham, viel: ‚Das kann
ich jetzt nicht bringen‘“, sagt sie. Marcus Schrettinger hat lange bei
einer Krankenkasse gearbeitet, danach als ITler in einer Softwarefirma.
Mittlerweile ist er in Rente, seine Krankheit wurde als Behinderung
anerkannt. Er habe jahrelang „einfach durchgehalten“, obwohl er eigentlich
arbeitsunfähig war. Schrettinger weiß, dass er Glück gehabt hat. Er kennt
viele Cluster-Kopfschmerz-PatientInnen, bei denen sich die
Rentenversicherung querstellt.
Überhaupt kennt er sehr viele Menschen. Marcus Schrettinger ist der wohl am
besten vernetzte „Clusterkopf“ in Europa. Von seinen 700
Facebook-FreundInnen haben 500 Cluster-Kopfschmerzen, sagt er. Er ist mit
Menschen in ganz Europa in Kontakt, tauscht sich aus über Erfahrungen und
Behandlungsmöglichkeiten. In seine Selbsthilfegruppe in Karlsruhe kommen
Dutzende aus der gesamten Region, sogar aus Bayern reisen manche an.
Auch seine Frau Melanie ist voll eingespannt, ist die „gute Seele“ der
Gruppe und betreut Angehörige. „Für die Familie ist diese Krankheit
natürlich eine Riesenbelastung“, sagt er. „Eine geliebte Person so dermaß…
leiden zu sehen und nichts tun zu können, das ist die Hölle.“ Dass er mit
seiner Gruppe einen Beitrag dazu leisten kann, Menschen ein besseres Gefühl
zu geben, gibt ihm Hoffnung. Er pocht bei jedem Treffen auf ausführliche
Vorstellungsrunden, weil er weiß, dass man die Leute „reden lassen muss“.
Dass es wahnsinnig hilft, „Ballast abzuwerfen“, einander zuzuhören.
Neurologe Mark Obermann stimmt ein neues Prophylaxepräparat, das in den USA
schon zugelassen ist, zuversichtlich. Auch würden die technischen
Therapien, zum Beispiel die Neurostimulation, immer besser. Weil
vergleichsweise nur so wenige Menschen Cluster-Kopfschmerzen haben, fehlen
Gelder, um die Forschung zu beschleunigen. „Dafür ist sie stetig“, sagt
Mark Obermann. Er ist optimistisch, „dass wir immer mehr über die Krankheit
wissen“. Für Sidiqa Sanjrani und Marcus Schrettinger wäre schon viel
erreicht, wenn mehr Menschen wüssten, was Cluster-Kopfschmerzen bedeuten.
Sich verstanden und weniger allein zu fühlen, macht aus der 11 zwar keine
9, hilft aber der Psyche.
9 Mar 2021
## LINKS
[1] http://xn--Staatsknete%20fr%20die%20Brgerforschung-3pdh
## AUTOREN
Leonie Gubela
## TAGS
Kopfschmerzen
Medizin
Schmerzen
Gesundheit
Podcast „Vorgelesen“
Kolumne Krank und Schein
Arbeitslosigkeit
Citizen Science
## ARTIKEL ZUM THEMA
Geschlechtersensible Medizin: Eine Frau ist kein Mann plus Hormone
Der Maßstab der meisten medizinischen Studien ist immer noch der
75-Kilo-Mann. Dabei könnte eine geschlechtersensiblere Medizin Leben
retten.
Studie zu Gesundheit und Arbeit: In Maßen gesund
Psychische Krankheiten werden immer häufiger diagnostiziert, aber nicht
alle Berufsgruppen sind gleich gefährdet. Erwerbslose trifft es oft.
Förderprogramm für Citizen Science: Staatsknete für die Bürgerforschung
Citizen-Science-Projekte erhalten erstmals eine Förderung. Aber die
Bewegung der Bürgerforschung ist noch sehr unpolitisch.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.