| # taz.de -- Reflektion des eigenen Verhaltens: Wo Rassismus anfängt | |
| > Rassistische Diskriminierung kann harmlos beginnen. Auch linke | |
| > Antirassist:innen sind nicht davor gefeit. Eine schamvolle | |
| > Erinnerung. | |
| Bild: Verkäufer Schwarz, Urlauber weiß: Dieses Bild ist an europäischen Str�… | |
| Hamburg taz | Wenn ich an den Moment denke, in dem ich mich rassistisch | |
| verhalten habe, schießt mir das Blut in die Wangen. Ich schäme mich. Als | |
| linke Journalistin habe ich schon so häufig über Alltagsrassismus | |
| berichtet. Ich achte darauf, dass meine Sprache nicht diskriminierend ist, | |
| erhebe gegenüber anderen schon mal den Zeigefinger – und dann das. | |
| Vor mir erstreckt sich die Boca do Inferno, der Mund der Hölle, eine nach | |
| oben hin offene Grotte vor den Toren Lissabons. Die Wellen zerschellen an | |
| den Felsen. Das Wasser spritzt hoch. An dem kleinen Aussichtspunkt drängen | |
| sich an diesem sonnigen Tag vor der Pandemie Tourist:innen. | |
| Auch mein Mann und ich fotografieren uns gegenseitig vor diesem | |
| Naturschauspiel, als mir jemand auf die Schulter tippt. Ich schaue in die | |
| Richtung und sehe einen Schwarzen Mann. Er lächelt mich an, aber ich | |
| schüttele nur den Kopf, wische abwehrend mit der Hand durch die Luft und | |
| sage: „No, thanks.“ Dann drehe ich mich zurück zu meinem Mann. Ich will | |
| jetzt keine überteuerten, gefälschten Souvenirs kaufen, denke ich. | |
| Eine Sekunde später tippt mir der Mann wieder auf die Schulter. „No, no“, | |
| sagt er. „May you please take a photo of me and my girlfriend?“ Der Mann | |
| lächelt immer noch. | |
| ## Nicht auf Augenhöhe | |
| Mein Schamgefühl klickt sofort ein. Natürlich schieße ich ein Foto von den | |
| beiden. Vielleicht noch eins in Hochkant? Mit ein bisschen mehr | |
| Spritzwasser im Hintergrund? | |
| Es sind sehr nette zwei Minuten. Die beiden sind dankbar und freuen sich | |
| über die Bilder. Sie machen auch noch eins von uns. Mich aber lässt diese | |
| Situation nicht mehr los. Ich habe mich rassistisch verhalten. | |
| Mein Unterbewusstsein hat es offenbar nicht für möglich gehalten, dass | |
| dieser Schwarze Mann aus genau den gleichen Gründen hier an dieser hübschen | |
| Bucht ist wie ich. Als Urlauber. Ich bin davon ausgegangen, er sei, so wie | |
| ich es etwa in den Straßen von Madrid hundertfach gesehen hatte, ein | |
| Geflüchteter, der sich mit dem Verkauf von Souvenirs über Wasser hält. Nur | |
| wegen seiner Hautfarbe. Ich habe ihn offenbar nicht auf Augenhöhe | |
| wahrgenommen. Und das Schlimmste: Ich habe ihn mit einer Handbewegung | |
| weggewischt. | |
| Unabhängig davon, dass das auf keinen Menschen eine angemessene Reaktion | |
| ist, war mein Verhalten nicht anders als ein [1][„Sie sprechen aber gut | |
| Deutsch“] gegenüber einer Person, die schon ihr ganzes Leben in | |
| Hamburg-Ottensen lebt. | |
| Es ist ein Problem, dass Schwarze Menschen oft nicht als „echter“ Teil der | |
| deutschen Gesellschaft angesehen werden. Obwohl sie seit vielen | |
| Generationen auf dieser geografischen Fläche, die heute Deutschland heißt, | |
| leben. Zugehörigkeit definiert sich noch immer stark über das Aussehen. Wer | |
| nicht weiß ist, muss fremd sein. | |
| Ich verurteile das – und trotzdem habe ich mich in meinem Portugalurlaub | |
| nicht anders verhalten. (Alltags-)Rassisten, das sind doch eigentlich immer | |
| die anderen. Tragen Rassisten nicht Springerstiefel und wedeln mit | |
| Reichskriegsfahnen? Oder sind es nicht zumindest konservative, | |
| unreflektierte Omis, die ihre Zweizimmer-Wohnung mit Balkon lieber an ein | |
| weißes Paar vermieten, weil es im Treppenhaus wegen „der Ausländer“ immer | |
| nach so komischen Gewürzen riecht? | |
| ## Aufgewachsen in einer rassistischen Gesellschaft | |
| Aber auch linke Menschen haben rassistische Gedanken und manchmal verhalten | |
| sie sich auch danach. Wie sollte es auch anders sein? Wir wurden in einer | |
| rassistischen Gesellschaft sozialisiert, haben Berichterstattungen gelesen, | |
| in denen die [2][Nationalität von Straftäter:innen] genannt wird, | |
| obwohl sie keine Rolle spielt, haben abwertende Gespräche auf dem Schulhof | |
| gehört oder sehen Werbung von Unternehmen, die immer noch ganz | |
| selbstverständlich auf Logos aus der Kolonialzeit setzen. Shout-out an die | |
| Rassi…, äh, Traditionsbewahrer bei Machwitz-Kaffee! | |
| Wir alle sind von dieser Umgebung beeinflusst und haben entwickelt, was in | |
| der US-amerikanischen Diskussion „Implicit Bias“ heißt. Man könnte das | |
| automatische Gedankenmuster nennen, eine unbewusste Voreingenommenheit. | |
| Diese Bias können in direktem Widerspruch zu den bewusst zugelegten Werten | |
| eines Menschen stehen. Wenn wir eine Situation einschätzen oder ein Urteil | |
| über jemanden fällen, machen wir das oft intuitiv. Unser Gehirn greift | |
| dabei auf Implicit Bias zurück. | |
| [3][Die New York Times hat dazu ein Video] mit dem Titel „Peanut Butter, | |
| Jelly and Racism“ veröffentlicht. Für US-Amerikaner:innen gehören | |
| Erdnussbutter und Marmelade ganz automatisch zusammen. Sagt einer | |
| „Peanutbutter“, antwortet der andere „Jelly“. Es gibt eine intuitive | |
| Verknüpfung. | |
| Diese Denkmuster funktionieren aber auch bei anderen Themen: „Ausländer“ | |
| und „Kriminalität“ zum Beispiel. Oder in meinem Urlaubskontext „Schwarzer | |
| Mann“ und „Gefälschte Markenartikel“. | |
| ## Rassismus ist nicht das Problem der Betroffenen | |
| Wenn wir sagen, die Rassisten, das sind die anderen, machen wir weißen | |
| Deutschen es uns zu einfach. Natürlich hat Rassismus eine strukturelle | |
| Dimension, die wir nicht unmittelbar beeinflussen können. Trotzdem ist | |
| Rassismus unser Problem. Nicht das Problem der Betroffenen. | |
| Wir müssen an uns arbeiten, eigene rassistische Verhaltensweisen | |
| reflektieren, auch wenn das sehr unangenehm ist – weil es mit Scham | |
| verbunden ist. Und wir sollten Menschen, die Rassismuserfahrungen in ihrem | |
| Alltag machen müssen, zuhören und diese auf keinen Fall kleinreden. | |
| Nein, ein Schwarzer Mensch muss nicht „drüber stehen“ und nett lächeln, | |
| wenn [4][er zum hundertsten Mal gefragt wird], wo er eigentlich „wirklich“ | |
| her kommt. Wir sollten das einfach nicht mehr fragen. | |
| Mehr über Alltagsrassismus und wie man ihn vermeiden kann, erfahren Sie in | |
| der Nordausgabe der taz am Wochenende oder [5][am E-Kiosk.] | |
| 26 Feb 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Alltagsrassismus-in-Deutschland/!5449378 | |
| [2] /Polizei-nennt-haeufiger-die-Nationalitaet/!5657928 | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=1JVN2qWSJF4 | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=hDd3bzA7450 | |
| [5] /Unser-eKiosk/!114771/ | |
| ## AUTOREN | |
| Andrea Maestro | |
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