# taz.de -- Diskurse in der Krise: Wege aus der Gelatine | |
> Die soziale, die ökologische, die pandemische, die diskursive Krise – | |
> alle brauchen eine neue Ehrlichkeit. Denn die Sprache hat sich abgenutzt. | |
Bild: Buchstaben fliegen, Diskurse bleiben | |
Neulich habe ich mich verliebt. Ich bin in meinem Insta-Feed an einem Foto | |
der US-amerikanischen Künstlerin Lorraine O’Grady hängen geblieben. Das | |
Foto verwies [1][auf ein Interview des New York Times Style Magazine] mit | |
der 86-Jährigen. Ich verliebe mich schnell, wenn ich bei jemandem Antworten | |
oder sehr gute Hinweise finde auf große Fragen, die mich beschäftigen. Oft | |
finde ich so was bei Künstler:innen. Bei O’Grady fand ich die Sätze: „At a | |
certain point, words just became gelatinous“ und „The only defense I can | |
offer against the horrors of the outer world are new ways of thinking and | |
seeing“. | |
Ich staune über diese Sätze. Mit dem ersten beschreibt O’Grady, wie sie | |
während der Kubakrise als Geheimdienstanalystin für die US-Regierung | |
arbeitete. Sie habe damals bis zu zehn internationale Zeitungen pro Tag | |
lesen müssen – das ist viel, ich selbst schaffe kaum eine einzige. Dass | |
mich die Gelatine werdenden Wörter so umtreiben, liegt an dem Bild | |
wabbelnder Buchstaben. Und daran, dass „geleeartig“ den Jetztzustand sehr | |
gut beschreibt. | |
Wörter funktionieren nicht mehr. Nach Jahren rhetorischer Wiederholung in | |
politischer und medialer Kommunikation sind viele Wörter und Phrasen so was | |
wie das Aspik um das Hähnchenfleisch und diese kleinen Fitzel saure Gurke | |
geworden. So vieles glibbert sich zu einem großen weichen Klumpen zusammen, | |
weil wir nach Worthülsen greifen, aus denen die Bedeutung, also das | |
Rückgrat, längst herausgefallen ist. | |
Wenn man [2][100 Zäsuren behauptet], sind es dann überhaupt noch Zäsuren? | |
Wenn man 100 Mal Normalität sagt, aber nie in Frage stellt, was Normalität | |
bedeutet, wie viel ist dieses Wort wert? Sprache wiederholt sich, alles | |
wiederholt sich und nutzt sich dabei ab. Vielleicht konnten wir nie so gut | |
bei dieser Abnutzung zuschauen wie nach einem Jahr Pandemie. | |
## Vielleicht hilft eine neue Rhetorik | |
Natürlich ist die Antwort auf das Gelatinierungsdilemma nicht die | |
Erfindung neuer Wörter. Aber vielleicht hilft eine neue Rhetorik, die | |
vorher ansetzt. „New ways of thinking and seeing“ bietet O’Grady an, als | |
Antwort auf die Entsetzlichkeiten der Welt. Und ich bin verliebt und denke: | |
Wenn nichts weitergeht, wenn alles gleichförmig geworden ist, dann kommen | |
die besten Ideen für progressive Brüche aus der Kunst. Noch ein Grund, | |
warum wir Künstler:innen in Krisen mehr brauchen denn je. Für | |
unkonventionelle Wege aus der Gelatine. | |
Die soziale, die ökologische, die pandemische, die diskursive – alle Krisen | |
brauchen eine neue Ehrlichkeit, neue Wege im Denken und Betrachten. Phrasen | |
finden nur Kontur, wenn wir ihnen Kontur geben. Manche werden nicht zu | |
retten sein. Aber wir könnten erzählen, was sie durchgemacht haben, und uns | |
fragen lassen: „Wie meinst du das?“ Es trifft längst keinen Zeitgeist mehr, | |
wenn mutige Ideen hinter verschlossenen Türen verworfen werden. Wenn wir | |
uns immer weiter eingießen in dickflüssigen Kleber, kann sich irgendwann | |
nichts mehr bewegen. Nur wabbeln, nicht wandeln. | |
5 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nytimes.com/2021/02/22/t-magazine/lorraine-ogrady-retrospective… | |
[2] /Das-Coronavirus-und-die-Weltgeschichte/!5679422 | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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