# taz.de -- Corona und die Politik: Die Sorge um das Leben | |
> Pandemien sind widersprüchlich: Der Staat wird zum Kümmerer, der | |
> kommandiert, vor allem aber freiwilliges Mittun braucht. | |
Lockdowns werden verhängt, Verordnungen erlassen, Regeln aufgestellt, | |
[1][jeden Abend beherrschen die Coronaschlagzeilen die | |
Nachrichtensendungen] und in Talkshows wird das Immergleiche geredet. Aber | |
jenseits dieser Meta-Politik ist unser Alltag, die neue „Mikrophysik | |
unseres Lebens“ – um nicht zu sagen, eine „Mikrobiologie“. | |
Schon das Wort „uns“ ist fragwürdig, da noch mehr als sonst sichtbar wird, | |
dass es ein „Wir“ nicht gibt. So verschieden sind die Lebenslagen, nicht | |
nur nach den soziologischen Großkategorien wie „arm“ und „reich“ oder | |
„privilegiert“ und „unterprivilegiert“. Jeder Alltag ist anders, für e… | |
achtjähriges Kind ist es anders als für eine Siebzehnjährige, der Single | |
ist einsam und fürchterlich gelangweilt, die vierköpfige Familie, die in | |
der Zweizimmerwohnung Distance-Learning betreibt, geht dagegen die Wände | |
hoch. Tausende Lebenslagen, die alle unterschiedlich sind. | |
„Jetzt ist es nun einmal so. Das lässt sich nun einmal nicht ändern.“ | |
Phrasen wie diese begleiten uns durch diese Monate, während deren wir | |
unsere Leben einstellen. Alle machen sich heute um alle Sorgen, das ist | |
jetzt normal, so wie wir jetzt leben. Umarmungen, Berührungen, Küsse, | |
Gespräche, bei denen man sich lachend näherkommt, all das könnte jetzt eine | |
tödliche Gefahr darstellen. Berührungen, Nähe, soziale Interaktionen, sie | |
sind eine elementare Seite des Lebens, des Seins. Diese Berührungen | |
verbinden diese Person und mich, aber jeden von uns auch mit vielen | |
anderen, unbekannten Anderen, „und diese große Kette des Seins ist auch | |
eine Kette des Todes geworden“ (Susan Sontag: „Wie wir jetzt leben“). | |
Wir merken, wie uns die informellen Begegnungen abgehen, gerade diese | |
vielen belanglosen Gespräche, die uns unter normalen Bedingungen nicht | |
wichtig erscheinen. | |
Innen leben ist schlecht fürs Innenleben. Wir sitzen unsere Zeit ab. | |
## Zurück zur verordneten Hygiene | |
[2][Pandemien waren immer schon Übergangzeiträume], teilweise mit | |
revolutionären Wirkungen. Sie änderten das Verhältnis von Staat und | |
Gesellschaft und das Funktionieren von beidem. Temporär, oft aber auch | |
langfristig. Mit Blick zurück und Blick auf uns reiben wir uns die Augen. | |
Heutige Containment-Politik „basiert auf traditionellen Methoden, die auf | |
die staatliche Gesundheitspolitik während der Beulenpest zurückgehen: | |
Ansteckungsfälle aufspüren, isolieren, in Quarantäne stecken, die Absage | |
von Massenveranstaltungen, Überwachung Reisender, Empfehlungen für | |
persönliche Hygiene, und Schutz durch Masken, Handschuhe, Mäntel“ (Frank M. | |
Snowden). | |
Wir fühlen uns da ein wenig an jene Art Generäle erinnert, die neue | |
Schlachten mit den Methoden früherer schlagen wollen, wenn wir Berichte wie | |
von Daniel Defoe über die Pest in London aus dem Jahr 1665 lesen. Eine | |
Gesellschaft in Furcht, die erstmals „rational“ zu reagieren versuchte. Die | |
Obrigkeit erließ die Anordnung, „Leute in ihren eigenen Häusern | |
abzusperren“; Staatsdiener hatten die Möglichkeit, „sich zwangsweise | |
Eintritt (zu) verschaffen, bis die Art der Erkrankung festgestellt ist“; | |
das Haus wurde abgesperrt, zwei Wächter für jedes Haus abgestellt, jedes | |
verseuchte Haus wurde in der Mitte der Tür mit einem roten Kreuz bezeichnet | |
und die Wächter hatten auch die Aufgabe, „die Eingeschlossenen mit dem | |
Notwendigsten“ zu versorgen. In engen Gassen kehrten die Einwohner um, wenn | |
sie Gefahr verspürten. Man achtete darauf, „sich mit kleinem Gelde (zu) | |
versehen, um das Wechseln unnötig zu machen“. Die meisten Geschäfte lagen | |
darnieder und die Armen hatten kaum mehr eine Möglichkeit, „ihr Brot zu | |
verdienen“. In Droschken stieg praktisch niemand mehr, „weil man nie | |
wusste, wer zuvor damit befördert worden war“. | |
Ohne die Pest wäre die Entstehung des absolutistischen Staates und einer | |
rationalen, zentralisierten Verwaltung anders verlaufen. Seuchen wie die | |
Cholera stärkten die Idee, dass nur ein Gesundheitssystem, das für alle | |
funktioniert, das Individuum schützen kann. Es war die Geburt des | |
öffentlichen Gesundheitswesens. Ansteckungsketten verbinden uns – wir | |
werden als Gesellschaft noch mehr zu einem Organismus, als wir es ohnehin | |
sind. Das Volk wurde, nachdem die Keime entdeckt waren, zu Sauberkeit | |
erzogen. Als die Tuberkulose wütete, wurde der Besen durch den Wischmopp | |
ersetzt, weil man lehrte, die Keime am Boden werden mit Besen nur | |
aufgewirbelt. Seife, Wischmopp, Wasserleitung – alles Produkte von Seuchen. | |
## Der autoritäre Zugriff auf das Individuum | |
Epidemien sind, wenn man so will, ein foucaultscher Moment. Sie stärken | |
eine rationale Verwaltung, etablieren autoritären Zugriff auf das | |
Individuum, zugleich aber auch paternalistische Effekte von Erziehung und | |
Selbsterziehung, sanitäre Vorschriften und hygienische Ratschläge, deren | |
Befolgung sozialer Kontrolle unterliegt, die aber wiederum auch den | |
Individuen zur zweiten Natur werden sollen. Sie etablieren | |
Gesundheitsinstitutionen vom Pesthaus über die Klinik bis zum Sanatorium, | |
Forschungseinrichtungen später auch, und während der Epidemien und in ihrem | |
Nachgang gehen sozialer Fortschritt und autoritärer Verwaltungsstaat ein | |
seltsames Bündnis ein. | |
Michel Foucault nannte das „Biopolitik“, die ihren Urspruch darin hatte, | |
dass der Staat sich überhaupt mit der Bevölkerung zu beschäftigen begann, | |
von der Geburtenrate bis zur Volksgesundheit, und darauf achtete, dass | |
Körper fit bleiben und deviantes Verhalten unterbunden wird, und zwar | |
weniger, um Deviante zu bestrafen, sondern mehr wegen des damit verbundenen | |
Effektes gegenüber allen anderen, nämlich der Etablierung eines gängigen | |
Konsenses von „normalem Verhalten“. | |
Bevor der absolutistische Staat entstand, begegnete die Regierung den | |
Bürgern vor allem strafend, letztendlich mit einer Todesdrohung. Die | |
Pestära war der historische Übergang, als die „Sorge um das Leben“ | |
plötzlich eine Aufgabe von Behörden wurde. Die Menschen in den Risikozonen | |
wurden quarantänisiert, zugleich aber mit dem Nötigsten versorgt, von | |
Staatsdienern, die von Haus zu Haus gingen und durch die Fenster nach der | |
Gesundheit fragten. | |
All das ist eine Wechselwirkung von autoritärer Abrichtung und | |
Disziplinierung, aber mehr noch von positiver Anreizsetzung, damit die | |
Disziplin zur Selbstdisziplin wird, das Subjekt selbst begehrt, was von ihm | |
begehrt wird. Darum, so formulierte Foucault einmal auf geniale Weise, | |
„hätte zu viel regieren bedeutet, gar nicht zu regieren“. | |
Wer immer sich gefragt haben mag, wie die foucaultsche Beschreibung der | |
„Disziplinarmacht“ (die also mit Befehl und Kommando arbeitet) mit der | |
Konzeption der „Selbsttechniken“ zusammengeht (die genau das nicht tun, | |
sondern auf das freiwillige Mittun der Beherrschten setzen) – in diesem | |
Jahr haben wir die Antwort im Schnelldurchlauf begriffen und erfahren. | |
Wird nur befohlen, macht keiner mit. Wir haben in diesem Jahr der | |
Ansteckung sehr genau beobachten können, wie wahr das ist. Der Lockdown | |
selbst folgte dem „Pest“-Modell (Quarantäne, rigide Vorschriften), ist aber | |
nur für den absoluten Notfall praktikabel und nicht mal für diesen auf | |
längere Zeit, weil komplexe Gesellschaften undurchdringlich sind und man | |
nicht an alle Ecken Polizisten hinstellen kann, sondern von der Zustimmung | |
der Bevölkerung abhängig ist. Foucault spricht davon, dass die Macht | |
produktiv ist, also nicht nur befiehlt und überwacht, sondern das Subjekt | |
lockt und verändert, und er spricht von „Mikrobeziehungen von Macht“, die | |
somit nicht einfach von oben nach unten wirken, sondern kreuz und quer, | |
einer Mikrophysik der Macht. | |
Erst in dem Moment, in dem all das der politischen Herrschaft gelingt, | |
„beginnt (etwas), was man die Macht über das Leben nennen kann“, meinte | |
Foucault, und: „Ich glaube, das Recht, das zwischen Erlaubtem und | |
Verbotenem unterscheidet, ist in Wirklichkeit nur ein relativ | |
unangemessenes, irreales und abstraktes Machtinstrument. Konkret sind die | |
Machtbeziehungen sehr viel komplexer.“ | |
Kein Biopolitiker hätte der Bevölkerung je befehlen können, sich täglich | |
zwei Mal die Zähne zu putzen. Es war von staatlicher Politik gewünscht, es | |
wurde von Sozialreformern propagiert, sozialistische Zeitschriften | |
forderten ordentliche Wohnbauten für die Armen, in denen es gute Bäder gab, | |
danach wurde in Bildstrecken vorgeführt, wie man die richtige | |
Alltagshygiene vollführt, und in Schulen wurde es den Kleinsten | |
beigebracht. | |
Das Kommando allein produziert Widerstand, den ostentativ-wütenden oder die | |
bloße, meckernde Nichtbeachtung von Regeln. Regeln müssen erklärt werden | |
und sie müssen dem rationalen Urteil standhalten, was sich auch deshalb | |
als zunehmend schwierig erweist, da eine Vielzahl an Regeln auch eine | |
„innere Logik“ benötigen (die jederzeit bestritten werden kann). Macht kann | |
sich nicht darauf zurückziehen, zu unterdrücken, sie muss die große | |
Mehrheit gewinnen und die Minderheiten, die nicht mittun, isolieren. Public | |
Health und soziale Kontrolle gehen Hand in Hand. Der Begriff der | |
„Selbstbeherrschung“ trifft das in seiner Vieldeutigkeit ziemlich genau. | |
Die Schwierigkeit, in Lagen wie der unseren, besteht genau darin, dass | |
praktisch jede der propagierten Normen unangenehm ist. Das setzt der Freude | |
beim Mittun natürlich engere Grenzen, als wenn man die Menschen animiert, | |
täglich ein warmes Bad zu nehmen, um angenehm zu riechen und folglich den | |
Respekt zu genießen, der damit einhergeht. | |
„Jeder würde dafür sterben, berührt zu werden und menschlichen Kontakt zu | |
haben“, schreibt der New Yorker Fotograf und Essayist Bill Hayes in seinem | |
Buch „How We Live Now“. Erinnern wir uns noch?, fragt Hayes. Das letzte | |
Mal, als ich einem Fremden die Hand geschüttelt habe. Das letzte Mal, als | |
ich Menschen tanzen gesehen habe. Das letzte Mal, als ich an einem Tresen | |
lehnte, nachts in einem Club war. Das letzte Mal, als ich im Theater war. | |
Das letzte Mal, als ich jemanden küsste. Das letzte Mal, als ich mit | |
anderen im Aufzug fuhr ohne Angst. | |
Auch dieses Jahr 1 der pandemischen Gesellschaft war ein spannendes | |
Sozialexperiment, das nur den Nachteil hat, dass wir in diesem Versuch die | |
Beobachter und zugleich die Laborratten sind. | |
21 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Aktuelle-Nachrichten-in-der-Coronakrise/!5752975 | |
[2] /Historiker-Malte-Thiessen/!5676907 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
## TAGS | |
Schule und Corona | |
Schwerpunkt Pestizide | |
Pandemie | |
Gesundheitsvorsorge | |
Michel Foucault | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Knapp überm Boulevard | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: In Israel geht es voran | |
Daten aus Israel bestätigen die Wirksamkeit des Corona-Impfstoffs von | |
Biontech. In Deutschland steigt die Zahl die Sieben-Tage-Inzidenz. | |
Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Söder stellt Öffnungen in Aussicht | |
Laut dem CSU-Chef könnten Geschäfte eventuell Mitte März wieder aufmachen. | |
Eine Coronamutante breitet sich in Deutschland rasant aus. Südafrika | |
beginnt, zu impfen. | |
Historiker Malte Thießen: „Seuchen verschärfen Ungleichheit“ | |
Ein Blick in die Geschichte der Epidemien zeigt, wie wichtig internationale | |
Koordination ist, doch anlässlich von Corona erleben wir Isolationismus. | |
Coronakrise in Österreich: Solidarisch vereinzelt | |
In der Coronakrise ist der starke Staat zurück. Österreichs Kanzler Kurz | |
hat in null Komma nichts vom knallharten Grenzschützer zum besorgten Hirten | |
umgesattelt. |