# taz.de -- Kampf gegen Gentrifizierung in Berlin: Frau Windschilds letzter Wil… | |
> Das Evangelische Johannesstift will ein Mietshaus verkaufen, das ihm | |
> vererbt wurde. Dagegen wehrt sich nun auch der Patensohn der Stifterin. | |
Bild: Ein Transpi gegen den Verkauf: Aktivistin der Anzi24 beim Kreativsein | |
Berlin taz | Die Anzengruberstraße ist eine kleine Oase. Sie liegt zwischen | |
Sonnenallee und Karl-Marx-Straße mitten im Herzen von Neukölln. Auch hier | |
hat sich die Gentrifizierung des Stadtteils der vergangenen Jahre bemerkbar | |
gemacht: Treffpunkte wie ein Sozialkaufhaus und die Eckkneipe „Zum | |
Anzengruber“ etwa seien verschwunden, sagt Anwohnerin Lieke Rahn. Aber es | |
gebe auch viele alte Geschäfte, die seit Jahrzehnten in der Straße seien. | |
Nun ist das Haus, in dem Rahn selbst wohnt, bedroht. Die [1][„Anzi24“], wie | |
die Mieter:innen es nennen, soll verkauft werden. Das gefährde die | |
Hausgemeinschaft, sagt Rahn. Nur die vergleichsweise niedrigen Mieten | |
würden es vielen Bewohner:innen ermöglichen, weiter in dem Kiez zu leben. | |
Das Alter der Mieter:innen reicht von 0 bis 78 Jahren, viele leben schon | |
sehr lange im Haus. | |
Dass nun der Verkauf geplant ist, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn | |
der Besitzer der Anzengruberstraße 24 ist kein profitorientierter Miethai, | |
sondern das [2][Evangelische Johannesstift], eine christliche Einrichtung | |
mit Sitz in Spandau, 1858 gegründet, um Arme und Kranke zu unterstützen – | |
eine sozial gerechte Gesellschaft ist ihr Leitbild. | |
Der Gründerzeitbau in der Anzengruberstraße gehört dem Stift seit 1995, als | |
dessen langjährige Besitzerin Margarete Windschild verstarb und der | |
kirchlichen Einrichtung das Wohnhaus vermachte. [3][Die taz berichtete | |
bereits Mitte Januar] über den drohenden Verkauf des Hauses. In Reaktion | |
darauf meldete sich Harald Post bei der taz, Windschilds Patensohn. | |
## Der Verkauf sei ein „Unding“, sagt Patensohn Post | |
Und Post, heute 80 Jahre alt und [4][CDU-Lokalpolitiker in | |
Nordrhein-Westfalen], hat einiges zu erzählen. Er sieht in dem geplanten | |
Verkauf einen Vertragsbruch seitens des Johannesstifts – wenn schon keinen | |
juristischen, so doch einen moralischen. | |
Denn der Verkauf stehe im eklatanten Widerspruch zum Willen der | |
Verstorbenen, so Posts Meinung. Gerade angesichts der Größe des | |
Vermächtnisses – der Gebäudekomplex in bester Lage umfasst zwei Hinterhöfe | |
und Wohnraum für rund 50 Menschen – sei es ein „Unding“, wenn die Stiftu… | |
das Gebäude nun „einfach verhökert“. | |
Lilian Rimkus, Pressesprecherin des Johannesstifts, sieht das anders. Sie | |
hält alle Auflagen des Testaments für erfüllt. Die Verstorbene habe dem | |
Stiftungszweck dienen wollen. Da der Verkaufserlös des Hauses in ein | |
soziales Projekt fließe, sei diesem Wunsch genüge getan. | |
Dem widerspricht Harald Post. Es sei stets das Ziel Margarete Windschilds | |
gewesen, das Haus für seine Bewohner:innen zu erhalten. Nur hierfür sei | |
es in die Hände des Johannesstifts gegeben worden, es hätte „nie als | |
Spekulationsobjekt verwendet“ werden dürfen. | |
Das Johannesstift verweist auf eine Sozialcharta, die die Mieter:innen | |
vor Eigenbedarfskündigungen oder missbräuchlichen Modernisierungsmaßnahmen | |
schütze. Für die Aktivist:innen der Anzi24 ist diese Charta jedoch | |
[5][„das Papier kaum wert, auf dem sie steht“]. Der versprochene Schutz | |
reiche nur marginal über den ohnehin gesetzlich gesicherten Milieuschutz | |
hinaus. Das Johannesstift widerspricht auch hier: Der Schutz werde | |
„deutlich“ ausgeweitet, sagt Sprecherin Rimkus. | |
Für Harald Post geht es aber um mehr als um juristische Feinheiten. Am | |
Telefon erklärt er ausführlich, warum er das Vertrauen gebrochen sieht, das | |
seine Patentante einst in die Stiftung legte. Er erklärt dies mit lauter | |
Stimme, die noch lauter wird, wenn ihm etwas wichtig erscheint. Und wenn er | |
die Intention seiner Patentante beteuert, dann ruft er das, was er sagt, | |
regelrecht hinaus. | |
Wer Post zuhört, dem wird schnell klar, dass er Margarete Windschild ebenso | |
gut kannte, wie er sie bis heute bewundert. „Bis zuletzt hatten wir ein | |
sehr enges Verhältnis“, sagt er. Lange Zeit lebten beide in Berlin. | |
## Ein turbulentes Leben | |
Um zu verstehen, warum Herr Post das Vermächtnis seiner Tante nicht | |
beachtet sieht, muss man sich mit deren Leben und Wirken beschäftigen. | |
Davon kann Harald Post erzählen wie kein Zweiter: Quer durch die Höhen und | |
Tiefen der deutschen Geschichte erinnert er sich bis ins kleinste Detail. | |
Bei Vielem war er unmittelbar dabei. | |
Margarete Windschild sei einst eine Größe der Berliner Konfektionsbranche | |
gewesen, erzählt Post. Schon in den Goldenen Zwanzigern des vergangenen | |
Jahrhunderts habe sie ihren Durchbruch in Design und Vertrieb von | |
Damenkleidern geschafft. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Emil, den sie mit nur | |
18 Jahren geheiratet habe, habe sie die Firma Windschild & Windschild | |
gegründet. | |
So sei die 1895 Geborene zu jenem „gutem Geld“ gekommen, das ihr schon zu | |
Weimarer Zeiten ermöglichte, das Haus in der Anzengruberstraße 24 zu | |
kaufen. Sie sei eine Kämpferin gewesen, erzählt Post. | |
Die Nazizeit habe das Ehepaar „unpolitisch ausgesessen“, doch in den Wirren | |
der Nachkriegszeit sei Emil Windschild von sowjetischen Truppen verschleppt | |
worden. Seine zahlreichen Passstempel aus der Vorkriegszeit hätten die | |
Soldaten zu der Vermutung veranlasst, es müsse sich bei ihm um einen Spion | |
handeln. Aus Sibirien sei er nie zurückgekommen. | |
Obwohl Bomben die Fabrikräume am Hausvogteiplatz zerstört und auch das Haus | |
in der Anzengruberstraße beschädigt hatten, habe sich seine Tante sofort | |
wieder in die Arbeit gestürzt. Aus ihrer Wohnung in der Kreuzberger | |
Fontanepromenade heraus habe sie begonnen, alte Militäruniformen in | |
dringend benötigte Zivilkleidung umzuändern. Sie gründete ihre Firma neu; | |
wieder unter dem Namen Windschild & Windschild, auch wenn nur noch sie da | |
war. | |
## Geschäftsfrau mit Herz | |
Bis zum Verkauf des Betriebs 1962 blieb der Name eine Größe im | |
bundesrepublikanischen Bekleidungsgeschäft. Fortan habe sie sich nur noch | |
dem Haus in der Anzengruberstraße gewidmet, das ihr all die Jahre erhalten | |
geblieben war. Es sei ihr darum gegangen, „Menschen Wohnraum zu geben, die | |
für sie gearbeitet haben oder in irgendwelchen Schwierigkeiten steckten“, | |
sagt Post. „Ich kann Ihnen versichern: Sie kannte jeden ihrer Mieter | |
persönlich.“ | |
Eine Selbstverständlichkeit sei es für sie gewesen, sich um Reparaturen und | |
andere Belange der Bewohnenden zu kümmern. Das bestätigen auch heutige | |
Mieter:innen der Anzengruberstraße 24, die Frau Windschild noch | |
persönlich kannten. | |
Etwa Hüseyin Topal, der auf Windschilds Wunsch hin gemeinsam mit seiner | |
Frau den Hauswartsposten übernahm. Zu Kaffee und Kuchen sei sie | |
vorbeigekommen, immer habe sie sich um alles gekümmert, sagt Topal, der | |
seit 1991 im Haus wohnt. Er ärgert sich, dass Frau Windschilds Versprechen, | |
das Haus nach ihrem Ableben in „gute Hände“ zu bringen, nun offenbar | |
gescheitert sei. | |
Das ärgert auch Harald Post – und zwar gewaltig. Die Idee mit dem | |
Johannesstift sei nur entstanden, weil seine Patentante | |
Familienstreitigkeiten vermeiden wollte. Sie habe befürchtet, dass solche | |
zum Verkauf des Hauses und damit zum Ende der von ihr gewünschten sozialen | |
Bindung führen könnten. | |
Die christlichen Werte des Johannesstifts habe Margarete Windschild als | |
Garantie dafür angesehen, dass ihre Wünsche berücksichtigt würden. In | |
dieser Hinsicht habe sie der Stiftung mehr vertraut als ihrer eigenen | |
Familie, die sie anderweitig begünstigte. Und hier wird Harald Post richtig | |
laut. „Eine Schenkung dieser Größenordnung nach 25 Jahren zu verkaufen, | |
wenn man weiß, dass die Stifterin klare Vorstellung hatte, das ist das ein | |
Unding!“, ruft er aus. | |
## Vorkaufsrecht statt Haifischmentalität | |
Es geht ihm dabei nicht nur um das materielle Erbe seiner Patentante, | |
sondern auch um den Geist ihres Wirkens. Windschild sei „nie Kapitalistin, | |
sondern stets Geschäftsfrau“ gewesen, sagt er.Natürlich sei sie Vermieterin | |
gewesen, natürlich hätten Geschäftsbeziehungen bestanden. Aber nie wäre es | |
ihr in den Kopf gekommen, ihre Mieter:innen für ein bisschen Profit | |
abzustoßen, sagt Post. | |
Es sei diese „Haifischmentalität“, die ihn so sauer mache – und das sage | |
ein CDU-Politiker, der von sich selbst meint, „prinzipiell doch auf Seiten | |
des Kapitals“ zu stehen. Dennoch beobachte er eine Veränderung in der | |
Funktionsweise des Kapitalismus, die er nicht mittragen wolle, sagt Post – | |
und für die auch seine Patentante ganz sicher nicht gestanden habe. | |
Und so stehen ein CDU-Politiker aus Nordrhein-Westfalen und die | |
Anzi24-Mieteraktivist:innen plötzlich auf derselben Seite. Beide beklagen | |
einen tiefgehenden Vertrauensverlust und wünschen sich, dass es keiner | |
ausformulierten Vertragstexte bedürfe, damit menschliche Schicksale nicht | |
Opfer reiner Profitinteressen werden – eine Charakterisierung, dem das | |
Johannesstift sicher widersprechen würde. | |
Die Aktivist:innen und Post wissen aber auch, dass Nostalgie zwecklos | |
ist. Im Zweifel sei die Politik gefordert, sagt Lokalpolitiker Post: „Die | |
Stadt muss dafür sorgen, dass günstiger Mietraum erhalten bleibt.“ Der | |
Bezirk besitze das Vorkaufsrecht und müsse dieses auch nutzen. | |
Auch die Aktivist:innen der Anzi24 fordern einen Vorkauf ihres Hauses | |
durch den Bezirk. Neuköllns Baustadtrat Jochen Biedermann (Grüne) [6][hat | |
bereits Unterstützung angekündigt]. Er komme sogar zu der Kundgebung, die | |
die Mieter:innen am Samstag vor ihrem Haus veranstalten, kündigt Rahn | |
von der Anzi24 an. | |
5 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://anzi24.de/ | |
[2] https://www.evangelisches-johannesstift.de/ | |
[3] /Mietenproteste-in-Berlin/!5739126 | |
[4] https://www.cdu-nettetal.de/wp-content/uploads/2020/08/CDU_Nettetal_Faltbla… | |
[5] https://anzi24.de/wp-content/uploads/2021/02/210127_PM-Sozialcharta.pdf | |
[6] https://twitter.com/derjochen/status/1348733358059249667 | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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