| # taz.de -- Suche nach vergessenem Nobelpreisträger: Rauschen nach dem Weltgef… | |
| > „Am Götterbaum“ heißt der neue Roman von Hans Pleschinski. Er begibt si… | |
| > auf die Spuren des vergessenen Literaturnobelpreisträgers Paul Heyse. | |
| Bild: Erhielt 1910 den Literaturnobelpreis: Paul Heyse in einer Fotografie von … | |
| Vernichtender kann ein Urteil über ein künstlerisches Werk nicht ausfallen. | |
| „Als Persönlichkeit und Charakter war er untadelig“, war 1963 in Albert | |
| Soergels und Curt Hohoffs seinerzeit als Standardwerk geltendem Buch | |
| „Dichtung und Dichter der Zeit“ über den Schriftsteller [1][Paul Heyse | |
| (1830–1914)] zu lesen. Wenn dessen Literatur dann die Zensur „epigonal“ | |
| verpasst wurde, war das durchaus repräsentativ auch für andere | |
| Literaturgeschichten und zudem für namhafte Kollegen. | |
| Kurt Tucholsky fertigte eine freche Parodie eines Heyse-Gedichtes an, Arno | |
| Schmidt befand die Heyse-Literatur für „Zuckerwasser“ und Ortrud Vandervelt | |
| urteilt nicht minder hart: „Formvollendete Leere“. Im Gegensatz zu den | |
| Vorgenannten ist sie allerdings Fiktion: Ortrud Vandervelt heißt eine der | |
| Hauptfiguren in [2][Hans Pleschinskis neuem Roman „Am Götterbaum“]. | |
| Dass sie über dessen ganze Strecke in ihrem Urteil nicht schwanken wird, | |
| kann gegen das Gelingen des Romans sprechen, der versucht, eine Lanze für | |
| Heyse zu brechen, aber auch gegen die Qualität des Heyse-Werks. Dass dessen | |
| Schöpfer entgegen anderslautender Behauptungen nicht wirklich in | |
| Vergessenheit geraten ist, hat einen einzigen Grund: Im Jahr 1910 erhielt | |
| Heyse als erste Persönlichkeit der deutschsprachigen Literatur den | |
| Nobelpreis zugesprochen, allein das sichert ihm ein gewisses Weiterleben. | |
| Von seinem ausufernden Œuvre allerdings, immerhin rund 180 Novellen, dazu | |
| Romane, Theaterstücke, Lyrik, ist im öffentlichen Bewusstsein tatsächlich | |
| nichts mehr lebendig. Auch nicht in München, dessen literarische Kultur | |
| Heyse laut Hans Pleschinski überhaupt begründet hat. | |
| ## Was abseits schlummert | |
| Kaum jemand ist prädestiniert, eine solche an den Rand der kollektiven | |
| Erinnerung gedrängte Figur zu vergegenwärtigen, wie Pleschinski: „Abseits | |
| schlummert das Interessanteste“, lässt er eine Figur sagen, und das ist | |
| programmatisch. | |
| Seit seinen Anfängen hat der 1956 in Celle geborene, seit Langem in München | |
| lebende Autor und Herausgeber ein Faible für ungewöhnliche Persönlichkeiten | |
| und Stoffe der deutschen Kultur- und Literaturgeschichte an den Tag gelegt, | |
| zudem eines für Literaturnobelpreisträger. In seinen letzten beiden | |
| Romanen, „Königsallee“ (2013) und „Wiesenstein“ (2018), ging es um Tho… | |
| Mann und Gerhart Hauptmann. | |
| Während Ersterer noch sehr, Letzterer zumindest in Form von Schullektüre | |
| („Bahnwärter Thiel“) präsent ist, muss Heutigen erklärt werden, um wen es | |
| sich bei Paul Heyse handelt. Pleschinski entledigt sich dieser Aufgabe auf | |
| ungewöhnliche Weise, einen konventionellen biografischen Roman zu | |
| schreiben liegt ihm fern. | |
| Dass er dazu locker in der Lage wäre und wie das Resultat aussehen könnte, | |
| demonstriert er gegen Ende seines Romans wie beiläufig in einem Kapitel, in | |
| dem im Stil einer klassischen Künstlernovelle der alternde Heyse in Szene | |
| gesetzt wird: Im Garten seiner Villa am Gardasee plagt er sich mit einem | |
| Text, die Feder will nicht mehr so recht fließen, und Heyse kann auch nicht | |
| mehr verdrängen, dass er den Anschluss an den Zeitgeist zu verlieren droht. | |
| ## Ein wundersames Buch | |
| Nur in diesem Exkurs begegnet uns Heyse live, ansonsten ist er mittelbares | |
| Thema eines wundersamen Buches, dessen Handlung überschaubar ist. Im | |
| München der Jetztzeit treffen sich am Marienplatz drei Frauen: Die erwähnte | |
| Autorin Vandervelt, die ambitionierte, aber ungelesene (und vermutlich auch | |
| unlesbare) Bücher schreibt, kommt soeben von einer Russlandreise zurück, | |
| die sie auf Einladung des Goethe-Instituts unternommen hat. | |
| Therese Flößer ist Bibliothekarin und Mitarbeiterin des Literaturarchivs | |
| Monacensia, eine Heyse-Kennerin und resolute Oberbayerin. Schließlich die | |
| hypochondrische Antonia Silberstein, die als Stadträtin eine besondere | |
| Mission hat: Die Stadt überlegt, Heyses ehemaliges Wohnhaus zu einem | |
| Kulturzentrum umzugestalten. | |
| Gemeinsam spaziert das zur Expertise berufene Trio zu dieser zweiten | |
| Heyse-Villa, die Route führt vom Rathaus über Theatinerstraße und | |
| Königsplatz zur Villa in der Luisenstraße. Rund die Hälfte des Romans folgt | |
| den drei Frauen auf ihrem Weg und protokolliert ihre Unterhaltungen, die | |
| sich vor allem, aber nicht nur, um Heyse drehen. | |
| Der Archivarin kommt der Part der Heyse-Referentin zu: Sie informiert ihre | |
| Begleiterinnen und mithin uns als Leserschaft nicht nur über des Dichters | |
| Lebensdaten, sondern hat auch Bücher im Rucksack, aus denen sie Heyse-O-Ton | |
| vorträgt. Am Königsplatz treffen die drei auf den aus Erlangen angereisten | |
| Germanisten Prof. Bradford, die weltweit führende Heyse-Koryphäe | |
| schlechthin, und dessen Mann, einen chinesischen Schönheitssalon-Betreiber. | |
| ## Die ominöse Villa | |
| Am Ende wird dieses eigenwillige Team tatsächlich Zutritt zu der ominösen | |
| Villa finden, in der zu Heyses Zeiten alles zu Gast war, was Rang und Namen | |
| hatte: von berühmten Kollegen wie Fontane und Ibsen bis zur Kaiserin Sisi. | |
| Heyse war ein Star seiner Zeit, ein Hofdichter von Weltrang. Umso größer | |
| die Fallhöhe: Die von Pleschinski zitierten Texte waren seinerzeit eminent | |
| populär, wirken aber, auch wenn Pleschinski sie offensichtlich | |
| rehabilitieren will, in ihrem altmodischen Ton fürwahr nur epigonal: | |
| „Waldesnacht, du wunderkühle, / Die ich tausend Male grüß’ / Nach dem | |
| lauten Weltgewühle / O wie ist dein Rauschen süß!“ | |
| Da hilft es auch nicht, dass Heyse uns als in der Tat untadeliger Charakter | |
| ans Herz gelegt wird: engagiert für Frauenrechte und gegen Antisemitismus, | |
| und trotz eines fixen Salärs als Hofpoet ein unabhängiger Freigeist. | |
| Allerdings geht es Pleschinski nicht nur darum, uns diesen Heyse | |
| näherzubringen, vielmehr erklärt er dessen Ruhm auch aus den Bedingungen | |
| der damaligen Zeit, deren Ambivalenz Pleschinski mit wenigen Strichen | |
| skizziert – hier eine nachhallende Biedermeier-Kultur, die Heyse | |
| repräsentiert, dort Industrialisierung, Verstädterung und die Menetekel all | |
| der Konflikte, die das 20. Jahrhundert prägen würden. | |
| ## Geht's um München? | |
| Darüber hinaus – und manchmal beschleicht einen sogar das Gefühl, darum sei | |
| es vor allem gegangen – ist „Am Götterbaum“ ein farbiger München-Roman. | |
| Immerhin passieren die Heyse-Experten besonders prägnante Münchner | |
| Örtlichkeiten: die Theatinerkirche, die Feldherrnhalle, das | |
| NS-Dokumentationszentrum … Und überall finden sich Anlässe, Anekdoten, | |
| Wissenswertes, Beobachtungen zum Besten zu geben. | |
| Ob das auch immer zum Besten des Romans gedeiht? Nicht nur wenn Pleschinski | |
| ins sanft Satirische schwenkt, indem er sein Personal Erscheinungen des | |
| zeitgenössischen Alltags kommentieren lässt, tendiert er zu einem | |
| betulichen („Die Martinshörner verklangen. Bedrohten wünschte man | |
| Rettung“), manchmal sonderbar uneleganten Stil: „Die dreiundsechzigjährige | |
| Kommunalpolitikerin schlug den Kragen hoch“ … So etwas ist man von diesem | |
| umtriebigen und preisgekrönten Autor durchaus gewohnt, im | |
| „Götterbaum“-Roman wirkt es jedoch anachronistisch, weil es immer wieder | |
| mit Heyses Prosa, ihren Arabesken und Schnörkeln, in Dialog tritt, was eine | |
| merkwürdige, vermutlich nicht parodistisch gemeinte Wirkung erzielt. | |
| Allerdings passt dieser unzeitgemäße Ton zum Personal. Abgesehen vom etwas | |
| gelangweilten, allenfalls mitunter staunenden Chinesen verkörpern alle eine | |
| Denk- und Lebensweise, die nicht mehr vom gegenwärtigen Weltgewühl zu sein | |
| scheint. Das braust um sie herum, begreifen, gar teilen können die drei | |
| Damen und der Germanist es nicht mehr so recht. | |
| ## Der Investor – wie in der Realität | |
| Dass sie damit wiederum die Befindlichkeit des alternden Heyse spiegeln, | |
| illustriert, dass der Roman durchaus kunstvoll angelegt ist. Im Übrigen ist | |
| er nicht ohne eine gewisse Spannung: Die Frage, was es mit der Heyse-Villa | |
| auf sich hat, ob sie bewohnt ist und von wem, zieht sich bis zum Ende des | |
| in einer hübschen Pointe mündenden Romans. | |
| Auch dabei korrespondiert das Buch mit der Realität: Lange vom Abriss durch | |
| einen Investor bedroht, ist das Haus nach zähem bürgerschaftlichem | |
| Engagement offensichtlich gerettet, was aus ihm wird, scheint aber immer | |
| noch nicht festzustehen. So wäre „Am Götterbaum“ am Ende auch eine epische | |
| Parteinahme zur Münchner Art, mit Geschichte und Schönheit zu verfahren. | |
| „Das ist alles sehr komplex mit Heyse“, bemerkt irgendwann die Stadträtin. | |
| Man sieht: Mit Pleschinskis Roman verhält es sich ähnlich. | |
| 17 Feb 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/heyse.html | |
| [2] https://www.pleschinski.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Schaefer | |
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