| # taz.de -- Kosmopolitische Übersetzerin Viragh: Die dritte Heimat | |
| > Manchmal hätte sie Nádas „Parallelgeschichten“ am liebsten aus dem | |
| > Fenster gepfeffert. Nun ist Christina Viragh für den Übersetzerpreis der | |
| > Leipziger Buchmesse nominiert. | |
| Bild: Zur Gefangenen des Buches wollte sie sich nicht machen: Christina Viragh,… | |
| Rechts liegt die Arbeit, links ist die Tür zum Himmel – auf dem Balkon | |
| blühen die ersten Veilchen. Milde Märzluft weht herein und der Lärm von | |
| Vespa-Motoren und Polizeisirenen. Christina Viraghs Schreibtisch steht in | |
| einer Wohnung im sechsten Stock mitten in Rom, hoch über den Dächern der | |
| Stadt. | |
| Drinnen lenkt nicht viel von der Arbeit ab: Der Tisch ist aus Glas, der | |
| Stuhl davor schmal, pink und wippt ein bisschen. Ein Computer, | |
| Kunstpostkarten, Bücherregale. Daneben noch ein Schreibtisch, aus weißem | |
| Holz, fast leer bis auf eine Ausgabe der „Parallelgeschichten“ des Ungarn | |
| Péter Nádas, auf Deutsch, ihr Werk. Das Buch, eine Drohung, ein Seufzen, | |
| ein Triumph. | |
| Die 1.724 Seiten des Buches hat Christina Viragh an diesem Schreibtisch | |
| übersetzt, fünf bis zehn Buchseiten nahm sie sich am Tag vor, fünf bis acht | |
| Stunden arbeitete sie konzentriert. Mal flutschte es, mal hakte es, dann | |
| war der Rand voll von Fragezeichen. Vier Jahre dauerten: Übersetzung, | |
| Recherche, Überarbeitung. Und wo immer in den deutschen Feuilletons Nádas’ | |
| Roman als Jahrhundertbuch gefeiert wird, wird ihre klare, poetische | |
| Übersetzung gepriesen. Sie ist eine von fünf für den diesjährigen | |
| Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse Nominierten, der am Donnerstag | |
| vergeben wird. | |
| Allein durch seinen Umfang flößt das Buch Furcht ein. Auch Christina Viragh | |
| musste ein paar Tage überlegen, ob sie den Auftrag annehmen – und damit die | |
| eigene schriftstellerische Arbeit hintanstellen – sollte. „Mich reizte dann | |
| aber die Herausforderung, etwas so Großes zu übersetzen – und etwas | |
| Zeitgenössisches“, sagt sie. Bislang war die 59-Jährige auf die ungarische | |
| klassische Moderne spezialisiert, hat Imre Kertész, Sándor Márai und Antal | |
| Szerb übersetzt. | |
| ## Der Austausch mit dem Autor | |
| Die „Parallelgeschichten“ waren auch eine Chance, wieder mit Péter Nádas | |
| zusammenzuarbeiten, dessen Buch „Liebe“ sie in den 1990er Jahren ins | |
| Deutsche übertragen hatte. Im Oktober 2007 unterschrieb sie also den | |
| Vertrag, im Dezember 2011 machte sie die letzten Korrekturen. Dazwischen | |
| gab es unzählige Telefonate und E-Mails zwischen Rom und Gombosszeg in | |
| Westungarn, wo Nádas lebt. Und vor ziemlich genau zwei Jahren saßen die | |
| beiden in Viraghs Arbeitszimmer, und gingen all die Kreuzchen und | |
| Fragezeichen durch, die die Übersetzerin am Rand des Originaltextes | |
| vermerkt hatte. | |
| Wie übersetzt man elörejelzö frízeket, wörtlich: „vorankündigende Fries… | |
| wie all die Fachbegriffe aus der Musik, wie die Details der ausgedehnten | |
| erotischen Szenen des Buches? Nádas erklärte architektonische Hintergründe, | |
| schenkte ihr eine CD mit der Aufnahme eines Meisterklassenunterricht der | |
| Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf, damit sie ein Gefühl für das bekäme, was | |
| ihn inspiriert hatte. Und das explizit Sexuelle, das in dem Roman eine | |
| große Rolle spielt, erörterten sie ohne Erröten. | |
| Zweimal war der ungarische Autor für eine Woche bei ihr in Rom. Die enge | |
| Zusammenarbeit hat sie sehr genossen, sagt Christina Viragh. Sie sitzt nun | |
| in dem kleinen Wohnzimmer auf dem Sofa mit dem farbenfrohen Überwurf, sie | |
| trägt Schwarzgrau, ihr Haar hat die gleiche Farbe. Zwei Hunde bewachen das | |
| Gespräch. | |
| ## Denken auf Schwyzerdütsch, verliebt in Rom | |
| Seit 17 Jahren lebt sie in der Dachwohnung, es war ihre erste in Rom, nach | |
| ihrem einjährigen Stipendium am Schweizer Institut. Damals hat sie sich | |
| „heftig in die Stadt verliebt“, in ihre organische Schönheit, die | |
| gewachsen, durchlebt, durchströmt ist. Und auch wenn sie mit ihrer | |
| mitteleuropäischen Melancholie gar nicht so recht nach Italien passe, der | |
| Rhythmus der Stadt liege ihr. Rom wurde einer ihrer Heimatorte. Man muss | |
| auf dieses Wort ausweichen, denn einen Plural von Heimat gibt es nicht. | |
| Für Christina Viragh schon. 1953 wurde sie in Ungarn geboren, als sie | |
| sieben Jahre alt ist, emigriert die Familie nach Luzern, ihr Deutsch hat | |
| Schweizer Akzent. Budapest, Luzern, Rom, sie fühlt sich dort überall zu | |
| Hause, sagt Christina Viragh, „in verschiedenen Schattierungen“. In | |
| Schwyzerdütsch denkt sie, Ungarisch ist ihre Muttersprache, Italienisch | |
| ihre Alltagssprache, ihr Partner ist Italiener. | |
| Wenn sie mit ihm oder mit dem römischen Fotografen spricht, ist sie | |
| sprudelnder, offener als im Interview auf Deutsch, wo sie in längeren | |
| Pausen ihre Antworten bedenkt. Sie ist sehr genau, ihr Ernst wird von | |
| staunendem Lachen unterbrochen. Geschrieben haben in ihrer Familie alle | |
| irgendwie, die Mutter veröffentlichte als junge Frau ein, zwei Bücher. Mit | |
| zehn Jahren sagte Christina Viragh zur ihren Spielkameraden auf der Straße: | |
| „Ich werde Schriftstellerin.“ Und als solche hat sie sich immer verstanden. | |
| ## Übersetzerin und Schriftstellerin zugleich | |
| Fünf Romane hat sie veröffentlicht. Emigrationserfahrungen spielen darin | |
| eine Rolle. Das Verwinkelt-Verwobene, die wechselnden Perspektiven und der | |
| exakte Blick lassen ihr Schreiben und das von Nádas verwandt erscheinen. | |
| Die poetischen Beschreibungen waren es, die sie besonders gern übersetzt | |
| hat – wie ist das Licht, die Atmosphäre des Moments. Und gerade bei den | |
| Sexszenen, eine weit mehr als hundert Seiten lang, bewundert sie das: „Sein | |
| Blick ist sehr genau und liebevoll, nie voyeuristisch. Das Gefühl für das, | |
| was den Moment begleitet, geht nie verloren, etwa für das Parkett, das | |
| unter den Schritten knarrt.“ | |
| Anfangs dachte sie noch, sie werde gleichzeitig an den | |
| „Parallelgeschichten“ und ihren eigenen arbeiten können, doch der Nádas | |
| nahm sie ganz in Anspruch. Das Zuger Übersetzerstipendium unterstützte sie | |
| mit 50.000 Franken, sodass sie sich ganz auf den Roman konzentrieren | |
| konnte. Dieses Netz aus Geschichten, gesponnen über einen Zeitraum von 60 | |
| Jahren – Naziterror und Konzentrationslager, Ungarn-Aufstand 1956, Berlin | |
| 1989 –, manchmal verlor sich auch Christina Viragh darin und Nádas musste | |
| ihr erklären: Wo sind wir nun genau? | |
| Es gab schon Momente, wo sie das Buch am liebsten aus dem Fenster geworfen | |
| hätte. Immer mit dem Rhythmus des Textes mitgehen, sagte sie sich, bloß | |
| nicht springen zu einer anderen Stelle, die vielleicht leichter zu | |
| übersetzen ist. „Das ist gefährlich“, sagt Christina Viragh, „denn dann… | |
| man seinen eigenen Vorlieben ausgeliefert.“ | |
| Auch sie spielte in ihrem letzten Buch, „Im April“ (2006), mit den | |
| Zeitebenen, sprang in ihrer Geschichte rund um eine Schweizer Wiese vom 15. | |
| ins 21. Jahrhundert, in die zwanziger Jahre und zurück – das Interesse für | |
| Zeitschichten, wie sie ineinandergreifen, wie wirksam und präsent die | |
| Vergangenheit ist, teilen sie und Nádas. Aber das Ungarische verschleiert | |
| noch mehr. | |
| ## „Das Ungarische verlangt ein intuitiveres Lesen“ | |
| „Die Sprache ist unglaublich kompakt, und besonders so, wie Nádas das | |
| ausnutzt, ist es schwierig, zu wissen: Wer spricht wo, wann und warum“, | |
| erklärt Viragh. Eine andere Eigenheit des Ungarischen ist, dass man mit nur | |
| einem Wort ausdrücken kann, wozu man im Deutschen viele Wörter braucht. | |
| Partizipialkonstruktion reiht sich an Partizipialkonstruktion, lange kommt | |
| weder Subjekt noch Verb, und es ist oft nicht eindeutig, wer da was tut. | |
| „Das Ungarische verlangt ein intuitiveres Lesen“, sagt die Übersetzerin. | |
| Es erlaubt dem Autor aber auch, eine größere Intimität, eine Nähe zum Leser | |
| aufzubauen. In der Übersetzung versuchte Christina Viragh, alle | |
| Umständlichkeiten zu vermeiden, einen Rhythmus zu finden, der so klingt, | |
| als würde man jemanden direkt ansprechen. Sie empfand große Nähe zum Autor: | |
| „Es ist nicht nur eine fachliche, sondern auch eine menschliche | |
| Auseinandersetzung. Ich fühle nach, was er fühlt.“ Nádas, der sehr gut | |
| Deutsch spricht, ließ ihr die Freiheit beim Übersetzen. Nur mit ganz | |
| wenigen Vorschlägen oder Fragen mischte er sich ein. | |
| Kristóf, die zentrale Figur des Romans, ist auch ihre Lieblingsfigur. Der | |
| elternlos zwischen Coming-out und weiblicher Jugendliebe Taumelnde sei ihr | |
| in seiner Zerrissenheit zwischen gutbürgerlicher Erziehung und dem Wunsch, | |
| sich selbst zu finden, nah. Doch darüber hinaus „wollte ich mich nicht zur | |
| Gefangenen des Buches machen“, sagt Christina Viragh. Trotzdem kamen | |
| manchmal die Erinnerungen hoch, „eine starke Auseinandersetzung mit meinem | |
| ungarischen Ich“. | |
| ## Erinnerungen an den Aufstand in Ungarn | |
| Erinnerungen an die Niederschlagung des Aufstands 1956, als sie als kleines | |
| Kind mit ihren Eltern in der Straße lebte, in der Nádas heute seine | |
| Budapester Wohnung hat, und sie Tage im Keller verbrachten, weil der | |
| Budahügel beschossen wurde. An russische Panzer, an „die klassische | |
| Kriegssituation“. Und heute erzählen ihr Freunde und Verwandte, dass sie | |
| wieder Angst haben, offen zu sprechen, wie damals im kommunistischen | |
| System, „es ist ganz entsetzlich“. Mit Nádas suchte sie, wenn sie nicht an | |
| der Übersetzung tüftelten, die Distanz zum Text – und zu Ungarn. Sie | |
| spazierten durch Rom, fuhren ans Meer. | |
| Hat die Arbeit an „Parallelgeschichten“ ihren eigenen Stil beeinflusst? | |
| Über die Antwort denkt sie lange nach. „Es gehört zu den starken Erlebnisse | |
| des Lebens, und die haben auf das Schreiben einen Einfluss, aber nicht | |
| unbedingt stilistisch, eher durch die Intensität der Auseinandersetzung.“ | |
| Sie sei energischer geworden. Aber sie hätte gedacht, es würde leichter | |
| gehen mit dem neuen Buch, an dem sie nun schreibt. So voller Ideen war sie | |
| in all den Jahren. „Ich dachte, ich setze mich hin und schreibe los, aber | |
| den Ansatz zu finden war dann doch nicht so leicht.“ Wohin der führen soll, | |
| will sie noch nicht sagen. Aber 1.724 Seiten werden es wohl nicht. | |
| 13 Mar 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniela Zinser | |
| Daniela Zinser | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
| Literatur | |
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